Bernard Chédozeau: Le Nouveau Testament autour de Port-Royal. Traductions, commentaires et études (1697- fin du XVIIIe siècle) (= Lumière Classique; No. 95), Paris: Editions Honoré Champion 2012, 337 S., ISBN 978-2-7453-2406-1, EUR 71,75
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Der derzeit wohl beste Kenner des biblischen Universums, das sich um die Sonne von Port-Royal drehte, dem französischen "jansenistischen" Zentrum von frommen und gelehrten Frauen und Männern im 17. und 18. Jahrhundert, bringt nun in verschiedener Weise die Ernte seiner jahrzehntelangen Forschung auf diesem Gebiet ein. Schon 1990 hatte Chédozeau dies mit dem grundlegenden Werk La Bible et la liturgie en français (Paris: Cerf) begonnen; in der Zwischenzeit führte er es in zahlreichen Überblicksdarstellungen und Einzeluntersuchungen fort. Mittlerweile erschien von ihm nicht nur Port-Royal et la Bible. Un siècle d'or de la Bible en France (1650-1708) (Paris: Nolin 2007) sowie der vor allem an edierten Texten reiche Band L'Univers biblique catholique au siècle de Louis XIV. Les préfaces de la Bible de Port-Royal (Paris: Honoré Champion 2013), sondern - im selben verdienstvollen Verlagshaus - auch das hier anzuzeigende Buch.
Die Sonne des Systems wird hierin nun nicht, wie in den meisten anderen genannten Werken, unmittelbar ins Auge gefasst. Vielmehr ist das Wort autour im Titel durchaus wörtlich zu nehmen. Es geht um Bibelübersetzungen und Schriftkommentare im Umfeld von Port-Royal und seiner nicht zuletzt auch literarisch und sprachgeschichtlich überaus einflussreichen Bibelübersetzung unter der Leitung des gelehrten "Jansenisten" Louis-Isaac Le Maître de Sacy, die in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts das Licht der Welt erblickte. Von ihr inspiriert, sie kopierend oder auch von ihr angestoßen und sie korrigierend oder kritisierend, entstand eine erstaunliche Fülle von katholischen Übersetzungen und Auslegungen der Heiligen Schrift in französischer Sprache. Diese teils die gesamte Bibel, teils auch nur die Evangelien oder die Psalmen oder überhaupt nur die regelmäßig liturgisch genutzten Bibeltexte präsentierenden oder kommentierenden Publikationen erlebten seit Ende des 17. und bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts eine erhebliche Konjunktur. Dabei waren die hinter diesen stehenden bibelhermeneutischen, spirituellen und kirchenpolitischen Intentionen ebenso zahlreich wie unterschiedlich. Vor allem um die Jahrhundertwende ballten sich geradezu die einschlägigen Veröffentlichungen. So ging es etwa der von Mitgliedern des Jesuitenordens ins Werk gesetzten Übertragung des Neuen Testaments, die erstmals 1697 und in zweiter Auflage 1703 erschien und die von diversen exegetischen Untersuchungen des gleichermaßen gelehrten wie kämpferischen Jesuitentheologen Jean Hardouin flankiert wurde, um die eindeutige, wenigstens scheinbar an den Vorgaben des Konzils von Trient orientierte Präferenz für die Vulgata als Ausgangstext; konkurrierende Unternehmungen derselben Zeit bestritten dies zwar nicht, legten aber teilweise Übersetzungen vor, die nicht unerheblich auf Rückgriffen auf den hebräischen oder griechischen Text beruhten, und scheuten auch nicht so manche Diskrepanz zu dem in Liturgie und Theologie als Standard geltenden Vulgatatext. Der wohl bedeutendste Erforscher der Bibel dieser Epoche etwa, Richard Simon, gab zwar im Titel seiner Übersetzung des Neuen Testaments von 1702 zu Protokoll, sie sei auf der Grundlage der "alten lateinischen Ausgabe" vorgenommen worden; dies hinderte ihn allerdings nicht, wie schon der Untertitel zu erkennen gibt, an bedeutsamen "schwierigen" Stellen seine auch sonst berüchtigten "Bemerkungen" hinzuzufügen. Hierbei steht er nicht an, auch auf die Differenzen zwischen griechischem Urtext und überliefertem Vulgatatext zu verweisen. Wieder andere Übersetzungen gehen noch einen Schritt weiter und bringen gleich die textes originaux ins Französische, so etwa der Port-Royal nahestehende Nicolas LeGros in seiner Ausgabe des Neuen Testaments von 1739, die Mitte der fünfziger Jahre des 18. Jahrhunderts in einer posthumen weiteren Auflage erschien.
