Dominik Fugger (Hg.): Verkehrte Welten? Forschungen zum Motiv der rituellen Inversion (= Historische Zeitschrift. Beihefte. Neue Folge; Beiheft 60), München: Oldenbourg 2013, 339 S., ISBN 978-3-486-70483-9, EUR 69,95
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Johannes Grabmayer: Europa im späten Mittelalter 1250-1500. Eine Kultur- und Mentalitätsgeschichte, Darmstadt: Primus Verlag 2004
Sarah Neumann: Der gerichtliche Zweikampf: Gottesurteil - Wettstreit - Ehrensache, Ostfildern: Thorbecke 2010
Gabriela Signori: Das 13. Jahrhundert. Einführung in die Geschichte des spätmittelalterlichen Europas, Stuttgart: W. Kohlhammer 2007
Der Band will das Analysekonzept der "Verkehrten Welt" überprüfen, das in der Ritualforschung seit langem diskutiert wird. Entwickelt wurde der Begriff von dem schottischen Ethnologen James Frazer ('period of licence') als ein Prinzip der rituellen Vertreibung des Bösen am Beispiel der römischen Saturnalien; nach Michail Bachtin kam karnevalesken Festen eine Ventilfunktion zu, die stabilisierend auf Gesellschaften wirken konnte; Victor Turner betonte die Liminalität von Inversionsritualen, die das Bestehende gerade durch die zeitweilige Verkehrung legitimiere; Dietz-Rüdiger Moser wollte sich von Bachtin abheben und betonte den Ursprung der Fastnacht in patristischer Theologie, wo sich die göttliche und teuflische Welt in Dichotomie gegenüberstünden. Den Artikeln des hier anzuzeigenden Sammelbandes gelingt an einigen Stellen überzeugende Kritik und Neubewertung früherer Annahmen, an anderen wird auch Neuland betreten.
Die Beiträge gehen zum größten Teil auf eine Erfurter Tagung der Nachwuchsforschergruppe "Religiöse Rituale in historischer Perspektive" von Anfang 2010 zurück. Nach Vorwort und theoretischer Einführung des Herausgebers behandeln zwei Untersuchungen die Griechische und Römische Antike, vier das Mittelalter und fünf die Frühe Neuzeit. Die meisten Arbeiten stammen von Historikern, drei von Religionswissenschaftlern, je eine von einer Judaistin und einem Altgermanisten. Das Untersuchungsfeld ist auf Europa beschränkt, genauer auf Deutschland, Frankreich und England sowie die antike griechische und römische Welt.
Der niederländische Althistoriker Hendrik Versnel geht dem Ursprung, der Funktion und Bedeutung der Saturnalien nach, die generalisierend immer wieder als Vorläufer von Verkehrungsritualen, insbesondere des Faschings, betrachtet werden. Er sieht die Ursprünge des Festes in einer "gesetzlose(n) Aussetzung des normalen Jahresablaufs" (86) anlässlich des Hervorholens von eingelagertem Getreide. Er erkennt "eine Atmosphäre absoluter Ambivalenz", wo Verzweiflung angesichts der Katastrophe gestörter Ordnung neben Begeisterung angesichts der Befreiung aus dieser Ordnung stehe. Die "intrinsischen Widersprüche des saturnalischen Komplexes aus Mythos und Ritual" könnten nur richtig verstanden werden, wenn neben die funktionalistische Interpretation "mit Sicherheitsventileffekt und Bestätigung des Status quo" auch "die kosmisch-religiöse Herangehensweise" trete mit einem Bezug auf eine daraus resultierende " 'tiefgreifende Legitimität' " (93).
Der Ordensforscher Jörg Sonntag untersucht die Gründonnerstagsfußwaschung, die "als institutionelles Phänomen [...] ihren Ursprung in der mittelalterlichen vita religiosa" habe, was bislang nicht ausreichend beachtet worden sei (104). In zwei Tabellen werden die Gewohnheiten von einem Dutzend religiöser Gemeinschaften (10.-13. Jh.) auf die Waschungen hin durchgemustert (114, 120). Inversion ist für Sonntag keine " 'Umkehrung', also komplette Spiegelung einer Ordnung" sondern lediglich eine " 'Verkehrung', die [...] als irgendwie falsch wahrgenommen werden kann" (105). Auch hier stellt sich das Phänomen bei genauerer Betrachtung als ambivalent dar. Denn wenn der Abt den Mönchen die Füße wäscht, "verkehrte er zwar die immanente Ordnung deutlich sichtbar, verblieb aber rituell doch in der transzendenten, von Christus dominierten Ordnung", weil er ja die Rolle des Erlösers einnahm, wie dieser es selbst vorgegeben habe (116). Umgekehrt habe man sich bei der Waschung der Armen rituell eigentlich nicht erniedrigt, denn in den Ärmsten erkannte man "Christus, und der war alles andere als rangniedrig" (121).
Die Mittelalterhistorikerin Tanja Skambraks gewinnt anhand englischer Überlieferung vom 14.-16. Jh. der Rolle des Kinderbischofs neue Facetten ab, indem sie seiner "Assoziation mit dem Jesusknaben" nachgeht, einer "bisher vernachlässigten Bedeutungsdimension" (155). Auch hier zeigt sich, dass eine eindimensionale Deutung des Rituals am Fest der Unschuldigen Kinder als Inversion und die Gleichsetzung der Figur mit burlesken Narrenbischöfen ein angemessenes Verständnis verstellt und die breite Akzeptanz von kirchlicher Seite nicht befriedigend erklären kann.
Anhand spätmittelalterlicher französischer und deutscher Praktiken (Bohnenkönig, Roi de l'Épinette, Reinages, Wachskönig Essen, Jugendabteien) prüft der Mediävist Torsten Hiltmann "inwieweit sich spätmittelalterliche Festkönige und ihre 'Reiche' und insbesondere die [...] Narrenkönige des Karnevals tatsächlich als Institutionen [...] der Verkehrung beschreiben lassen" (171). Er erkennt in seinen Beispielen allerdings nicht "Repräsentanten einer gottesfernen 'verkehrten Welt' ", vielmehr seien sie ordnungsstützend gewesen - im Vordergrund der Feste und Bräuche habe "vor allem deren gemeinschaftsstiftende Funktion" gestanden (188).
Die Judaistin Julia Carls nimmt an frühneuzeitlichen Beispielen eine Relektüre des jüdischen Purimfestes vor, das wegen seiner "zutage tretenden Rituale der Entgrenzung [...] auf den ersten Blick als idealtypische(r) Vertreter einer die Gesellschaftsstrukturen temporär verkehrenden Gattung erscheinen" könne und deswegen häufig in die Nähe von christlichen Karnevalsritualen gerückt würde (280). Demgegenüber wird hier in Purim eine Motivgruppe gesehen, "die erinnernde und verkehrende Momente miteinander verband und Raum für Theatralität und Traumaverarbeitung bot", also der hybride Charakter des Festes betont, "der es dem Purimnarrativ gestattete, nicht nur als Katalysator zu wirken, sondern tatsächlich zu einem bedeutsamen Stabilisator des Judentums zu werden" (302).
Es können hier nicht alle Beiträge des Bandes besprochen werden, der aber anschaulich zeigt, dass mit großen Namen verbundene Theorieansätze, die ihre Thesen weiten Abstraktionen verdanken, zwar anregend sein können, nicht aber immer dem genauen Blick auf die Quellen standhalten. Es zeigt sich, dass gerade die komplexen Inversionsrituale nur in ihrer spezifischen historischen und kulturellen Gebundenheit richtig verstanden werden können.
Uwe Israel