Rezension über:

R. W. Burgess / Michael Kulikowski: Mosaics of Time. The Latin Chronicle Traditions from the First Century BC to the Sixth Century AD. Volume I: A Historical Introduction to the Chronicle Genre from its Origins to the High Middle Ages (= Studies in the Early Middle Ages; Vol. 33), Turnhout: Brepols 2013, XIV + 444 S., ISBN 978-2-503-53140-3, EUR 100,00
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Rezension von:
Andreas Fischer
Institut für Mittelalterforschung, Österreichische Akademie der Wissenschaften, Wien
Redaktionelle Betreuung:
Ralf Lützelschwab
Empfohlene Zitierweise:
Andreas Fischer: Rezension von: R. W. Burgess / Michael Kulikowski: Mosaics of Time. The Latin Chronicle Traditions from the First Century BC to the Sixth Century AD. Volume I: A Historical Introduction to the Chronicle Genre from its Origins to the High Middle Ages, Turnhout: Brepols 2013, in: sehepunkte 13 (2013), Nr. 10 [15.10.2013], URL: https://www.sehepunkte.de
/2013/10/22698.html


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R. W. Burgess / Michael Kulikowski: Mosaics of Time

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Als erster einer auf insgesamt vier Bände angelegten Reihe, die der Untersuchung der spätantik-frühmittelalterlichen Geschichtsschreibung lateinischer Sprache gewidmet ist, nimmt die Abhandlung Grundsätzliches in den Blick: Während der zweite Band die Chroniken, fasti und consularia der frühen Kaiserzeit sowie der Spätantike thematisieren und mit Übersetzungen und Kommentaren versehene Quellentexte edieren, der dritte sich auf die Chronik des Hieronymus mit ihren Fortsetzungen in Gallien und Spanien konzentrieren und der vierte schließlich die letzten Chronisten der Spätantike bis ins 7. Jahrhundert hinein behandeln wird (s. dazu x und 8), rücken Richard W. Burgess und Michael Kulikowski hier zunächst Genrefragen in den Mittelpunkt. Ausgangspunkt ihrer Überlegungen ist die verbreitete Annahme, die Gattung "Chronik" habe sich aus den Ostertafeln entwickelt und sei somit als spezifisch christliches, in der Spätantike und im Frühmittelalter entstandenes Genre zu betrachten. Demgegenüber streben beide Autoren danach, die Erzeugnisse der spätantiken und mittelalterlichen Historiographie als Fortsetzungen einer älteren, über die vom hellenistischen und römischen bis in den nahöstlichen Bereich zurückzuverfolgenden Tradition der Geschichtsschreibung zu interpretieren. Ihr Anspruch ist dabei, die durch Periodisierungen und die Forschungsdisziplinen selbst geschaffenen Trennungen zu überwinden, die zur postulierten Neuschöpfung der Chronik in Spätantike und Frühmittelalter führten (xii und dezidiert 20).

Im ersten von insgesamt sieben Kapiteln entwerfen sie daher eine entsprechende Terminologie, die der Zusammenschau der bislang in den Fachdisziplinen getrennt betrachteten Genres im Sinne eines "ecumenical vocabulary" dienen soll (1-62, bes. 59-62). Besonders hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang, dass die Autoren sich grundsätzlich vom Begriff der Annalen distanzieren und ihn durch den hier wesentlich weiter gefassten Terminus "Chronik" ersetzen. Nach Burgess' und Kulikowskis Definition wird die Chronik durch eine "wissenschaftliche", vorrangig an der Chronologie interessierte Herangehensweise (22f.), eine durch die Jahreseinteilung bedingte parataktische Erzählstruktur, ein offenes Ende und vor allem die Kürze ihrer Darstellung charakterisiert (29). All diese Faktoren unterscheiden sie zugleich von der ausführlicheren, stärker von literarischen Interessen und der Lenkung des Lesers durch das Narrativ selbst geprägten "classicizing history". Breviaria und consularia stellen in diesem Modell Zwischenstufen oder Subgenres dar: ersteren sei es nicht vorrangig um die Chronologie gegangen (30f.), während letztere eine "subliterary nature" besäßen und aufgrund ihrer Kürze, ihrer Unvollständigkeit sowie der Anonymität des Autors geradezu zu Ausbau und Veränderung des Textes eingeladen hätten (53).

