Rezension über:

Alexandra Garbarini: Numbered Days. Diaries and the Holocaust, New Haven / London: Yale University Press 2006, XVI + 262 S., ISBN 978-0-300-11252-8, GBP 30,00
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Rezension von:
Anna Hájková
Department of History, University of Warwick
Empfohlene Zitierweise:
Anna Hájková: Rezension von: Alexandra Garbarini: Numbered Days. Diaries and the Holocaust, New Haven / London: Yale University Press 2006, in: sehepunkte 13 (2013), Nr. 10 [15.10.2013], URL: https://www.sehepunkte.de
/2013/10/16828.html


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Alexandra Garbarini: Numbered Days

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Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war Tagebuchschreiben eine verbreitete bürgerliche Angewohnheit; Menschen führten ein Tagebuch auch wenn sie keine "großen Taten" vollbrachten oder im Licht der Öffentlichkeit standen, einfach weil sie ihr Leben, so wie es war, erfassen wollten. Diese Funktion des Tagebuchschreibens war eine wichtige Tradition für Diaristen im Holocaust, die damit ihre Verbindung zum europäischen Humanismus aufrechterhalten konnten. Andererseits ist das Berichten über Katastrophen eine zentrale jüdische Tradition: eine Apokalypse, über die jüdische Berichterstatter schrieben, steht somit sozusagen auf dem Kopf, denn das Narrativ lag in Händen der Opfer. Alexandra Garbarini, Associate Professor am Williams College in Massachusetts, stellt die Zunahme des Tagebuchschreibens unter den Juden im Holocaust mit diesen beiden Traditionen in Zusammenhang. Auch wenn die allermeisten Schreiber nicht überlebt haben, liegen heute in den Archiven und privaten Nachlässen Tausende Tagebücher.

Garbarini hat ein wichtiges, schönes Buch über den Holocaust aus der Sicht der Opfer geschrieben. Ihre Studie basiert auf einer an der UCLA eingereichten Dissertation, die von Saul Friedländer betreut wurde. Das ist sicher kein Zufall, etablierte doch Friedländer mit seinem Konzept der Integrativen Geschichte die Einbeziehung der Perspektive der Ermordeten in die Geschichte des Holocaust. Tatsächlich nimmt die Holocaustforschung inzwischen zunehmend Selbstzeugnisse in den Kanon der "gültigen" Quellen auf, mit dem Resultat eines erheblichen Wissensgewinns - schließlich sind subjektive Zeugnisse, insbesondere Tagebücher und Briefe, die einzigen Informationen zu Reaktionen, Denkweisen und zum Alltag, die die verfolgten und größtenteils ermordeten Juden geben konnten.

Die Autorin nutzt die Tagebücher, um zu zeigen, was und wie die Diaristen erlebten; ihr Fokus richtet sich auf deren Erfahrungen und Emotionen. Sie zeigt, dass wir ihre Zeugnisse nicht nur als Quellen sehen sollten, sondern auch als Fenster in das (Innen-)Leben der Schreibenden. Die Diaristen waren somit gleichermaßen Opfer und Zeitzeugen; Garbarinis Buch ist nicht nur eine Studie über Holocausttagebücher, sondern zugleich eine Geschichte des Holocaust. Der Autorin ist es gelungen, ihre Analyse der Tagebücher mit dem historischen Kontext zu verweben, ohne sich dabei in einer Flut von Informationen zu verlieren. [1] Garbarini untersuchte mehr als einhundert mehrheitlich unveröffentlichte und kaum bekannte Tagebücher in deutscher, polnischer, französischer und hebräischer Sprache. Diese beeindruckende sprachliche Breite ermöglicht es ihr, ein weitgehend repräsentatives Bild von Menschen im Holocaust zu präsentieren, von Menschen vor der Deportation in Berlin oder Breslau, von untergetauchten Juden in den Niederlanden, von Häftlingen in Lagern wie Bergen-Belsen und Grünberg bis zu jüdischen Partnern in Mischehen und Ghettoinsassen in Ost- und Mitteleuropa; etliche von Garbarinis Diaristen waren im Theresienstädter Ghetto.

Die Autorin weist auf einen Umstand hin, der vielen Holocaustforschern bekannt sein wird: Nicht alle Quelleneditionen zeichnen sich durch Sorgfalt aus. Neben fehlerhaften Übersetzungen sind vor allem ungekennzeichnete Auslassungen problematisch, die teilweise unbeabsichtigt, teilweise aber auch aufgrund politischer oder ethischer Überlegungen vorgenommen wurden. Diese Probleme löste sie sorgsam, indem sie die Originale mit den Editionen in mühseliger Kleinarbeit verglich. In diesem Kontext mag es relevant sein, auf zwei große Editionsprojekte zum Holocaust hinzuweisen: die deutsche Edition Judenverfolgung, angesiedelt zwischen dem Bundesarchiv, dem Institut für Zeitgeschichte, der Universität Freiburg sowie der Freien Universität Berlin, sowie die US-amerikanischen Jewish Responses to Persecution des United States Holocaust Memorial Museum haben sich dem Fokus auf zeitgenössische Quellen verschrieben: die erste enthält auch jüdische Quellen, die zweite besteht aus ihnen exklusiv. [2] Garbarini hat den zweiten Band der Jewish Responses mit herausgegeben. [3]

