Rezension über:

Michel Dumoulin / Anne-Sophie Gijs / Pierre-Luc Plasman et al. (éds.): Du Congo belge à la République du Congo. 1955-1965 (= Outre-Mers; No. 1), Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2012, 374 S., ISBN 978-90-5201-841-6, EUR 43,30
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Rezension von:
Arno Sonderegger
Institut für Afrikawissenschaften, Universität Wien
Redaktionelle Betreuung:
Andreas Fahrmeir
Empfohlene Zitierweise:
Arno Sonderegger: Rezension von: Michel Dumoulin / Anne-Sophie Gijs / Pierre-Luc Plasman et al. (éds.): Du Congo belge à la République du Congo. 1955-1965, Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2012, in: sehepunkte 13 (2013), Nr. 9 [15.09.2013], URL: https://www.sehepunkte.de
/2013/09/22253.html


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Michel Dumoulin / Anne-Sophie Gijs / Pierre-Luc Plasman et al. (éds.): Du Congo belge à la République du Congo

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Der eine neue Buchreihe zur Überseegeschichte eröffnende Sammelband Vom Belgisch-Kongo zur Republik Kongo 1955-1965 geht auf eine Tagung zurück, die im Juni 2010 von den Universitäten Löwen und Lüttich anlässlich des 50. Jahrestags der kongolesischen Unabhängigkeitserklärung am 30. Juni 1960 ausgerichtet worden ist. Daraus erklärt sich bis zu einem gewissen Grad der Gedächtnischarakter, der zahlreichen Beiträgen anhaftet. Obwohl Bruno Delvaux in seinem Vorwort, das keines sein will - es ist "En guise de préface" überschrieben -, bekräftigt, der Band wolle sich nicht an dem allgegenwärtigen Gedenkspektakel beteiligen (20), erfüllt der Band diesen Anspruch nur teilweise. Nach einer nicht einmal drei Seiten füllenden Einleitung des Herausgebers Dumoulin folgen vier größere Abschnitte, denen ein sehr kurzer Epilog folgt. Schon daran wird ein Manko dieses Sammelbandes deutlich: Er versammelt die Tagungsbeiträge, ohne dass sich die Herausgeber die Mühe gemacht hätten, eine überzeugende Klammer zu formulieren oder Zusammenhänge zwischen den einzelnen Beiträgen herauszuarbeiten. Im Kontext der kongolesischen Staatswerdung zwischen 1955 und 1965 danach zu fragen, "Warum und wie [...] entwickelte sich der Kongo zu einem solchen Ort der Armut, der Gewaltsamkeiten, der Korruption und der Menschenrechtsverletzungen?" (21), trägt nichts dazu bei, die Bedeutung und Relevanz des besprochenen Bandes zu klären oder die vorgenommene zeitliche Fokussierung zu begründen.

Die vier Kernteile sind ihrem Umfang nach sehr ungleichgewichtig geraten. Die Teile 1, 2 und 4 bestehen aus je sieben bis acht Einzelbeiträgen, Teil 2 hingegen versammelt derer nur drei. Ihr Umfang beläuft sich respektive auf etwa 60, 110, 60 und 90 Seiten. In Summe sind 25 Beiträge versammelt: 15 Aufsätze im eigentlichen Sinn und zehn Erinnerungsstücke von Zeitzeugen, die auf den Kongo der späten 1950er und frühen 1960er Jahre reflektieren. Überschrieben sind diese kurzen Erinnerungen jeweils als "Zeugnis" ("Témoignage"). Sie stammen aus der Feder ehemaliger Kolonialbeamter, Techniker, Gewerkschafter, Entwicklungsbeamter und -helfer. Diese Abschnitte sind ein Positivum des Sammelbandes, weil ihre Erinnerungen, die hiermit in schriftlicher Form zugänglich gemacht worden sind, ihrerseits zu interessanten Quellen werden, die Einblicke gewähren in die Arbeit, Entwürfe und Projektionen kolonialer und nachkolonialer Kongo-"Experten".

Die 15 Aufsätze stecken ein breites Terrain ab. Der erste Teil des Sammelbandes, "Relectures d'une période", enthält fünf dieser Zeugnisse und zwei Aufsätze. Michel Dumoulin, der die beiden Kongo-Aufenthalte des belgischen Königs Baudouin I. rahmengebend benutzt, fragt nach den Gründen für den rapiden politischen Wandel, der sich im Kongo zwischen 1955 und 1960 vollzogen hatte. Jean-Marie Mutamba Makombo stellt sodann dar, wie verschiedene kongolesische Historiker die Jahre 1955 bis 1965 einschätzen. Von der These ausgehend, dass "L'histoire est inséparable de l'historien" (55), bietet sein Text einen informativen Überblick über die Geschichte der Historiographie im Kongo.