Das solchermaßen entworfene Klassifizierungsmodell wird in den nächsten Kapiteln an zahlreichen Beispielen aus verschiedenen Zeiten, Räumen und Kulturen vorgeführt. Kapitel 2 wendet sich dabei zunächst den historiographischen Erzeugnissen der frühen Hochkulturen in Ägypten und dem Zweistromland, aber auch den frühen griechischen und den ersten lateinischen Geschichtswerken zu (63-98). Dabei stellen die Autoren fest, dass sich zwar keine direkte Abhängigkeit zwischen der Historiographie im Nahen Osten und der des griechischen Raums nachweisen lässt, doch legen strukturelle Parallelen ihrer Auffassung nach durchaus die Aufnahme von Einflüssen aus diesem Bereich nahe. Die spätantiken Chroniken erscheinen damit als Produkte einer Jahrtausende zurückreichenden historiographischen Tradition, als Teil eines langgestreckten Kontinuums. Kapitel 3 ist der "apologetic chronography" und den Chronici canones des Eusebius gewidmet (99-131). Burgess und Kulikowski fassen dabei unter dem Terminus "apologetisch" all das, was man dazu verwandte, um das hohe Alter und die Legitimität eines Volkes zu belegen; das Werk des Eusebius rücken sie in diese apologetische Tradition, die insgesamt "the essential purpose of Christian chronography" darstellte (120). Die frühe Entwicklung von Kalendern und consularia thematisiert das anschließende vierte Kapitel (133-172), an das die Behandlung des historiographischen Wandels in Gestalt der Ablösung der consularia durch die zunehmend dominanter werdende Gattung der Chroniken im spätrömischen Reich im 6. Jahrhundert anschließt (Kapitel 5, 173-187). Am Ende dieses Abschnitts wird der Bruch mit den zuvor beschriebenen antiken historiographischen Traditionen hervorgehoben, der sich vor allem im lateinischen Westen des 7. Jahrhunderts zeigt, und damit zum sechsten und letzten sowie zugleich umfangreichsten Kapitel des Buches übergeleitet, das sich mit den Chroniken des Mittelalters beschäftigt (189-268). Die Autoren erkennen in Johannes von Biclaro bzw. dem Chronicon Paschale im Osten die letzten Repräsentanten der zuvor beschriebenen antiken historiographischen Tradition, die in jener Zeit "into something no longer recognizably ancient at all" transformiert worden sei (191). Die sich dabei vollziehende Entwicklung ("a genuinely new historiographical development in chronicling", 191f.) wird beispielsweise mit den Erzeugnissen Isidors von Sevilla und Bedas, aber auch mit der Fredegar-Chronik und ihren sogenannten Fortsetzungen sowie dem Liber Historiae Francorum in Verbindung gebracht. Es seien diese und ähnliche Texte gewesen, die als breviaria, "chronicle epitomes" oder "epitome histories", mithin als Subgenres der Chronik die historiographische Bühne beherrschten, ehe die karolingische Geschichtsschreibung in ihren "Chroniken" zu den antiken Formen zurückfand. Gleichwohl habe das Modell der spätantiken Chronik in Gestalt des Geschichtswerks aus der Feder des Eusebius-Hieronymus daneben stets weiter fortgewirkt. Die Autoren schließen ihren Überblick, der auch Texte byzantinischer, irischer und spanischer Provenienz umfasst, mit dem Geschichtswerk des Sigebert von Gembloux vom Anfang des 12. Jahrhunderts, da sie in ihm noch einen Teil der antiken Tradition zu erkennen vermögen. Die Ergebnisse der Darstellung werden zuletzt knapp in einem eigenen Kapitel zusammengefasst (269-274). Ergänzt werden die Ausführungen durch acht Appendices, die den Termini Chronica und Annales gewidmet sind, Exzerpte aus verschiedenen Quellen in englischer Übersetzung enthalten und Probleme einzelner Geschichtswerke thematisieren (275-355), und durch lesenswerte umfangreiche Zusätze zu den Anmerkungen (357-382). Ein Quellen- und Literaturverzeichnis (383-415) sowie ein Index (417-444) beschließen den Band.

Die Darstellung beeindruckt durch ihren chronologisch und geographisch weit ausgreifenden Horizont. Ihre Absicht, durch eine Zusammenschau antiker und mittelalterlicher Quellen bestehende Epochengrenzen zu überwinden und zwischen sonst stärker getrennten Fachdisziplinen zu vermitteln, wird zweifellos mit Interesse aufgenommen werden. Die zu diesem Zweck im vorliegenden Band erfolgte Ordnung der Texte nach eigens entworfenen Genreprinzipien und einer damit verknüpften Terminologie wird in der Forschung - wie den Autoren selbst bewusst ist (xii) - ebenso unzweifelhaft kontrovers diskutiert werden. Wie bei jeder definitorischen Annäherung erweisen sich die Grenzfälle auch hier als Tests für die Tragfähigkeit der Terminologie, aber auch des Konzepts. Die skizzierten Subgenres erscheinen etwa als Hilfskonstruktionen, denen manche Texte bisweilen nur mühsam zuzuordnen sind. Doch auch in den Fällen, in denen eigentlich Klarheit bestehen sollte, bringt die Spezifizierung der Eigenschaften Unschärfen hervor, wie das Beispiel der karolingischen Reichsannalen verdeutlicht. Diese stellen nach Burgess und Kulikowski zwar die erste tatsächliche "Chronik" (nach ihrer Definition) in der Karolingerzeit dar (so dezidiert 243), doch schränken die Autoren im Anschluss ein: "In a sense what we have is a breviarium-type history structured like a chronicle." (244) Anschaulich zeigt dies, wie schwer es ist, die vielfältigen Ausprägungen der strukturellen und inhaltlichen Anlage eines Textes mit Genrevorstellungen und -bezeichnungen allgemein in Einklang zu bringen. Die angesprochenen Punkte unterstreichen jedoch die hohe Bedeutung der von Burgess und Kulikowski thematisierten Fragen: es geht in der Analyse der Geschichtswerke um das Verhältnis zwischen Tradition und Selbstbehauptung, zwischen Einbettung und Eigenständigkeit und zwischen Kontinuität und Bruch in ihrer jeweiligen Gewichtung; es geht generell um die notwendige Historisierung von Texten, ihrer Autoren und ihres Publikums - auch hinsichtlich ihrer Genrevorstellungen. Mit Spannung erwartet man daher die konkrete Anwendung der vorgestellten Genreeinteilung und ihre Auswirkung auf die Interpretation der spätantik-frühmittelalterlichen Historiographie in den drei Folgebänden.

Andreas Fischer