Die Kommentierung der Heiligen Schrift folgt in diesem "goldenen Zeitalter" der Bibelrezeption in Frankreich ebenfalls höchst unterschiedlichen Voraus- wie Zielsetzungen. Sehen es die einen als ihre einzige Aufgabe an, lediglich den sogenannten Literalsinn der Bibel für große Kreise von Predigern wie gebildeten Laien zu erschließen, so etwa der ebenso viel gelesene wie geschmähte (beides etwa von Voltaire) lothringische Benediktiner Augustin Calmet, so betrachten andere es als ihr erklärtes Ziel, die geistliche Schriftlektüre der "einfachen Gläubigen" anzuregen und zu begleiten, etwa im Nachgang oder auch in Konkurrenz zu den berühmt-berüchtigten réflexions morales, die der "Jansenist" und Oratorianer Pasquier Quesnel zu jedem Vers des Neuen Testaments verfasst und so einen der Best- und Longseller seiner Zeit produziert hatte; dies brachte ihm in Gestalt der Bulle Papst Klemens XI. Unigenitus von 1713 eine hochrangige römische Verurteilung ein, was dem Erfolg seines Werkes naturgemäß keinen Abbruch tat, jedoch zu einer der tiefsten Krisen im französischen Katholizismus der Neuzeit führte.
In diese schwer überschaubare, aber eben auch äußerst reiche Welt der Beschäftigung mit der Bibel im Frankreich seines ausgehenden "goldenen Zeitalters" bis hinein in das Vorfeld der Revolution schlägt der kundige Autor zahlreiche Schneisen und bietet dem Leser so etwas wie Landkarten zu einer eigenen Rundfahrt an. Dies führt in einem ersten Kapitel primär zu den Übersetzungen, in einem zweiten zu den Kommentaren und in einem dritten, études genannt, zu einer Reihe von - teils bereits anderwärts, meist aber an entlegenem Ort veröffentlichten - Einzeluntersuchungen, die die Auslegung spezieller biblischer Bücher oder Verse (z.B. Spr 31, 10-31; Mt 13, 24-43; Röm 13 u.v.a.) in den Blick nehmen, aber auch grundsätzliche Erwägungen enthalten zur Bibelhermeneutik (etwa zu dem von "jansenistischen" Autoren so geschätzten figurisme), zum Verhältnis zu lehramtlichen Vorgaben im nachtridentinischen Katholizismus oder zu Einflüssen von außen (etwa spanischer Provenienz). Gelegentlich zieht Verfasser sogar die Linie aus bis zu den exegetischen oder liturgischen Strömungen und Reformen in der nachkonziliaren katholischen Theologie und Kirche der vergangenen Jahrzehnte.
All diese überaus gelehrten wie orientierenden Beiträge hätten gerade auch für den Leser, der nicht schon enger mit dieser Epoche und ihren Auseinandersetzungen vertraut ist, durch ein größeres Maß an inhaltlicher Straffung und textlicher Übersichtlichkeit noch gewinnen können. Immerhin bietet der Band zum Schluss eine tabellarische Chronologie der behandelten Werke, eine - allerdings sehr knappe - Auswahlbibliographie sowie ein Sach- und ein Personenregister.
Dem Werk (wie auch den anderen dieses Autors) ist eine Aufmerksamkeit auch außerhalb der Grenzen des französischen Sprachraums nachdrücklich zu wünschen, ebenso wie noch zahlreiche Nachfolgebeiträge aus der Feder dieses Kenners.
Leonhard Hell