Im zweiten Teil, der die Zeit zwischen Unabhängigkeitserklärung und Mobutus offizieller Machtübernahme behandelt ("De juillet 1960 à novembre 1965"), stellt sich das Verhältnis zwischen Zeugnissen und Aufsätzen mit zwei zu sechs gerade umgekehrt dar. In drei Aufsätzen werden belgische koloniale und neokoloniale Akteure, Unternehmen und Kapitalflüsse thematisiert (Francis Balace, Pierre Tilly, Jean-Louis Moreau), während Maria Stella Rognoni der Bedeutung des Kalten Kriegs für die Kongo-Krise nachspürt. In politikgeschichtlicher Hinsicht interessant sind die Beiträge von Philippe Raxhon und Gauthier de Villers. Ersterer diskutiert die verwirrenden Umstände, unter denen Patrice Lumumba erst politisch an den Rand gedrängt, schließlich ermordet wurde: in einem Klima, geprägt von irrationalem Antikommunismus auf internationaler Ebene, sehr realen Sezessionsbestrebungen auf kongolesischem Territorium (Kasai, Katanga), sowie der "Angst vor dem Gebrauch der Macht durch Lumumba" (97) auf Seiten der belgischen und internationalen Unternehmen im Kongo. Dazu passt die frühe Karriere des späteren Langzeitdiktators Joseph Mobutu, die von Gauthier de Villers behandelt wird. In Anlehnung an Jean-Francois Bayarts politologisches Konzept bezeichnet er Mobutu als "ein Großmeister der Extraversions-Strategie - der Kunst, die Ressourcen aus der Abhängigkeit [vom internationalen System in Wirtschaft und Politik; Anm. A.S.] dafür zu nutzen, die Macht zu erobern und zu behaupten" (134).

Die Erschließung neuer Quellen bildet die Klammer für den dritten Teil, "Sources pour l'histoire d'une periode". Im einzigen Zeugnis dieses Abschnitts erinnert sich ein Journalist an seine Arbeit für Radio-Télévision belge (RTB) im Kongo 1964. Der Siegeszug des Fernsehen nahm damals auch in Belgien seinen Anfang. Einige Folgen der TV-Dokumentationsserie 9 Millions, die das belgische Fernsehen zwischen 1959 und 1969 produzierte und ausstrahlte, behandelten Ereignisse im Kongo zwischen 1959 und 1965. Im Bestreben, ihren Wert als Quelle für die kongolesische Geschichte der frühen 1960er Jahre zu demonstrieren, zeichnet Damien Poelaert sie in seinem Beitrag auszugsweise nach. Patricia Van Schuylenbergh, die den belgischen Kolonialfilm seit den 1940er Jahren thematisiert, widmet sich demselben Problem in allgemeinerer Weise. Sie fragt überdies nach der Prägung von Sehweisen durch das (neue) Medium Film, und deren Bedeutung im Kontext einer anzustrebenden mentalen Dekolonisierung.

Der vierte und letzte Teil besteht aus zwei Zeugnissen und fünf Aufsätzen und widmet sich dem weiten Feld der Entwicklungshilfe. Er ist mit "Les aides nationales, européennes et internationales à l'Afrique noire après 1960" zutreffend überschrieben. Während Étienne Deschamps und Urban Vahsen sich des Verhältnisses zwischen Belgien und Kongo unmittelbar annehmen, greifen Émile Willaert und Frédéric Turpin deutlich weiter aus - in einem Fall auf die sogenannte Politik der Kooperation Frankreichs, im anderen auf die Afrikahilfe der Europäischen Investitionsbank. Im Mittelpunkt dieser vier Aufsätze stehen wirtschaftliche Beziehungen sowie politökonomische Betrachtungen; ihre Sichtweisen sind dadurch sehr selektiv gesteuert, dass sie den Entwicklungsdiskurs primär in seinen materiellen Manifestationen begreifen und darauf reduzieren. Darüber geht Walter Schicho in seinem Beitrag hinaus, indem er sowohl auf die Vielfalt als auch auf die Zeitgebundenheit von Ideen über Entwicklung aufmerksam macht. Er begreift Entwicklungsdiskurse also im Plural. Seine Reflexion über "Die Idee von Kooperation, Assoziation und Entwicklung in den 1960er Jahren" (265ff.) gestaltet sich darum höchst informativ, der direkte Kongo-Bezug bleibt hier allerdings auf der Strecke.

Eine Gesamteinschätzung des Bandes bleibt etwas ambivalent. In ihm finden sich viele Einzelbeiträge versammelt, die für sich genommen informativ und oft lehrreich sind. Sie bilden jedoch kein stringent zusammengehöriges Ganzes. Damit entspricht "Du Congo belge à la République du Congo 1955-1965" leider vielen Tagungsbänden, die disparate Inhalte zusammenbündeln, ohne dass für eine ausreichende Klammer gesorgt würde. Interessant ist die Aufnahme der Erfahrungsberichte von Zeitzeugen, die einen Einblick nicht nur in ihre individuelle Erinnerungsarbeit gewähren, sondern auch plastisch veranschaulichen, wie koloniale - und nachkoloniale - Expertendiskurse arbeiten. Dabei ist es wohl alles andere als ein Zufall, dass die versammelten Zeugnisse ausschließlich von Männern stammen. Wie koloniale Herrschaft andernorts, war auch der belgische Kolonialismus männlich dominiert - und mit ihm die Sichtweisen auf den Kongo.

Arno Sonderegger