Detlef Witt / Rolf Kneißl / Tilo Schöfbeck: Kirchen an Trebel und Ibitz. Ein kunst- und kulturhistorischer Führer zu den vorpommerschen Dorfkirchen, Petersberg: Michael Imhof Verlag 2012, 208 S., ISBN 978-3-86568-678-7, EUR 16,00
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Sechs Dorfkirchen werden in dem Band vorgestellt. Jede von ihnen erhielt eine ausführliche publizistische Würdigung, die primär kultur- und kunsthistorischen Inhalts ist und monografischen Charakter besitzt. Zudem enthält dieser "Kirchenführer" Kapitel bzw. Exkurse zur Religions-, Landes- und Ortsgeschichte. Nicht zuletzt sind es diese begleitenden und ergänzenden Beiträge, welche jene sechs Kirchenbauten und deren Ausstattungen als komplexe Denkmalensembles kennzeichnen, bei denen es sich auch um die aussagekräftigsten Sachzeugen und ergiebigsten Primärquellen handelt, wenn es gilt, ein authentisches historisch-topografisches Gesamtbild von einem Ort und/oder einer Region zu liefern, das zudem noch sinnlich markant, attraktiv anschaulich sowie stets verfügbar ist.
Für diese umfassende respektive interdisziplinäre Sicht- und Vorgehensweise stehen die vier Autoren mit ihren speziellen Professionen, Arbeits- und Forschungsschwerpunkten. Als erster ist da Rolf Kneißl zu nennen, der für die betreffenden ländlichen Gemeinden und Gotteshäuser zuständige Pastor, welcher sich schon lange und intensiv mit der Historie und den Monumenten seines Sprengels beschäftigt. Weiterhin sind da die Kunsthistoriker Tilo Schöfbeck und Detlef Witt, ersterer ausgewiesener Bauforscher, der zweite ein Kenner mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Kirchenkunst im norddeutschen Raum. Die vierte in der Verfassergemeinschaft, Sandra Hauff, ist gleichfalls kunsthistorisch tätig und brachte ihre diversen Kompetenzen und Erfahrungen in der Denkmalpflege und Restaurierung mit ein. Fachliches Engagement verband sich bei dem Autorenquartett mit einer hohen persönlichen Affinität für die gemeinschaftlich in den Fokus genommene Region und deren Denkmalfundus.
Diese Region zwischen den Flüssen Trebel und Ibitz ist eine "Kleinlandschaft" im westlichen Vorpommern und liegt abseits der Hauptreiserouten, kulturellen und touristischen Zentren. Grober geografischer Orientierungsrahmen für den Landstrich kann ein Dreieck sein, gebildet aus den Kleinstädten Grimmen, Loitz und Tribsees. Als kunstgeschichtlich interessant und bedeutsam dürfte dieses Territorium von einer breiteren Öffentlichkeit bisher kaum wahrgenommen worden sein, zumal entsprechende Veröffentlichungen, welche dies überzeugend belegen, bis dato noch nicht erschienen waren. Die edierten ausführlichen Informationen zu den sechs Kirchen und ihrem historischen Umfeld zwischen Trebeltal und Ibitzbruch sind nunmehr ein weiterer Beleg dafür, dass selbst in solchen dünn besiedelten, notorisch zu kunstarmen erklärten "Randzonen" mit bemerkenswerten Schöpfungen der Architektur, bildenden und angewandten Künste zu rechnen ist und dies zuerst und gerade wegen einer bis ins hohe Mittelalter zurückreichenden Kontinuität von christlichem Kultus und praktiziertem Glauben. Diesbezüglich besteht hier auch weiterhin ein ergiebiges Forschungsfeld, gibt es sowohl verpflichtende als auch dankbare Aufgaben zur Dokumentation und publizistischen Aufarbeitung.
Zu welchen fruchtbaren und überraschenden Resultaten das führen kann, zeigt sich an dieser Veröffentlichung, beispielsweise in dem Beitrag zur Margaretenkirche von Glewitz. Deren hochgotischer Chor aus den 1280er-Jahren mit seinen eleganten Formen und Proportionen erweist sich als eine qualitätsvolle Architektur, die vergleichbar ist mit den bekanntesten Bauschöpfungen dieses Typs in den norddeutschen Backsteingebieten, deren prominente Inkunabel eingeschlossen, dem Chorpolygon der Zisterzienserkirche zu Chorin (dat. um 1270-1275). Im Glewitzer Kirchenraum befindet sich ein weiteres bemerkenswertes Kunstzeugnis der Gotik. Es sind ungewöhnliche szenen- und figurenreiche Wandmalereien aus der Zeit um 1370/80. Ausgeführt in Seccotechnik, zeigen sie einen Passions-Zyklus, Bilder aus dem Leben der Hl. Margarete sowie die Gestalten der Apostel und weiterer Heiliger. Erst 1995 wurden diese umfänglichen Malereien wiederentdeckt, daraufhin untersucht und restauriert, wobei auch der Einfluss böhmischer Hochkunst z.Z. Kaiser Karls IV. deutlich zutage trat.
