Rezension über:

François Avril / Brigitte Maurice-Chabard / Massimo Medica : Bologne et le pontifical d'Autun. Chef-d'œuvre inconnu du premier Trecento 1330-1340, Langres: Éditions Dominique Guéniot 2012, 320 S., zahlr. farb. Abb., ISBN 978-2-87825-511-9, EUR 35,00
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Rezension von:
Annette Hoffmann
Kunsthistorisches Institut in Florenz
Redaktionelle Betreuung:
Philippe Cordez
Empfohlene Zitierweise:
Annette Hoffmann: Rezension von: François Avril / Brigitte Maurice-Chabard / Massimo Medica : Bologne et le pontifical d'Autun. Chef-d'œuvre inconnu du premier Trecento 1330-1340, Langres: Éditions Dominique Guéniot 2012, in: sehepunkte 13 (2013), Nr. 12 [15.12.2013], URL: https://www.sehepunkte.de
/2013/12/23631.html


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François Avril / Brigitte Maurice-Chabard / Massimo Medica : Bologne et le pontifical d'Autun

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Es ist selten, dass einer einzelnen Handschrift nicht nur eine eigene Ausstellung gewidmet, sondern diese auch von einem reichen Katalog begleitet wird. Noch seltener ist dies bei liturgischen Codizes der Fall (es sei denn, es handelt sich um hochmittelalterliche Zimelien). Dass im vorliegenden Katalog mit dem Pontifikale von Autun überdies eine Bologneser Handschrift des Trecento im Rampenlicht steht, ist höchst erfreulich, erhält doch die Buchmalerei Bolognas - neben Paris wohl bedeutendstes universitäres Zentrum des späteren Mittelalters und für eine frühe, auch serielle Produktion von Rechtscodizes bekannt - noch immer relativ wenig Aufmerksamkeit. Sicher ist die hohe Ehre, die dem Pontifikale zuteilwird, nicht nur seiner Qualität, sondern auch dem Umstand seiner spektakulären Entdeckung geschuldet: Gefunden wurde es 2007 in der Diözese von Autun in einem Kuvert, auf dem "Nicht öffnen" stand. Um 1340 dürfte es für einen Modeneser Bischof entstanden sein. Unklar ist jedoch sein weiteres Schicksal, und so kann, wie Marie-Françoise Damongeot-Bourdat im ersten Kapitel des Katalogs darlegt, auch der Weg, den es vermutlich im 19. Jahrhundert nach Autun genommen hat, 'nur' hypothetisch rekonstruiert werden. Das einzige, von François Avril entdeckte Zeugnis seiner Präsenz in Autun, zwei Reproduktionen, datiert auf 1899.

Der detektivische Auftakt ist gefolgt von einer großen Sektion Massimo Medicas und seiner Mitarbeiter zur Bologneser Skulptur, Malerei und Buchmalerei des Trecento. Dem Titel des Katalogs konform, tritt die Stadt hier mit ihren Künsten als Protagonistin hervor. Medicas Essay und die Katalogeinträge bieten einen breiten Horizont, vor dem sich noch einmal Giotto als 'Erneuerer' der Bologneser Malerei und Buchmalerei abhebt, dies in Tradition mit den Arbeiten des Longhi-Schülers Alessandro Conti. [1] Gezeichnet ist ein komplexes Bild aus oft anonymen Meisternamen, Zuschreibungen und Einflüssen: Rimini und Padua, Giotto und Giovanni di Balduccio, Vitale da Bologna, Pseudo Jacopino und andere - Bertrand du Pouget ist in vielen Bezügen Schlüsselfigur -; ferner der Meister von 1328, der mit dem Meister des Pontifikale von Autun ein Digestum Vetus illuminierte; der sogenannte Illustratore mit seinem "style animé et expressif" (55), der mit demselben wohl auch kooperierte; und schließlich die Meister des Pontifikale selbst: Neben dem nach seinem Werk benannten Maler sind dies der Meister des Pariser Gratian und ein Meister, dessen Stil jenem des Meisters von 1346 ähnelte.

