Rezension über:

Uta Wiggermann: Woellner und das Religionsedikt. Kirchenpolitik und kirchliche Wirklichkeit im Preußen des späten 18. Jahrhunderts (= Beiträge zur historischen Theologie; 150), Tübingen: Mohr Siebeck 2010, XIX + 640 S., ISBN 978-3-16-150186-9, EUR 114,00
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Rezension von:
Renate Penßel
Friedrich-Alexander-Universität, Erlangen-Nürnberg
Redaktionelle Betreuung:
Johannes Wischmeyer
Empfohlene Zitierweise:
Renate Penßel: Rezension von: Uta Wiggermann: Woellner und das Religionsedikt. Kirchenpolitik und kirchliche Wirklichkeit im Preußen des späten 18. Jahrhunderts, Tübingen: Mohr Siebeck 2010, in: sehepunkte 13 (2013), Nr. 6 [15.06.2013], URL: https://www.sehepunkte.de
/2013/06/17755.html


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Uta Wiggermann: Woellner und das Religionsedikt

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Mit ihrer von Albrecht Beutel betreuten Dissertation hat Uta Wiggermann eine umfangreiche monographische Aufarbeitung der Kirchenpolitik Friedrich Wilhelms II. von Preußen vorgelegt. Neben Georg Manten [1] und Udo Krolzik [2] gehört sie damit zu den ersten, die dieses Thema umfassend und nach modernen wissenschaftlichen Standards bearbeitet haben. [3] Die Autorin beleuchtet in ihrem Buch eine markante und bis heute lehrreiche Epoche der Kirchengeschichte Preußens, die v.a. durch ihr Scheitern gekennzeichnet ist: Den Versuch des neu ins Amt gelangten Königs, in beiden evangelischen Kirchen die traditionelle, in den Bekenntnisschriften festgeschriebene Bibelinterpretation gegen "aufklärerische" Verfremdung wieder durchzusetzen. Über das zentrale Instrument dieser Politik, das berühmte Religionsedikt vom 9. Juli 1788, sein Zustandekommen, seine Umsetzung, und über seinen mutmaßlichen Verfasser, den königlichen Minister Johann Christoph v. Woellner, möchte Wiggermann Genaueres ans Licht bringen.

Dabei wendet sie sich zunächst dem persönlichen Werdegang Woellners bis zu seiner Ernennung zum Leiter des "Geistlichen Departements" zu. Der folgende, leider etwas unverbunden neben den übrigen stehende Abschnitt stellt das Kirchen- und Staatskirchenrecht des Allgemeinen Landrechts vor, das ebenfalls in dem von Wiggermann untersuchten Zeitraum erarbeitet wurde, aber erst einige Jahre nach dem Religionsedikt in Kraft trat. Sie legt hier v.a. dar, wie das Landrecht einzelne Grundgedanken des Religionsedikts (z.B. zur Tolerierung bestimmter Religionsbekenntnisse) aufgriff und weiterführte, es aber gleichzeitig als Spezialgesetz bestehen ließ. Der folgende Abschnitt präsentiert das Religionsedikt selbst, indem er seine Bestimmungen knapp erläutert. Anschließend schildert Wiggermann den Widerstand, der dem Religionsedikt aus dem Oberkonsistorium, der dem Geistlichen Departement unterstellten obersten königlichen Behörde in lutherischen Kirchensachen, entgegenschlug. Hier wird deutlich, wie heterogen das Meinungsbild in der preußischen Verwaltung war, und dass die zentrale Herausforderung für die Politik Woellners und des Königs darin bestand, die selbst eher "aufklärerisch" gesinnte Führungsschicht des Staates zur Kooperation zu bringen. Hinsichtlich des Oberkonsistoriums war dazu ein scharf formulierter königlicher Befehl erforderlich, aber auch ausreichend, bevor schließlich doch zur Umsetzung des Edikts geschritten werden konnte. Dieser Umsetzung in verschiedenen Lebensbereichen (im Religionsunterricht an den Schulen, in der Theologenausbildung an der Universitäten, bei der Prüfung der Pfarramtskandidaten, bei der Überwachung der Amtsführung der Pfarrer usw.) sind die folgenden Kapitel gewidmet, die den Hauptteil des Buches ausmachen, bevor ein letzter Abschnitt zum "Ende Woellners und des Religionsedikts" die Darstellung schließt.

