Rezension über:

Heiko Feldner / Claire Gorrara / Kevin Passmore (eds.): The Lost Decade? The 1950s in European History, Politics, Society and Culture, Newcastle upon Tyne: Cambridge Scholars Publishing 2011, X + 262 S., ISBN 978-1-4438-2583-2, USD 59,99
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Rezension von:
Holger Löttel
Stiftung Bundeskanzler-Adenauer-Haus, Rhöndorf
Redaktionelle Betreuung:
Empfohlene Zitierweise:
Holger Löttel: Rezension von: Heiko Feldner / Claire Gorrara / Kevin Passmore (eds.): The Lost Decade? The 1950s in European History, Politics, Society and Culture, Newcastle upon Tyne: Cambridge Scholars Publishing 2011, in: sehepunkte 14 (2014), Nr. 3 [15.03.2014], URL: https://www.sehepunkte.de
/2014/03/22642.html


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Heiko Feldner / Claire Gorrara / Kevin Passmore (eds.): The Lost Decade?

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Bei der Betrachtung dieses Buches fällt zunächst die suggestive Einbandgestaltung ins Auge. Zu sehen ist die vergilbte Fotografie eines Jungen mit Strickjacke und in kurzen Hosen, auf einer Mundharmonika spielend. Es scheint das Motiv einer Kindheit in der frühen Nachkriegszeit - verblasst, entrückt und zusehends vergessen. Somit mag es auch als Sinnbild für die 1950er Jahre, das "verlorene Jahrzehnt" aus der Überschrift des Sammelbandes, zu deuten sein.

Vermutlich haben die Herausgeber die "lost decade" im Titel deshalb mit einem Fragezeichen versehen, um anzuzeigen, dass sie die 50er Jahre keineswegs für historisch verloren halten. Verlorengegangen, so der Befund, seien sie in erster Linie der Geschichtsschreibung. Fixiert auf Spannungen und Umbrüche, hätten die Historiker ihr Augenmerk auf die kriegerischen 40er und die unruhigen 60er Jahre gerichtet, das "unbequem dazwischen liegende" (1) Jahrzehnt jedoch eher missachtet oder gar ignoriert, zumindest nicht als Ganzes erfasst. Diese Beobachtung verbindet Richard Vinen in seinem lesenswerten historiographiegeschichtlichen Beitrag mit einer generationenspezifischen These (10-28). Demnach sei das Bild der 50er Jahre maßgeblich von Wissenschaftlern der 1940er Jahrgänge geprägt worden, die sich stark über ihre akademische Sozialisation in den 60ern definiert und die Zeit ihrer Kindheit und Jugend als "safe but dull and featureless landscape" (18) betrachtet hätten. Hieraus erklärt sich auch das öffentliche "Imageproblem" der 50er als muffige Epoche langweiliger Konformität, das sich nicht zuletzt in Deutschland bis heute hartnäckig gehalten hat.

Wiederentdeckt werden sollen die 50er Jahre aus einer europäischen Perspektive, die sich bei genauerer Betrachtung allerdings auf Großbritannien, Frankreich und die beiden deutschen Staaten beschränkt. Für diese Neuvermessung des Jahrzehnts haben die Herausgeber die Felder "Historiographie", "Politik und Gesellschaft" sowie vor allem "Kultur" abgesteckt. Tatsächlich bedienen sich auch die unter "Politics and Society" geführten Beiträge einer kultur- und ideengeschichtlichen Methodik, zeichnen intellektuelle Diskurse sowohl im transnationalen Austausch als auch in der nationalen Binnenperspektive nach.

Bei aller Künstlichkeit des Dekadenbegriffs als Analysekategorie, die von den Herausgebern auch eingeräumt wird (2), stellt sich doch die Frage, wie sich die 50er Jahre in Europa als Untersuchungsgegenstand konstituieren, ob sie also eine Art europäische Epochensignatur aufweisen. Trotz der Zweifel Richard Vinens, der die Zäsur von 1945 relativiert und sogar den Begriff "postwar" als solches problematisiert (23), kommt man kaum umhin, die Erfahrung des Zweiten Weltkrieges als einen solchen Fluchtpunkt des Jahrzehnts zu begreifen, auch wenn sich die diesbezüglichen Diskurse in den einzelnen Ländern naturgemäß unterschiedlich ausnahmen. Für Frankreich zeichnet Rod Kedward die Konflikte zwischen der gaullistischen und kommunistischen Lesart der Resistance nach (68-84). In Bezug auf die deutsch-deutschen Vergangenheitsdiskurse untersucht Helmut Peitsch den Bedeutungswandel des Begriffs "Vergangenheitsbewältigung", unter anderem in der Literaturkritik, wo er zunächst die Forderung nach einer möglichst engen Verbindung zwischen Gegenwart und Geschichte bezeichnet habe. Erst durch den Eingang in die politische Debatte ab Ende der 50er Jahre sei er mit einem negativen Kontinuitätsverständnis belegt und als Aufruf zur radikalen Abkehr von einer als problematisch empfundenen Machtstaatstradition verstanden worden (134-150). Diktatur und Krieg sind auch der Ausgangspunkt des Beitrages von Francis Graham-Dixon über die humanistischen Ideale in der deutschen Malerei nach 1945. [1] Während man sich im Westen am kulturellen Erbe des "christlichen Humanismus" orientierte, wurde im Osten das Konzept eines "proletarischen Humanismus" propagiert, der die "Einheit von Kunst und Volk" zu betonen hatte. Was die Künstler über die Gräben dieser kulturellen Spaltung hinweg vereinte, war die Suche nach ursprünglichen, von der NS-Ideologie unkorrumpierten Ausdrucksformen (166-188).

