Rezension über:

Julia Herzberg: Gegenarchive. Bäuerliche Autobiographik zwischen Zarenreich und Sowjetunion (= 1800/2000 Kulturgeschichten der Moderne; Bd. 11), Bielefeld: transcript 2013, 494 S., ISBN 978-3-8376-2136-5, EUR 44,80
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Katja Bruisch
Deutsches Historisches Institut, Moskau
Redaktionelle Betreuung:
Andreas Fahrmeir
Empfohlene Zitierweise:
Katja Bruisch: Rezension von: Julia Herzberg: Gegenarchive. Bäuerliche Autobiographik zwischen Zarenreich und Sowjetunion, Bielefeld: transcript 2013, in: sehepunkte 13 (2013), Nr. 7/8 [15.07.2013], URL: https://www.sehepunkte.de
/2013/07/21936.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Julia Herzberg: Gegenarchive

Textgröße: A A A

Die Geschichte des autobiographischen Schreibens in Russland hat Konjunktur. Seit 2012 gibt die Universität Padua eine Internet-Zeitschrift zu dem Thema heraus. [1] Ein Forschungsprojekt der Universität Basel widmet sich derzeit dem Verhältnis von autobiographischer Praxis und historischem Wandel im Russländischen, Osmanischen und Habsburgischen Imperium. [2] Julia Herzbergs Dissertation ist Teil dieses Trends. Sie untersucht die narrativen Muster, Entstehungszusammenhänge und die Überlieferung bäuerlicher Lebenserzählungen der späten Zaren- und frühen Sowjetzeit. Die Studie beruht auf der beeindruckenden Zahl von 300 Autobiographien und Tagebüchern, die Herzberg in zeitgenössischen Publikationen, Archiven, Museen und Handschriftensammlungen ausfindig gemacht hat. Bei der Auswahl ihrer Quellen folgte sie den Selbstbildern der Zeitgenossen: Ein Bauer ist in ihrem Buch, wer sich selbst als solcher bezeichnete (10).

Die Originalität dieser Arbeit besteht nicht nur darin, dass sie Stimmen einer Bevölkerungsgruppe einfängt, deren Wahrnehmungen und Selbstverständnis in der Historiographie lange Zeit eine Leerstelle bildeten. Sie liegt vor allem in der Methodologie. Weder liest Herzberg ihre Quellen als authentische Zeugnisse von Lebenswelten jenseits der politischen und gesellschaftlichen Zentren Russlands, noch beschränkt sie sich darauf, sie als Produkte überindividueller Diskurse zu betrachten. Stattdessen versteht sie Autobiographien als Resultate einer Kommunikation zwischen den Verfassern und ihrer sozialen Umgebung: Aus ihnen lasse sich ablesen, welche der an sie herangetragenen Identitätsangebote die Schreibenden annahmen oder zurückwiesen und welche gesellschaftlichen Rollen sie beanspruchten. Damit präsentiert Herzberg die Lebensgeschichten der Bauern als Schlüssel zu einer "Ideen- und Diskursgeschichte des sozialen Erfolgs" (14): Welche Akzente die Verfasser der Texte setzten, wie sie einzelne Stationen ihres Lebens konturierten, was sie verschwiegen - all dies seien Hinweise auf die im Entstehungskontext einer autobiographischen Erzählung geltenden Maßstäbe gelungener oder verfehlter Lebensführung.

Herzberg weist überzeugend nach, dass die unterschiedlichen Kommunikationssituationen, in denen Bauern ihre Lebenserzählungen verfassten, darüber entschieden, welche Erfahrungen ihnen das autobiographische Sprechen überhaupt erst ermöglichten. In den Zeitschriften und Anthologien der intelligencija war dies etwa die Vergangenheit als Leibeigener, der erfolgreiche Wechsel in einen höheren Stand oder der selbstständige Erwerb von Bildung. In kirchennahen Publikationen kreisten bäuerliche Lebenserzählungen hingegen um den Übertritt oder die Rückbesinnung auf den orthodoxen Glauben. Dabei, so zeigt die Arbeit anhand vieler Beispiele, integrierten die Bauern Topoi aus anderen Kontexten in ihr Darstellungen: Sie eigneten sich Narrative aus dem nordamerikanischen Sklavereidiskurs an oder präsentierten ihre Lebenswege als Beweis persönlichen Leistungswillens - ein offenkundiger Indikator für die breite Rezeption des zeitgenössischen Bestsellers Self-Help in Russland.