Mit alldem hat die Autorin den an sich selbst gestellten Anspruch, eine umfassend quellengestützte Darstellung des Themas zu geben - und dabei dem Ediktverfasser Woellner eine möglichst vorurteilsfreie Würdigung angedeihen zu lassen -, ohne Abstriche eingelöst: Uta Wiggermann hat für die Erstellung ihrer Arbeit umfangreiches Quellenmaterial aus dem preußischen Geheimen Staatsarchiv (inklusive vor 2007 unzugänglicher Quellen aus Woellners Nachlass) gesichtet und sorgfältig dokumentiert. Während sie auf das Auswerten von Sekundärliteratur weitgehend verzichtet, nutzt sie den Raum, um die in den Quellen überlieferten Informationen möglichst unmittelbar zu präsentieren. Die Kontroversen zwischen den handelnden Personen, der Gang von Gerichtsverfahren, Verwaltungsanweisungen usw. werden durch viele Quellenzitate und Quellenparaphrasen so authentisch wiedergegeben, dass sich der Leser ein gründliches, unverfälschtes Bild der geschilderten Vorgänge und Charaktere machen kann. Die vergangene Zeit wird dadurch buchstäblich lebendig. V.a. die Umsetzung des Edikts und ihr weitgehendes Scheitern wird auf diese Weise gründlich und anschaulich anhand vieler Beispielfälle (zur Amtsentsetzung von Geistlichen, der Maßregelung von Professoren, Zensurentscheidungen usw.) dokumentiert. Gewissermaßen im Vorbeigehen lernt man so auch unterschiedliche Führungscharaktere der preußischen Politik des ausgehenden 18. Jahrhunderts nahezu "persönlich" kennen, bekommt vorgeführt, wie neben Recht und Überzeugungen auch persönliche Beziehungen (Freundschaft oder Konkurrenzdenken) Verhalten steuern oder wie es um die Rechtsstaatlichkeit im Preußen des späten 18. Jahrhunderts (im positiven wie im negativen Sinn) bestellt war. Dass die Autorin die Quellen ganz überwiegend "für sich sprechen" lässt, ist ein Markenzeichen des Buches und dessen Stärke und Schwäche zugleich: Der Leser kann allem Vorgetragenem vorbehaltlos trauen. Der Eindruck, durch eigenmächtige, aber ggf. nicht als solche erkennbar gemachte Interpretationen und Ausfüllungen des überlieferten Materials wertend beeinflusst zu werden, kann nicht aufkommen. Gleichzeitig wirken einzelne der präsentierten Informationen zusammenhanglos und der Leser fühlt sich mit ihnen streckenweise alleingelassen, weil die Autorin - sei es aus wissenschaftlichem Prinzip oder um sich nicht dem gegenüber der älteren Literatur z.T. nicht unangebrachten Vorwurf der tendenziösen Darstellung auszusetzen - auf eigene Interpretationen und Einordnungen des Vorgefundenen in größere historische Zusammenhänge nahezu völlig verzichtet.

Die Bedeutung und das große Verdienst der Arbeit von Uta Wiggermann liegen deshalb darin, das vorhandene Quellenmaterial über die untersuchte Epoche mit großer Gründlichkeit zusammengetragen und authentisch und objektiv dem wissenschaftlichen Publikum vorgestellt zu haben. Sie hat damit ohne Frage einen wichtigen Beitrag zur Erforschung dieses bedeutsamen Kapitels preußischer Kirchengeschichte geleistet. Schade nur, dass sie originelle eigene Deutungen, eine große These oder auch eine konsequente (kritische oder zustimmende) Auseinandersetzung mit zentralen Thesen oder Kontroversen der übrigen Literatur (z.B. zur Beeinflussung Friedrich Wilhelms II. durch Woellner oder zum Ausmaß des Bruches, den das Religionsedikt gegenüber der früheren Kirchenpolitik der preußischen Könige bedeutete) kaum wagt.


Anmerkungen:

[1] Dessen 2007, kurz vor dem Abschluss von Wiggermanns Arbeit erschienene Dissertation "Das Notbischofsrecht der preußischen Könige und die preußische Landeskirche zwischen staatlicher Aufsicht und staatlicher Verwaltung - unter besonderer Berücksichtigung der Kirchen- und Religionspolitik Friedrich Wilhelms II. ", die dem Thema ca. 200 Seiten widmet, hat die Autorin nicht mehr einbezogen.

[2] Dessen Habilitationsschrift von 1997 zum gleichen Thema ist zwar online lesbar, aber nicht im Buchhandel erschienen.

[3] Alle anderen umfassenderen Darstellungen des Themas stammen aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert und bleiben daher in der Auswertung und Dokumentation von Quellen hinter heutigen Anforderungen zurück.

Renate Penßel