Das dritte und das vierte Kapitel fokussieren das Pontifikale mit verschiedenen Ansätzen: Alain Rauwel sieht das Buch mit den Riten des Bischofs als ein "résultat d'une mise en ordre des textes" und politisch-gesellschaftlich zugleich als ein "puissant instrument d'une mise en ordre des hommes" (128). Dessen Aufbau entfaltet er von den Texten zur Segnung und Weihe hierarchisch geordneter Personen, zu den diversen Orten gewidmeten Ritualen, etwa der Kirchweihe, bis hin zur Weihe von Glocken und Lebensmitteln oder den Anweisungen zur Pflege von Seele und Körper durch Buße und Beichte etc. Insgesamt handele es sich um eine Sammlung von Dispositiven, so Rauwel, mit denen der Bischof seine Hand über das Volk ausbreite (131). Marianne Besseyre hebt hingegen in ikonografischen Vergleichen die Bildstrategien hervor, die die Meister des Autuner Codex zur Illuminierung ihrer Handschrift einsetzten: "l'art de l'ellipse" und die Konzentration auf den Menschen und seine Beschäftigung (135). Dem Filigranschmuck widmet sich Marie-Thérése Gousset, und Claire Maître erinnert in einem Beitrag zu den Gesängen an die zentrale Rolle der "Akteure" eines liturgischen Buches (145).

Der Essay von Didier Méhu gehört meines Erachtens zu den anregendsten des Katalogs. Méhu beschreibt die Miniaturen des Codex mit den in ihnen dargestellten Ritualen und ihren Ornamenten, aber nicht nur: In sinnigem Spiel mit dem ersten Wort des Codex, ordo, beobachtet er subtil die diversen in der Handschrift visualisierten Ordnungen: von der formalen Bildung von Hierarchien in der Seitengestaltung durch Rahmungen, Gegenüberstellungen und die Variation der Bild- und Schriftgrößen zum rhythmischen, zum Teil auch didaktischen Wechsel der Schriftfarben, des Fleuronnée und der Initialtypen. Analysiert werden hier insbesondere die Eingangsseite des Codex, die die Tonsur eines Mönches und den von Engeln erhöhte Papst zeigt, sowie Folio 19r mit der Darstellung der Weihe des Bischofs, wobei Méhu die Seiten als aufeinander bezogen sieht, als versicherten sie in der Gegenüberstellung gleichsam eine Kongruenz der beiden emblematischen Figuren der kirchlichen Ordnung. Rund 50 historisierte Initialen stehen den ordines voran, Fleuronnée-Initialen markieren die gesprochenen Teile: Segnungen, Gebete und Hymnen; und schließlich sind auch die Buchstaben des Alphabets im Absatz zum Kirchweihritus (fol. 83r) durch Filigrane gleichsam ikonisiert (192).

Dass ein ABCD, Beginn eines Buchstaben-Ordo, auch auf der von Méhu analysierten ersten Seite des Codex steht, ließe sich dem hinzufügen. Auf der mit Pseudoschriftzeichen verzierten Bordüre, die den ersten Ordo rahmt, bildet es in der linken oberen Ecke des Blattes sozusagen das Incipit des gesamten Buches und ist kaum zufällig unter Johannes' Adler platziert, der die ihrerseits auf Anfang und Ordo - Schöpfung und Weltordnung - verweisenden Eingangsworte des Evangeliums ins Gedächtnis ruft. Auch erinnert das Johannessymbol mit dem ABCD an den Gottesnamen, A und Ω, der Offenbarung. Geschrieben steht das ABCD in der Miniatur gewissermaßen "a sinistro angulo ab oriente", also dort wo zur Kirchweihe die Niederschrift des Alphabets begann. [2] Dies lässt den Raum des Pergamentblattes, das einen Initiationsritus zeigt, auf originäre Weise gleichsam zu einem geweihten werden. Dass die Bordüre insgesamt griechische bzw. hebräische (dem Maler wohl fremde) Schriftzeichen zu "evozieren" scheint, wie Méhu beobachtet (181), dürfte in diesem Kontext sinnstiftend sein, sah doch die Kirchweihe die Niederschrift des lateinischen und griechischen Alphabetes vor. Die Bordüre, die uns, wie Massimo Medica bemerkte, ganz ähnlich auch im Missale des Kardinals Bertrand de Deux begegnet (96), wurde hier also semantisch aufgeladen, und sie betont noch einmal den rituellen Kontext der Handschrift. Aufgeworfen sind damit Fragen zum Verhältnis von Codex und Raum [3], Buch-, Bild- und 'realem' Raum, die sich bei liturgischen Büchern in vielschichtiger Weise stellen und hier weiter zu vertiefen wären. Méhus Essay komplettiert zumal ein realienkundlicher Katalogteil, der unter anderem die im Pontifikale abgebildeten liturgischen Geräte zeigt.