Bei der Dorfkirche Rakow, entstanden vom späten 13. bis zum ausgehenden 14. Jahrhundert, lässt folgender Baubefund aufmerken: Hinter dem neuzeitlichen Verputz des geböschten Turmobergeschosses verbirgt sich eine veritable hölzerne Ständerkonstruktion aus dem späten Mittelalter, die, laut jüngstem Untersuchungsergebnis, 1422 auf den massiven Unterbau gesetzt und 1502 erstmals verstärkt wurde.
Dem stattlichen Gotteshaus zu Nehringen wiederum gebührt zumindest eine regionale Sonderstellung, weil es im Wesentlichen ein Bau der Renaissance ist (dat. 1597-1598) und damit zur relativ kleinen Zahl sakraler Neubauten dieser Epoche im norddeutschen Raum gehört. Eindrucksvoll ist das Interieur der Kirche mit seinen barocken Bildwerken und einem prächtigen Altarretabel als Glanzstück, das 1598 Aufstellung fand und 1725 modifiziert und ergänzt wurde. Die aus Alabaster geformten Reliefs und Skulpturen dieses Prospekts sind wertvolle Beispiele manieristisch-spätrenaissancistischen Kunstschaffens holländischer Prägung.
Mit der Kirche von Deyelsdorf wird in dem Buch ein weiteres seltenes Architekturdenkmal der Renaissance-Epoche vorgestellt, dessen besondere Bautypologie und -gestalt seine Exklusivität noch steigert. Ein örtlicher Grund- und Patronatsherr ließ dieses Gotteshaus um 1601-06 nach dem Vorbild protestantischer Schlosskapellen errichten, womit es noch in der direkten Nachfolge des berühmten "Prototyps" im Schloss von Torgau steht und mit Kapellenbauten deutscher Fürstenresidenzen der Renaissance verwandt ist. Ein Exkurs hat den sogenannten "Semlower Altar" zum Gegenstand, weil dieses vorzügliche Flügelretabel des ausgehenden 15. Jahrhunderts, das heute in Stralsunds Marienkirche zu bewundern ist, sich längere Zeit in Deyelsdorf befand.
Unter den sechs präsentierten Kirchenbauten hat der in Medrow die geringsten Maße, nimmt sich äußerlich am schlichtesten aus und weist die bescheidenste Ausstattung auf. Doch auch bei ihm sind Details und Besonderheiten auszumachen, die sich zu einem singulären Denkmal-Charakter fügen und denen Aufmerksamkeit gebührt. Das betrifft etwa die älteste Gebäudepartie, ein "Kastenchor" mit kuppeligem Kreuzrippengewölbe (dat. um 1290), in dem sich Fragmente hochgotischer Wandmalereien aus der Zeit um 1300 (?) erhalten haben, die erst 2007 freigelegt und konserviert worden sind.
Jüngster Sakralbau innerhalb der Denkmalgruppe ist die Kirche von Bretwisch. Sie wurde 1852 gebaut und 1895 nochmals erweitert. Architektur und Ausstattung sind stilistisch homogen, ausgeführt im Duktus einer formelhaften bzw. konventionellen Neogotik. Die hier bekannten verantwortlichen Architekten, Friedrich Wilhelm Steinbach und Theodor Prüfer, binden dieses historistische Gesamtkunstwerk immerhin in einen größeren Kontext ein: Zählt Steinbach zur kleinen Schar preußischer Baubeamter im einstigen Regierungsbezirk Stralsund, die dort etliche Gebäude verschiedenster Gattungen projektierten und realisierten, so erhielt der Privatarchitekt Prüfer als Gründer und Leiter eines "Ateliers für Kirchenbau und Kircheneinrichtung" zwischen 1875 und 1900 mehrere Aufträge und hinterließ ein größeres Œuvre.
Hervorzuheben ist die überaus großzügige Bebilderung des Buches, welche zum hohen Informationsgehalt wesentlich beiträgt. Mit Sorgfalt und Akribie wurden dafür Archivalien zusammengetragen, editorisch aufbereitet und arrangiert, seien es historische Landkarten, Orts- und Baupläne oder seltene Fotodokumente aus dem 19. Jahrhundert. Hinzu kommen instruktive Detailaufnahmen, von denen etliche im Rahmen jüngst erfolgter Restaurierung- und Konservierungsmaßnahmen angefertigt worden sind. Auch sie zeugen davon, dass diese Publikation Spezial- und Fachwissen auf neuestem Forschungs- und Wissensstand vermittelt, sie deshalb auch etwas anderes darstellt, als viele unter einem "kunst- und kulturhistorischen Führer" möglicherweise verstehen oder vermuten dürften.
Michael Lissok