Dagmar C.G. Lorenz / Ingrid Spörk (Hgg.): Konzept Osteuropa. Der "Osten" als Konstrukt der Fremd- und Eigenbestimmung in deutschsprachigen Texten des 19. und 20. Jahrhunderts, Würzburg: Königshausen & Neumann 2011, 284 S., ISBN 978-3-8260-4539-4, EUR 39,80
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Im neueren wissenschaftlichen Diskurs werden Begriffe wie Ost- und Westeuropa nicht mehr als feste, nach geografischen, sprachlichen, ethnischen oder kulturellen Kriterien definierte Größen verstanden, sondern als flexible, veränderliche Konzepte, denen interne wie externe Identitätszuschreibungen zugrunde liegen. In diesem Sinne sehen die Herausgeber des primär um eine literatur- und kulturwissenschaftliche Annäherung an die Problematik bemühten Sammelbandes "Ost und West als Seismographen für kulturelle und mentalitätsbezogene Befindlichkeiten" (7). Die dreizehn Beiträge aus Germanistik, Judaistik und Kulturwissenschaften versuchen unter Rückgriff auf deutschsprachige literarische Materialien vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart, wesentliche Voraussetzungen und Faktoren zu erhellen, welche die Entwicklung von Selbst- und Fremdwahrnehmungen in verschiedenen historischen, nationalen, regionalen und kulturellen Konstellationen determinierten. Der thematische Fokus liegt größtenteils auf der jüdischen Problematik, was insofern einleuchtend erscheint, als "sich diese Lebenswelt über nationale Grenzen erstreckte und, von Frankreich bis nach Russland reichend, eine übergreifende koterritoriale Ost- und Westeuropa verbindende Entität darstellte" (8). Die Anordnung der Beiträge folgt im Wesentlichen einem chronologischen Prinzip, wobei in den ersten Aufsätzen epochenübergreifende Fragestellungen behandelt werden, wohingegen sich die weiteren Texte vornehmlich auf einzelne Autor(inn)en und Werke konzentrieren.
Als typischen Ort der Überschneidung von West und Ost stellt Joseph W. Moser Czernowitz, die ehemals österreichische Landeshauptstadt der Bukowina, in einem historischen Abriss vor. Er zeigt die klare Westorientierung des von der österreichischen Germanisierungspolitik im 18. Jahrhundert funktionalisierten jüdischen Bürgertums, von dem nach dem Holocaust nur mehr eine Reihe markanter Erinnerungstexte (unter anderem Rose Ausländer, Paul Celan) zeugt, auch wenn es seit den 1990er Jahren Bemühungen gebe, die als "westlich" verstandene Seite der Stadt wieder sichtbar zu machen. Ebenfalls breit angelegt ist die Studie von Dagmar Lorenz zur Kultur des Schtetls. Am Beispiel deutschsprachiger Autoren vom 18. bis 21. Jahrhundert (unter anderem Glikl von Hameln, Salomon Maimon, Heinrich Heine, Bertha Pappenheim, Martin Buber, Franz Kafka, Joseph Roth, Gertrud Kolmar, Friedrich Torberg, Elias Canetti, Edgar Hilsenrath, Vladimir Vertlib) wird das diesem typisch ostjüdischen Phänomen innewohnende Identifizierungs- wie Distanzierungspotential herausgearbeitet. Entsprechend dem zeitlich-kulturellen Kontext könne das Schtetl als eine Metapher gelesen werden, "die gleichzeitig moralische Integrität und Rückständigkeit, Gleichheit und Unterschied, eine idyllische und auch eine repressive Welt bezeichnet" (27). Hier schließt Ingrid Spörks Aufsatz zur Gattung der "Ghettogeschichte" an. In den exemplarischen Texten aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert unter anderem von Leopold Kompert, Hermann Menke, Karl Emil Franzos und Hermann Blumenthal erscheint die Welt des östlichen Judentums als ein "Ort der Vormoderne", dem je nach Einstellung und Intention der Autoren Züge von Rückständigkeit und kultureller Armut oder aber von Stabilität und Idylle zugeschrieben werden.