Ähnliche Schlüsse zieht Herzberg aus der Lektüre bäuerlicher Lebensgeschichten, die im Rahmen zeitgenössischer Biographieprojekte entstanden. Der Gestus der Schreibaufrufe klingt in den Texten der Autobiographen nach. Wer dem Sektenforscher Vladimir Bonč-Bruevič sein Leben schilderte, präsentierte sich meist als Kritiker von orthodoxer Kirche und zarischem Staat, während die Schreibenden in Darstellungen für den volkstümlichen Publizisten Nikolaj Rubakin häufig als wissensdurstige Leser auftraten. Gegenüber dem Slawisten Aleksandr Jacimirskij, der auf der Suche nach Talenten aus dem "Volk" war, legitimierten die Bauern ihre autobiographischen Erzählungen mit dem Verweis auf besondere Fähigkeiten. Der Wert der zeitgenössischen Schreibprojekte für Herzbergs Studie besteht in ihrer über Jahrzehnte währenden Kontinuität. Anhand der zu unterschiedlichen Zeitpunkten abgefassten Autobiographien einer Person sowie der Korrespondenz zwischen einzelnen Autobiographen und Biographieforschern vollzieht sie nach, welchen Stellenwert die Bauern ihren Lebensgeschichten beimaßen, wie sie sich mit ihnen bewusst im sozialen Raum positionieren und auf welche Weise politische Ereignisse wie die Revolution oder die Kollektivierung das autobiographische Erzählen veränderten.

Auch die nicht zur Veröffentlichung bestimmten Tagebuchaufzeichnungen von Bauern interpretiert Herzberg als Produkte sozialer Interaktion. Sie macht darauf aufmerksam, dass das Tagebuchschreiben in Bauernfamilien häufig eine kollektive Praktik war, die der Verständigung über gemeinsame Werte oder Erinnerungen diente und so zur Konstituierung von Familie als Gemeinschaft beitrug. Im Fall von individuellen Schreibern waren regelmäßige Aufzeichnungen ein Mittel, um den familiären oder wirtschaftlichen Alltag zu dokumentieren. Nur in Ausnahmefällen nutzten Bauern das Tagebuch als Ort des intimen Selbstgesprächs. Zugleich war die im Privaten vollzogene individuelle Auseinandersetzung mit dem eigenen Leben keine isolierte Handlung, sondern eine Reaktion auf gesellschaftliche Identitätsangebote und Normen. Indem die Bauern über sich selbst als Christen oder Soldaten schrieben, setzten sie sich in Beziehung zu sozialen Räumen oder Wertgemeinschaften jenseits der Familie oder des Dorfes.

Herzbergs Arbeit ist in dreifacher Hinsicht anschlussfähig. Indem sie das Verfassen autobiographischer Texte als kommunikative Handlung untersucht, die sich mitunter sogar auf die Einforderung gesellschaftlicher und politische Teilhabe richtete, erschließt sie der auf das intime Tagebuch fixierten Autobiographieforschung ein neues Themenfeld. Daneben leistet sie einen wertvollen Beitrag zum Verständnis von sozialem Wandel und sozialer Identität im späten Zarenreich und der frühen Sowjetunion. Die Studie veranschaulicht nicht nur, dass die Kategorien zur Thematisierung sozialer Zugehörigkeit im frühen 20. Jahrhundert immer seltener mit offiziellen Vorgaben zusammenfielen und einem ständigen Wandel unterlagen. Sie illustriert zugleich, dass Bauern keine stummen Objektive elitärer Diskurse waren, sondern sich die Anliegen der Eliten mitunter bewusst zunutze machten, um eigene Deutungen und Interessen öffentlich zu artikulieren. Ein nicht zu unterschätzendes Verdienst dieser Arbeit ist darüber hinaus das hohe Maß an Reflexivität. Herzberg entgeht der Versuchung, die Lebensgeschichten der Bauern als fehlende Steinchen eines Mosaiks zu betrachten, das die Vergangenheit originalgetreu abbildet. Indem sie auch die Überlieferungsgeschichten der bäuerlichen Autobiographien in ihre Darstellung miteinbezieht, konfrontiert sie den Leser mit einem der grundlegendsten Probleme historischer Forschung überhaupt: dem Umstand, dass die Beschaffenheit von Quellensammlungen und Archiven den Blick auf die Vergangenheit immer vorstrukturiert. Auf diese Weise ist Julia Herzberg ein Buch gelungen, das auch jenseits der Disziplin der Osteuropäischen Geschichte Maßstäbe setzen dürfte.


Anmerkungen:

[1] http://journals.padovauniversitypress.it/avtobiografija/.

[2] http://dg.philhist.unibas.ch/nc/departement/personen/person-details/eigene-seiten/person/schenk/content/forschungsprojekt-imperial-subjects/.

Katja Bruisch