Was geht in den Menschen vor, wenn sie nichts zu essen haben, wenn sie zuschauen müssen, wie ihre Nächsten ermordet werden, "im Leben im Äußersten" (Tzvetan Todorov)? Garbarinis Buch widmet sich der Mentalität der Holocaustopfer und leistet somit einen Beitrag zur Mikrogeschichte des Holocaust im Sinne von Carlo Ginzburg. Ihr Buch ist theoretisch und methodologisch breit kontextualisiert. Manche werfen Holocaustforschern einen Hang zu Theorieferne und Neigung zum Deskriptiven vor, und leider liegen sie damit nicht immer falsch. Garbarinis Buch ist unter anderem deswegen so gelungen, weil sie zeigt, wie man über einen Genozid intelligent und theoretisch fundiert nachdenken kann. Die Autorin bettet ihre Untersuchung interdisziplinär ein und demonstriert, welche Erkenntnisse Literaturwissenschaft und Kulturgeschichte zu Tagebuchautoren bieten. Garbarini vermag etwas Seltenes: sie wendet Theorie an, macht sie aber mithilfe empirischer Belege nachvollziehbar.

Garbarini kategorisiert die Diaristen in vier zentrale Gruppen: Märtyrer und Historiker, Nachrichtenleser, Familienkorrespondenten und widerwillige Boten. So diente für manche das Tagebuch dazu, aus der Ferne den Kontakt zu den Kindern oder Familienmitgliedern zu halten, für andere wiederum zum Verstehen und Nachdenken über die Nachrichten zum Kriegsverlauf. Das Führen des Tagebuchs war eine Möglichkeit zur Aktivität für Menschen, denen die Täter sonst fast alle anderen Möglichkeiten der Selbstbestimmung genommen hatten. Das Tagebuch bot Platz zum Nachdenken, zum Ordnen und Definieren des Geschehenen und somit auch eine Form der Kontrolle, der agency der Opfer. In ihrer sensitiven Untersuchung von Möglichkeiten der agency und der vielen Funktionen des Tagebuchschreibens - als Mittel zum Trost, Bestätigung der eigenen Bildung, Möglichkeit der Kontrolle, Kommunikation mit den Kindern, Rückzugsraum ins Individuelle und einige mehr - zeigt Garbarini auch, wie irreführend die These von der psychischen und kulturellen Betätigung als "geistigem Widerstand" ist: ahistorisch und sentimentalisierend reduziert sie die heterogenen Funktionen der geistigen Betätigung. Das Leiden der Menschen hatte keinen Sinn und machte die Leidenden auch nicht edler. Vielmehr prägte die Erfahrung des Leidens die Menschen und dies zu untersuchen ist das spannende Thema ihres Buches.

Die Autorin untersucht die Tagebücher nicht auszugsweise, sondern analysiert sie als Ganzes. Somit kann sie zeigen, wie sich die Erlebnisse und Umstände im Laufe des Kriegs änderten. Etwa 1942/43 sickerten die Nachrichten über das massenhafte Töten zu den meisten Diaristen durch, andere mussten erleben, wie ihre ganze Familie abgeschlachtet wurde. Ohnmacht und Hoffnungslosigkeit sind Gefühle, die im Vordergrund der Einträge standen. Garbarini gelingt es, diese Emotionen zu analysieren, die gängigerweise als Gemeinplatz des Holocaust zitiert werden, und zeigt auf, was sich in den Menschen abspielte, wie diese Emotionen verarbeitet wurden. Sie untersucht, wie ein Leben weiterging, auch wenn die Menschen traurig und gebrochen waren, wenn sie wussten, dass sie bald selber sterben würden. All diese Erkenntnisse tragen entscheidend zu unserem Verständnis der Weltsicht der Holocaustopfer bei.

Garbarini hat ein bahnbrechendes, kluges und dabei leises Buch geschrieben; ihre Thesen formuliert sie sehr dezent, oft en passant. Ihre Analyse ist extrem sorgfältig, die Diaristen stehen immer im Vordergrund, mit ihren Hoffnungen, ihrer Angst, Wut und Liebe, mit ihrer Machtlosigkeit und dem Nachdenken darüber. Das Buch vereinigt die besten Qualitäten an der angelsächsischen historischen Tradition: es ist analytisch brillant, konzise und gut lesbar. Es ist schade, dass es dem deutschen Publikum bisher nicht in Übersetzung zugänglich ist; ein Versäumnis, das es zu beheben gilt.


Anmerkungen:

[1] Zoe Waxman, die zeitnah ein anderes Buch über die Selbstzeugnisse des Holocaust geschrieben hat, ist leider gerade daran gescheitert. Zoe Waxman: Writing the Holocaust. Identity, Testimony, Representation, Oxford 2006.

[2] Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933-1945, München, 16 Bände (sechs bereits erschienen); Jewish Responses to Persecution, 1933-1946, hgg. von Jürgen Matthäus u. a., Lanham 2011, 5 Bände (2 bereits erschienen).

[3] Alexandra Garbarini / Emil Kerenji / Jan Lambertz / Avinoam Patt (eds.): Jewish Responses to Persecution, Volume II, 1938-1940, Lanham 2011.

Anna Hájková