Rezension über:

Katharina Reinholdt: Ein Leib in Christo werden. Ehe und Sexualität im Täufertum der Frühen Neuzeit (= Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz. Abt. für Abendländische Religionsgeschichte; Bd. 227), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2012, 325 S., 10 s/w-Abb., ISBN 978-3-525-10107-0, EUR 54,99
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Rezension von:
Hubertus Lutterbach
Lehrstuhl für Christentums- und Kulturgeschichte, Universität Duisburg-Essen
Redaktionelle Betreuung:
Johannes Wischmeyer
Empfohlene Zitierweise:
Hubertus Lutterbach: Rezension von: Katharina Reinholdt: Ein Leib in Christo werden. Ehe und Sexualität im Täufertum der Frühen Neuzeit, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2012, in: sehepunkte 13 (2013), Nr. 6 [15.06.2013], URL: https://www.sehepunkte.de
/2013/06/20306.html


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Katharina Reinholdt: Ein Leib in Christo werden

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Die vorliegende Monographie entstand unter der Betreuung von Wolfgang Behringer und wurde an der Philosophischen Fakultät der Universität Saarbrücken 2010 als Dissertation angenommen. Als Ziel der Untersuchung formuliert Reinholdt, dass sie eine "Gesamtdarstellung zur Ehe bei den Täufern" beabsichtigt, indem sie "das komplexe Verhältnis von spiritueller Ehe-Metaphorik, Glaubensvorstellungen und Ehepraxis bei den Täufern vergleichend analysiert." (15)

Reinholdt gliedert ihre Darstellung in fünf Hauptkapitel, die von einer Einleitung und einem Schluss gerahmt werden: In Kap. 1 geht es um die Beziehung von "Geschlechterverhältnis und Gottesbeziehung", näherhin um die nuptiale Theologie sowie um den Zusammenhang zwischen dem täuferischen Selbstverständnis und den Ehevorstellungen. Unter der Überschrift von Kap. 2 "Spirituelle Ehevorstellungen und sexuelle Devianz" berücksichtigt Reinholdt "Unzucht, Ehebruch und Polygamie unter den Täufern" ebenso wie entsprechende Legitimierungsstrategien zur Rechtfertigung von sexueller Devianz (Innenperspektive) wie das entsprechende Urteil der Zeitgenossen (Außenperspektive). Kap. 3 befasst sich mit "Brautwerbung und Eheschließungen". Es berücksichtigt die Eheanbahnung und die Brautwerbung, überdies die Verlobung und die Trauung sowie schließlich den Kirchgang anlässlich der Eheschließung. Kap. 4 analysiert die "Geschlechterbeziehungen zwischen Norm und Praxis". Schwerpunktartig geht Reinholdt hier auf die Mischehen und die Ehemeidung ein. Von "Ehetrennungen und Scheidung" handelt Kap. 5. Thematisiert wird sowohl die täuferische Trennungspraxis als auch die Frage, wie sich die Obrigkeit gegenüber den Betroffenen verhielt.

Methodisch ist die Untersuchung kulturgeschichtlich angelegt. Im Bedarfsfall bezieht Reinholdt Interpretamente benachbarter Disziplinen ein (Ethnologie, Anthropologie etc.).

Der Untersuchungszeitraum umfasst zwar schwerpunktmäßig die erste Hälfte der Frühen Neuzeit, greift allerdings für Einzelaspekte über die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts hinaus. Geographisch erstreckt sich die Untersuchung auf das Verbreitungsgebiet der untersuchten Täufergruppen: von den Niederlanden im Norden bis zu den Schweizer Alpen und den österreichischen Erblanden im Süden, vom Rheinland im Westen bis nach Mähren im Osten des Alten Reiches. Das Quellenmaterial besteht in der Hauptsache erstens aus Täuferakten (Prozessakten, Mandate, Berichte, Visitationsprotokolle etc.), zweitens aus täuferischen Schriften, Bekenntnissen, Chroniken, Briefen und Märtyrerspiegeln sowie drittens aus evangelischen und katholischen Polemiken (Schmähschriften etc.).