Mit Gerd K. Schneiders Untersuchung der Skandalgeschichte von Arthur Schnitzlers Reigen beginnen die autoren- beziehungsweise werkorientierten Beiträge des Bandes. Es wird unter anderem gezeigt, dass der Feldzug gegen angebliche Pornografie in Österreich im frühen 20. Jahrhundert auch antisemitische Ursachen hatte. Primus-Heinz Kucher konzentriert sich auf die unterschiedlichen, teils kruden Vorstellungen vom "Osten" bei Hermann Bahr und Robert Müller, zwei wichtigen Repräsentanten der Wiener Moderne. Während die intensiven Auseinandersetzungen Bahrs mit der russischen und tschechischen Kultur sich "mit seinen nach 1918 offen restaurativen, barockmythischen Österreich- und Europa-Vorstellungen [...] verschränken" (143), denen auch antisemitische Tendenzen inhärent gewesen sein dürften, entwirft Müller eine Vision vom "Osten" als Impuls für die geistige Erneuerung Europas. Der Osten als ein fremdes Phänomen ist auch ein wichtiges Motiv bei Franz Kafka, das Klaus R. Scherpe durch das Schaffen des Schriftstellers hindurch verfolgt. Besonders instruktiv sind hierbei die Ausführungen zur Rede über die jiddische Sprache, mit der Kafka 1912 die gebildeten, westlich orientierten Prager Juden und ihre Furcht vor dem als chaotisch und fremd wahr genommenen Ostjudentum provozierte. Thomas Soxberger stellt den Publizisten Mosche Silburg und die von diesem 1920 in Wien gegründete jiddische Literaturzeitschrift Kritik vor. Im Mittelpunkt der Betrachtung steht Silburgs Aufsatz Vos ikh hob aykh tsu zogen (1920), in dem er sowohl am mystisch-militaristischen Kulturzionismus als auch an den Revolutionshoffnungen jüdischer Linker Kritik übte, wenngleich er selbst für den Sozialismus durchaus Sympathien hegte. In Elisabeth Loentz' Beitrag geht es zunächst um die im Zuge des Ersten Weltkriegs vorgenommene Neubewertung des Jiddischen durch die deutschen Juden, die darin gewissermaßen die Vertretung der deutschen Sprache im Osten erblickten. Als Schlüsseltext hierfür wird der Essay Die jüdisch-deutsche Sprache (1916) des deutschen Rabbiners Joseph Wohlgemuth herangezogen und mit anderen Texten verglichen. Für den Schriftsteller Soma Morgenstern waren der Erste wie der Zweite Weltkrieg mit traumatischen Verlusterlebnissen (Verlust der galizischen Heimat, Verlust der Familie im Holocaust) verbunden. Christoph Dolgan analysiert Morgensterns Roman Die Blutsäule (begonnen 1948) mit Blick auf das zentrale Motiv der "Judenseife" vor allem unter dem Aspekt der Erinnerungsarbeit und ihrer sprachlichen Gestaltung. Um den Erinnerungsdiskurs geht es auch in Anne Fuchs' "Relektüre" von Horst Bieneks Gleiwitz-Tetralogie, die als "Projekt einer literarischen 'Rettungsethnographie'" gesehen wird, "welche Schlesien als einen multikulturellen Raum in den Blick rückt, der von verschiedenen politischen, militärischen und kulturellen Kolonisierungswellen geformt wurde" (228). Diese literarische Rekonstruktion der Geschichte Oberschlesiens berücksichtigt nicht nur die deutschen und polnischen Bewohner, sondern auch die Gleiwitzer Juden bis zu deren Auslöschung im Holocaust. Die ständig zwischen Ost und West oszillierenden Erfahrungen von Christa Wolf in der Zeit des Nationalsozialismus, der DDR und des vereinigten Deutschland verfolgt Helga Kraft in ihrem Überblick über das Schaffen der Schriftstellerin. Der letzte Beitrag des Bandes, von Sander L. Gilman provokativ mit der Frage "Gibt es neue 'Ostjuden' in der deutsch-jüdischen Gegenwartsliteratur? " überschrieben, thematisiert die Identitätssuche jüdischer Einwanderer aus Russland in den 1990er und 2000er Jahren am Beispiel des Schaffens von Vladimir Vertlib und Vladimir Kaminer.
Was den Band auszeichnet, ist die große kulturhistorische Bandbreite und methodische Vielfalt (unter anderem Diskursanalyse, feministische Theorien, Postcolonial Studies, Erinnerungstheorie, Jewish Studies und Alteritätstheorie), mit denen das Ziel verfolgt wird, die Fragilität und Relativität der Begriffe "Ost" und "West" aufzuzeigen. Freilich hätte man auch gerne etwas über die Motivation erfahren, die zur Entstehung des Buchs geführt und welche die Auswahl der einzelnen Themen wie auch der Beiträger/innen bestimmt hat. Dies wäre im Sinne einer inneren Kohärenzbildung ebenso förderlich gewesen wie die Aufnahme eines Personenverzeichnisses, das in solchen Publikationen mit Blick auf die Benutzerfreundlichkeit eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein sollte.
Reinhard Ibler