Rezension über:

Kateřina Čapková / Michal Frankl: Unsichere Zuflucht. Die Tschechoslowakei und ihre Flüchtlinge aus NS-Deutschland und Österreich 1933-1938 (= Reihe Jüdische Moderne; Bd. 13), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2012, 327 S., ISBN 978-3-412-20925-4, EUR 39,90
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Rezension von:
Thomas Oellermann
Prag
Empfohlene Zitierweise:
Thomas Oellermann: Rezension von: Kateřina Čapková / Michal Frankl: Unsichere Zuflucht. Die Tschechoslowakei und ihre Flüchtlinge aus NS-Deutschland und Österreich 1933-1938, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2012, in: sehepunkte 13 (2013), Nr. 11 [15.11.2013], URL: https://www.sehepunkte.de
/2013/11/23052.html


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Kateřina Čapková / Michal Frankl: Unsichere Zuflucht

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In ihrer nun auf Deutsch erschienenen Arbeit "Unsichere Zuflucht" plädieren die beiden tschechischen Historiker Kateřina Čapková und Michal Frankl für eine wissenschaftliche Neubewertung der Emigration in der Tschechoslowakischen Republik. Ihr Buch bietet eine interessante und wichtige Perspektive auf diesen bedeutenden Abschnitt der europäischen Geschichte von Flucht und Vertreibung. Es geht Čapková und Frankl vor allem darum, tschechischen Legenden hinsichtlich der Aufnahme von Flüchtlingen nach 1933 eine wissenschaftlich belastbare Untersuchung entgegenzustellen. Es geht ihnen, wie sie selbst schreiben, darum, die Republik Masaryks nicht zu idealisieren. Keinesfalls ist es aber so, dass die Ergebnisse ihrer Arbeit allein für den tschechischen Leser von Interesse sind. Die Emigration von führenden politischen Gegnern des Nationalsozialismus sowie die Flucht von Menschen jüdischer Herkunft unter dem Eindruck der zunehmenden Verfolgung in die Tschechoslowakei ist Teil der gemeinsamen Geschichte von Deutschen und Tschechen im 20. Jahrhundert. So hinterfragen Čapková und Frankl auch den Forschungsstand der deutschen Historiographie, die zumeist das Bild einer zur Aufnahme von Flüchtlingen überaus bereiten Tschechoslowakei zeichnete.

Die Autoren haben ihre Arbeit in vier Kapitel unterteilt. Im ersten widmen sie sich der anfänglichen Emigration des Jahres 1933 und hier vor allem den Grenzgebieten der Tschechoslowakei, in die die Flüchtlinge aus Deutschland zuerst kamen. Bis 1936 wurde die Grenze auf tschechoslowakischer Seite durch die Finanzwache kontrolliert. Diese konnte aufgrund ihrer geringen Mannschaftsstärke das Grenzgebiet nur bedingt überwachen. Diese Durchlässigkeit ermöglichte es auch SA, SS und Gestapo, ausgewählte Flüchtlinge in der Tschechoslowakei zu entführen oder zu ermorden. Als bekanntestes Beispiel gilt der Philosoph Theodor Lessing, der im August 1933 in Marienbad erschossen wurde.

In der Tschechoslowakei hatte sich nach der russischen Oktoberrevolution und der anschließenden Flüchtlingswelle eine eigene Flüchtlingspolitik ausgeprägt. Diese zeichnete sich vor allem dadurch aus, dass man möglichst keine jüdischen Flüchtlinge aufnehmen wollte. Die politische Rechte der Tschechoslowakei lehnte ebenso die Aufnahme von Vertretern linker Parteien ab. Die politisch links stehenden Parteien des Staates sprachen sich hingegen dafür aus, die Flüchtlinge auf zu nehmen, zumal diese oftmals aus sozialdemokratischen oder kommunistischen Bewegungen stammten.

Bei der konkreten Aufnahme bestand das Problem, dass von Seiten der tschechoslowakischen Behörden keine einheitlichen Vorgaben existierten und deswegen von Fall zu Fall sehr unterschiedlich vorgegangen wurde. In den unterschiedlichen Landesteilen gab es verschiedene Aufenthaltsbestimmungen für Ausländer. Erst ab 1935 gab es ein einheitliches Gesetz. Es blieb dennoch bei Einzelfallentscheidungen.