Die quellennah durchgeführte Untersuchung macht im Sinne eines (mit zahlreichen Nuancierungen versehenen) Gesamtbildes die biblisch fundierte und für jeden täuferischen Menschen maßgebliche 'Leitidee' der spirituellen Ehe mit Christus offenkundig. Diesem rundweg entscheidenden Orientierungspunkt täuferischen Religions- und Soziallebens mussten sich auch die Eheleute unterstellen, sollten doch alle Beziehungskonstellationen innerhalb der täuferischen Gruppen die spirituelle Ehe mit Christus widerspiegeln. Mit Blick auf die soziale Prägekraft dieses neutestamentlichen Bildes für die täuferische Ehegestaltung arbeitet Reinholdt Brüche und Kontinuitäten hinsichtlich der Eheschließung bzw. -praxis der zeitgenössischen "Mehrheitsgesellschaft" heraus. Im Sinne eines Bruchs mit anderen christlichen Denominationen verstanden die Täufer die Ehe als eine exklusive Lebensgemeinschaft, in der der täuferische Glaube den ersten Platz beansprucht. Schon die Teilhabe an der Feier der Eheschließung blieb auf die eigene Gruppe begrenzt. Indem man der Obrigkeit keine Meldung vom Ereignis machte, verweigerte man damit auch ihr die Anerkennung. Alle Täuferströmungen legten Wert darauf, dass die Gläubigen allein innerhalb ihrer Glaubensgemeinschaft heirateten. Anhand verschiedener Maßnahmen zeigt Reinholdt auf, dass sich jede Ehe im Zweifelsfall der Reinheit der Glaubensgemeinschaft unterzuordnen hatte. Auch die Ausdrucksformen sexueller Devianz unter den Täufern waren - so Reinholdt - unbedingt auf den rituellen Kontext beschränkt und galten als Ausdruck der spirituellen Brautschaft der gesamten Glaubensgemeinschaft mit Christus. Es verdient theologisch höchste Beachtung, wenn Reinholdt die "ritualisierte Sexualität" unter thüringischen Täufern als Grundlegung für eine geistliche Verwandtschaftsbeziehung herausarbeitet. - Selbst wenn der 'Primat' der spirituellen Brautschaft nicht zu einem totalen Bruch mit der "Mehrheitsgesellschaft" führte und Reinholdt für die Täufer sogar von einer "wachsenden Schnittmenge" in der Eheauffassung mit den etablierten Kirchen spricht (z.B. Gültigkeit von Eheschließung, Scheidung von Ehen etc.), so lässt sich zusammenfassen: Die Leitidee der spirituellen Ehe mit Christus, um die sich die Täufer scharten, führte dazu, dass ihre Ansichten über Ehe und Sexualität erstrangig als Gegenentwurf zum reformatorischen Eheverständnis zu interpretieren sind.

Tatsächlich löst die Dissertation das in der Einleitung formulierte Untersuchungsziel überzeugend ein: methodisch reflektiert, luzide strukturiert, quellenreich basiert und perspektivreich durchgeführt. Natürlich hätte man noch weitere religionsgeschichtliche Parameter einbeziehen und damit das erzielte Ergebnis weiter konturieren können [z. B. die Differenzierung zwischen kultischer und ethischer Reinheit (52, 119,155), die Spannung zwischen Ich-Entscheidung und Familieneinfluss bei dem Entschluss zur Ehe (160-183, S. 191f.) etc.]. Überdies fragt sich, ob die Differenzierung zwischen den Eheauffassungen und -praktiken der Täufer einerseits sowie der Protestanten und Katholiken andererseits ausreichend ist, wenn Reinholdt die Täufer oftmals allgemein von der "Mehrheitsgesellschaft" abgrenzt. Doch ändern diese kleinen Desiderate nichts daran, dass die vorgelegte Studie vor allem für Historiker und Theologen wichtige neue Erkenntnisse bereithält. Ohne Übertreibung ist zu bilanzieren, dass sich die multiperspektivisch untersuchte täuferische Ehe als wichtiger Schlüssel zum tieferen Verständnis der täuferischen Lebensgestaltung eignet.

Hubertus Lutterbach