Shlomo Sand: Die Erfindung des Landes Israel. Mythos und Wahrheit, Berlin / München: Propyläen 2012, 396 S., ISBN 978-3-549-07434-3, EUR 22,99
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Dieses Buch folgt dem 2008 auf Hebräisch erschienenen, kurz darauf in mehrere Sprachen übersetzten und viel debattierten Bestseller "Die Erfindung des jüdischen Volkes". Dem Tel Aviver Zeithistoriker Shlomo Sand geht es auch diesmal darum, die zionistische Geschichtsschreibung und somit das in Israel vorherrschende Geschichtsverständnis radikal in Frage zu stellen.
Sand folgt einem (de)konstruktivistischen Ansatz und will nachvollziehen, "wie es zur Erfindung von 'Erez Israel' - dem 'Lande Israel' - als sich wandelndem territorialem, der Herrschaft des 'jüdischen Volkes' unterworfenem Raum gekommen ist, jenes 'jüdischen Volkes', das [...] ebenfalls im Zuge eines ideologischen Konstruktionsprozesses erfunden wurde" (37). Dabei macht der Autor keinen Hehl aus seinem politischen Anliegen, "den [zionistischen] Grundsatz des 'historischen Anrechts' [der Juden auf das Land Israel] ebenso zu entzaubern wie die mit ihm verbundenen nationalen Narrative, die allein dem Zweck dienen, die Inbesitznahme des Territoriums moralisch zu legitimieren. Der Ansatz dieses Buches besteht darin, die [in Israel] etablierte [zionistische] Historiografie zu kritisieren und dabei auch den revolutionären Paradigmenwechsel zu charakterisieren, den der Zionismus innerhalb eines zusehends geschwächten Judentums auslöste." (45)
Zur Einstimmung berichtet Sand von seinen eigenen Erfahrungen als Soldat im Sechstagekrieg, bevor er zum Hauptteil übergeht. Das erste Kapitel "Ein Vaterland erschaffen: Vom biologischen Imperativ zum Eigentum der Nation" behandelt das Verhältnis zwischen der Nation und dem Territorium in der (Nationalismus-)Forschung. Im zweiten Kapitel: "'Mytherritorium' - Am Anfang verhiess Gott das Land" geht Sand auf den hebräischen Begriff Moledet, Vaterland, ein. Kanonische Texte wie die Bibel sowie Halachische Schriften wie der Talmud oder die Mishna sollen belegen, dass das Land Israel von keiner besonderen Bedeutung für das Judentum bzw. für die Juden gewesen sei, zumindest nicht von einer so großen, wie sie der Zionismus seit Ende des 19. Jahrhunderts seinem Geschichtsverständnis zugrunde legt. Im dritten Kapitel "Von der Wallfahrt zum christlichen Zionismus: Balfour verheisst das Land" will der Autor die Bedeutung des Heiligen Lands für die Christen hervorheben - und ihr religiös bedingtes Interesse an der Rückkehr der Juden dorthin.
Erst im vierten Kapitel: "Zionismus gegen Judentum: Die Eroberung des 'ethnischen' Raums" kommt Sand zur eigentlichen Mythologisierung des Landes aus jüdischer Sicht. Recht redundant und wenig stringent stellt er den Zionismus als einen Bruch in der jüdischen Geschichte dar. Damit konstatiert er einen (zuweilen sehr) scharfen Gegensatz zwischen dem über die Jahrtausende existierenden, de-territorialen, "religiösen" Judentum und dem "säkularen", an ein bestimmtes Territorium gebundenen Zionismus: "die Zionisten [schrieben] ihre imaginierte Heimat dem Judentum ein und sahen sich selbst als dessen Vollender, die als seine authentischen Repräsentanten von ihm bevollmächtigt worden seien." (243)
Shlomo Sand hat ein populärwissenschaftliches Buch verfasst, das argumentativ und methodisch einige Schwächen aufweist; nicht zuletzt zeugt es von einem ahistorischen Verständnis des eigentlichen Untersuchungsgegenstands. Der Zionismus wird hier nicht so sehr im historischen Kontext des letzten Jahrhunderts verstanden und nicht als Produkt der Moderne sowie der heimtückischen Dialektik dargestellt, die sie für die Juden mit sich brachte. Die jüdische Nationalbewegung wird vielmehr daraufhin befragt, ob sie im Sinne einer dreitausdendjährigen jüdischen Geschichte bzw. des Judentums sei. Sand richtet über den Zionismus und nimmt dabei eine allzu anti-zionistische Haltung ein, so dass sein Untersuchungsgegenstand - der in Israel de facto umgesetzte Zionismus - der eigentliche blinde Fleck in diesem Buch bleibt.