Im anschließenden Teilabschnitt beleuchten Čapková und Frankl die internationalen Bemühungen um eine Flüchtlingshilfe in den 1920er und 1930er Jahren, wobei sie immer auch darstellen, wie stark die Tschechoslowakei in diese Entwicklungen einbezogen war bzw. welche Initiative das Land selbst entwickelte. Die Tschechoslowakei beteiligte sich etwa an den internationalen Verhandlungen des Hohen Flüchtlingskommissars des Völkerbundes. Etwaige Beschlüsse wurden durch unterschiedliche tschechoslowakische Ministerien sehr kritisch begleitet. Innenpolitisch gab es Befürchtungen, die eintreffenden Flüchtlinge könnten in absehbarer Zeit zu einer Konkurrenz der heimischen Wirtschaft werden.

In einem weiteren großen Kapitel beschäftigen sich Čapková und Frankl mit den verschiedenen Hilfsmaßnahmen für die Flüchtlinge. Neben spontanen Hilfsaktionen etablierten sich in der Folge unterschiedliche Hilfskomitees. Entgegen bisheriger Vorstellungen bekamen diese Komitees nur wenig Geld vom Staat. Sie waren vielmehr auf Spenden und andere Zuwendungen angewiesen. Sie waren politisch und ebenso dem Bekenntnis nach getrennt. In einem Teilabschnitt stellen die Autoren den Alltag der Flüchtlinge dar. Das Leben in Flüchtlingslagern und -heimen unterschied sich stark von dem der wenigen privilegierten Flüchtlinge. In einem weiteren Teilabschnitt geht es um die kommunistischen Organisationen zur Flüchtlingshilfe.

Im dritten Kapitel beschäftigen sich Čapková und Frankl mit der jüdischen Emigration, die den Schwerpunkt des Buches ausmacht. Einleitend halten sie fest, dass es sich bei den jüdischen Flüchtlingen keinesfalls um eine homogene Gruppe handelte, sondern, dass es viele Überschneidungen gerade zur politischen Emigration gegeben hat. Tatsächlich hatten jüdische Flüchtlinge aber andere Ausgangsvoraussetzungen und wurden durch den tschechoslowakischen Staat gegenüber anderen benachteiligt. Ausführlich widmen sich die Autoren der Hilfe seitens jüdischer Gemeinden und Organisationen und sehen deren Leistung als Ergebnis einer langen Tradition von Hilfsleistungen für jüdische so genannte Durchziehende. Dies unterscheide die jüdische Flüchtlingsfürsorge von der politischen, eine These, die angesichts vergleichbarer Traditionen in der Arbeiterbewegung zumindest zu hinterfragen ist.

Im letzten der vier Kapitel behandeln Čapková und Frankl die beiden letzten Jahre der Tschechoslowakei und umreißen die sich zusehends verschärfende politische Situation, auf die der tschechoslowakische Staat 1937 mit einer Verlegung aller Flüchtlinge auf die grenzferne Böhmisch-Mährische Höhe reagieren wollte, was aber letztlich durch öffentlichen Druck abgewendet werden konnte. Der Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich führte dann 1938 zu einer erneuten Flüchtlingswelle, die das System der Aufnahme und Versorgung von Flüchtlingen in Europa zum Kollabieren brachte.

Čapková und Frankl ist mit ihrem Buch ein wichtiger Schritt gelungen, da es ihnen nicht wie der bisherigen Historiographie, gerade der deutschen, um die Tätigkeit der Emigranten und um ihre Organisationen geht, sondern da sie sich vor allem auch mit dem rechtlichen Rahmen des Aufnahmelandes Tschechoslowakei beschäftigen und vor diesem Hintergrund die schwierige Arbeit der Flüchtlingshilfsorganisationen nachzeichnen. Mit dem für viele Leser sicherlich überraschenden Hinweis, dass die politische Emigration längst nicht so zahlreich war wie etwa die jüdische, begründen die beiden Autoren, warum es ihnen vor allem darum gehe, das Schicksal einfacher jüdischer Flüchtlinge darzustellen. Dies gelingt ihnen anhand grundlegender Betrachtungen, aber auch durch ausgewählte Einzelbeispiele. Diese Betonung der jüdischen Flüchtlinge ist legitim, wenngleich die Autoren an einigen Stellen einräumen müssen, dass eine ganze Reihe von diesen auch der Gruppe der politischen Flüchtlinge zuzurechnen wäre.

Die Arbeit von Čapková und Frankl besticht durch eine gute Lesbarkeit, wenngleich es einige Rechtschreibfehler gibt, die offensichtlich im Zuge der Übersetzung entstanden sind. Ebenso gibt es im Bereich der politischen Emigration bei Personenangaben einige kleinere inhaltliche Fehler. Siegfried Taub zum Beispiel war nicht Vorsitzender der tschechoslowakischen Sozialdemokraten, sondern Funktionär der Deutschen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (108). Diese kleineren Mängel schmälern aber nicht den wissenschaftlichen Wert der Arbeit.

Thomas Oellermann