Das letzte Kapitel ist der Universitätsstadt gewidmet. Carla Frova zeichnet den mit der Vertreibung der Lambertazzi (1279) einsetzenden politischen Wandel nach und gibt ein Bild der kurialen Macht in Bologna in der ersten Hälfte des Trecento, die die Lage der Universität veränderte: eine Zeit prominenter Lehrer, die mit Krisen verbunden, aber keine der Dekadenz gewesen sei. Patrick Arabeyre behandelt die der Lehre dienenden Rechtstexte, und Maria Alessandra Bilotta beleuchtet ein in der Forschung bisher wenig beachtetes Verhältnis: das zwischen Bologna und Avignon, an deren junger Universität nicht nur Bologneser Rechtshandschriften zirkulierten, sondern auch Bologneser Buchmaler tätig waren. Bilotta nennt auch - und hier öffnet sich ein neuer Themenkomplex - Bologneser Handschriften, die für Päpste und Kardinäle entstanden bzw. sich in deren Besitz befanden, wie das Missale Urbans V. oder die Bibel von Gerona, die 1423 im Inventar der Bibliothek Benedikts XIII. verzeichnet ist. Schon viel früher, nämlich um 1340/50 dürfte dabei die Bibel des Escorial in Avignon gewesen sein, zumindest scheint sie dort als Modell für den Maler eines meist nach Avignon lokalisierten Codex gedient zu haben. [4]

Auch wenn in diesem letzten Beitrag des Katalogs das Pontifikale von Autun an sich keine Rolle spielt, rundet dieser doch das Gesamtbild seines Entstehungskontextes und öffnet weitere Perspektiven auf das Bologneser Buchpanorama, das eben nicht nur eines der Rechtscodizes ist. Mit diesem doppelten Fokus ergänzt der Katalog insgesamt für das Trecento in gewisser Weise den von Massimo Medica zum Duecento. [5] Redaktionell hätte man sich mehr 'Ordnung' gewünscht. Abbildungswiederholungen hätten zugunsten der Reproduktion weiterer Miniaturen des Pontifikales vermieden werden können, Bildlegenden, die nur Signaturen liefern, sind wenig leserfreundlich, und mühsam gestalten sich auch uneinheitliche, teils fehlende Verweise auf Folionummern und Abbildungen. Dies sind aber Quisquilien, die den Verdienst der Publikation nicht schmälern.


Anmerkungen:

[1] Alessandro Conti: La miniatura bolognese. Scuole e botteghe 1270 - 1340, Bologna 1981, 55-96.

[2] Klaus Schreiner: Abecedarium. Die Symbolik des Alphabets in der Liturgie der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Kirchweihe, in: "Das Haus Gottes, das seid ihr selbst". Mittelalterliches und barockes Kirchenverständnis im Spiegel der Kirchweihe, hgg. von Ralf M. W. Stammberger / Claudia Sticher, Berlin 2006, 143-187, hier 146.

[3] Siehe hierzu v. a. Stephan Müller / Lieselotte E. Saurma-Jeltsch / Peter Strohschneider (Hgg.): Codex und Raum, Wiesbaden 2009.

[4] Siehe Annette Hoffmann: La Bibbia bolognese dell'Escorial e il Liber Regulae Hospitalis Sancti Spiritus. Ipotesi su un incontro, in: Arte a Bologna, 2007 (2008), 11-18; demnächst auch Gisela Drossbach / Gerhard Wolf (Hgg.): Caritas im Schatten von Sankt Peter. Der Liber Regulae des Hospitals Santo Spirito in Sassia, Regensburg 2014.

[5] Massimo Medica (a cura di): Duecento. Forme e colori del Medioevo a Bologna, Venedig 2000.

Annette Hoffmann