Sands Argumente sind im Kern: Das vom Zionismus hergestellte Verhältnis vom (dezidiert als erfunden begriffenen) jüdischen Volk zum (ebenfalls erfundenen) Land Israel sei ein unverbindliches Konstrukt, dessen Gültigkeit fragwürdig sei. Das zionistische Projekt stütze sich auf eine falsche Interpretation des Judentums, weshalb die zionistische Geschichtsschreibung fehlerhaft sei. Der Zionismus stelle wie alle anderen Nationalismen lediglich ein vergängliches Konstrukt dar, gewissermaßen eine Fehlentwicklung des Judentums, das sich traditionell nicht am Territorium orientierte. Das Heilige Land sei eigentlich eine christliche Angelegenheit, weshalb bei Sand auch die Rede von einem "christlichen Zionismus" ist. Und schließlich berufe sich der Zionismus zu Unrecht auf kanonische Texte des Judentums, interpretiere sie falsch und instrumentalisiere sie für seine Zwecke.
Nun stellt sich die Frage, ob ein Zeithistoriker es ernst meint, wenn er bemängelt, dass sich im 20. Jahrhundert eine falsche Ideologie durchgesetzt habe, und es sich zur Aufgabe macht, das Fehlerhafte daran im Abgleich mit einer dreitausendjährigen Geschichte zu suchen. Die Lektüre irritiert über weite Strecken auch deshalb, weil sie Texte und Sachverhalte älterer Epochen heranzieht und debattiert, während sie gleichzeitig die zionistische Perspektive und die zionistischen Argumentationsmuster des 20. Jahrhunderts beinahe ganz außer Acht lässt, da sie falsch seien, nicht schlüssig und sogar eine Abweichung von den zionistischen Vorstellungen der Zeit davor darstellten.
Die interessante Frage, weshalb sich diese "falsche" Ideologie trotzdem durchgesetzt hat und noch immer Bestand hat, bleibt allerdings außen vor. Dem Autor entgeht der durch den Zionismus bereits vollzogene, tatsächliche historische Prozess einer jüdischen Nationalstaatsbildung und damit auch das real vorhandene starke Nationalbewusstsein in Israel und bei vielen außerhalb des Landes lebenden Juden. Die Shoah einerseits und Israels Gründung andererseits sind sehr wohl relevant für die hier behandelte territoriale Frage, sprich für die Eroberung, Judaisierung und schließlich - wie Sand zu Recht anmerkt - die Sakralisierung des Landes.
Weiter konstatiert der Autor einen krassen, so nicht haltbaren Gegensatz zwischen Zionismus und Judentum, um die religiöse Legitimation des Zionismus in Frage zu stellen. Denn gerade im zionistischen Israel kooperierte der religiöse Zionismus mit dem säkularen beinahe durchgehend. Auch die anfangs sehr kritischen, nichtzionistischen religiösen Kräfte haben sich schließlich mit dem jüdischen Staat arrangiert, obwohl sie in das politische System nur partiell integriert wurden. Die Tatsache, dass die Trennung von Staat und Religion seit den Gründungsjahren politisch nicht durchsetzbar und auch nicht gewollt ist, spricht ebenfalls gegen diesen scharfen Gegensatz. Außerdem versteht sich Israel in erster Linie als jüdischer Staat, dessen Volksverständnis sich auf einen halachischen, d.h. jüdisch-religiösen Kern stützt. In einem heute zunehmend religiösen Israel lässt sich also vielmehr von einer "Zionisierung" der jüdischen Religion reden und von einer nationalistischen Transformation des Judentums.
Die Verbindung von Nation und Religion ist gerade in Israel eng an die Frage der Staatsbürgerschaft gekoppelt und damit wiederum an die israelische Staatsräson vom jüdischen Staat für das jüdische Volk in dem Land Israel. Sand vermag dieser historischen "Wahrheit" der durch das zionistische Projekt bedingten Politik der Judaisierung des Landes nicht direkt ins Auge schauen. Das Buch will Erez Israel daher als Konstrukt verstehen, als Mythos, eine fixe Idee, die zu überwinden sei. Doch im zionistischen Israel ist Erez Israel nicht irgendein Mythos. Es ist ein höchst lebendiger, wirksamer Gründungsmythos, an dem sich die Politik bis heute ausrichtet. Israel beansprucht das Territorium eben als jüdisches Land, obwohl dieses von zwei Völkern besiedelt ist - trotz mittlerweile 65 Jahren erfolgreicher Politik im Sinne des zionistischen Projekts. Israel weigert sich gerade deshalb, die territoriale Frage zum Politikum zu machen, weil besagter Mythos ungebrochen weiter wirkt und identitätsbildend ist: Erez Israel steht nicht wirklich zur Debatte, obwohl sich gerade an dieser Frage der Palästina-Konflikt (und letztlich der Nahostkonflikt) immer wieder entzündet. Das Land Israel, der israelische Nationalismus und das Entstehen einer jüdischen Nation sind eine zwar widersprüchliche, aber auch nicht durch Dekonstruktion zu bestreitende Realität geworden.
Tamar Amar-Dahl