Sodann waren die 50er Jahre die Hochphase des Kalten Krieges, der kulturellen "Amerikanisierung" und des politischen Antikommunismus. Auch diese Aspekte werden in einigen der Beiträge berührt. So betrachtet Nancy Jachec die Versuche europäischer Intellektuellenorganisationen, die Gegensätze zwischen den Blöcken durch eine grenzüberschreitende "politics of culture" zu überwinden (84-100). Hillary Footit wirft einen faszinierenden Blick auf die Russischkurse in den britischen Streitkräften, die im Rahmen einer "Cold War language learning policy" (103) zur Vorbereitung auf den Kriegsfall dienten - ungeachtet der Tatsache, dass die aus Exilrussen und Osteuropäern bestehenden Lehrkräfte ein Russlandbild vermittelten, das mit der zeitgenössischen UdSSR wenig zu tun hatte (101-117). Christian Haase schließlich widmet sich den auf Europa bezogenen Vorstellungswelten des Journalisten Ernst Friedländer, der sich in der frühen Bundesrepublik von einem Anhänger der hochkonservativen Abendland-Ideologie zum Verfechter eines liberaleren, atlantisch orientierten Europagedankens wandelte (118-132). Mit seiner biographischen "case study" bestätigt und ergänzt Haase die Ergebnisse der ideengeschichtlichen Forschungen auf diesem Feld. [2]

Der Sammelband illustriert den Facettenreichtum und die kulturelle Dynamik der 50er Jahre auf eindrucksvolle Weise. Dafür nimmt er aber auch die gattungstypische Heterogenität, ja Kleinteiligkeit in Kauf. So sind etwa die Beiträge Heiko Feldners über das Verhältnis zwischen "Parteilichkeit" und "Objektivität" in der DDR-Historiographie (40-68) und Matthias Zachs über deutsche und französische Shakespeare-Übersetzungen (184-201) durch wenig mehr verbunden als ihren gemeinsamen Zeithorizont. Desgleichen vermag man sich des Eindrucks nicht zu erwehren, dass die Dramatisierung der "lost decade" etwas zu effektheischend geraten ist - als ob es in den einzelnen Ländern bis vor kurzem keinerlei synthetisierende Forschungen zu den 50ern gegeben hätte. Der Wert des Bandes liegt vor allem in seiner methodisch innovativen Ausrichtung, die Impulse für eine europäische Kulturgeschichte der frühen Nachkriegszeit geben mag. Zudem erscheint es ebenso reizvoll wie geboten, diesen Jahren, auf die viele Errungenschaften und Probleme unserer Gegenwart zurückgehen, mit einem neuen, einem "zweiten" Blick zu begegnen. [3]


Anmerkungen:

[1] Im Hinblick auf die politischen Rahmenbedingungen ist dieser Beitrag allerdings nicht ganz treffsicher, wie der folgende Satz zeigt: "Prominent intellectuals in 1946 and 1947, such as Konrad Adenauer, promoted anti-socialism - not just in opposition to Communism but to the influence of 'christliche Sozialisten' within communist ideology" (173). Adenauer ist schon mit vielen Bezeichnungen versehen worden, sicher aber nicht mit der eines "prominenten Intellektuellen". Der Christliche Sozialismus war eine Strömung innerhalb der frühen CDU, kein Bestandteil kommunistischer Ideologie.

[2] Vgl. Axel Schildt: Zwischen Abendland und Amerika. Studien zur westdeutschen Ideenlandschaft der 50er Jahre, München 1999; Vanessa Conze: Das Europa der Deutschen. Europaideen in Deutschland zwischen Reichstradition und Westorientierung, München 2005, sie dazu auch: http://www.sehepunkte.de/2006/05/9242.html.

[3] Für die Geschichte der Bundesrepublik hat die bundesunmittelbare Stiftung Bundeskanzler-Adenauer-Haus ihre Tagungsreihe "Rhöndorfer Gespräche" in diesem Sinne neu ausgerichtet. Erschienen sind in den letzten Jahren Tilman Mayer (Hg.): Medienmacht und Öffentlichkeit in der Ära Adenauer, Bonn 2009; Eckart Conze (Hg.): Die Herausforderung des Globalen in der Ära Adenauer, Bonn 2010; Michael Hochgeschwender (Hg.): Epoche im Widerspruch. Ideelle und kulturelle Umbrüche der Adenauerzeit, Bonn 2011. In Vorbereitung befindet sich Günther Schulz / Hans Günter Hockerts (Hgg.): Der "Rheinische Kapitalismus" in der Ära Adenauer. Künftige Tagungen werden sich mit der Entwicklung der bundesdeutschen Koalitionsdemokratie von den 50ern bis in die Gegenwart sowie dem Wechsel politischer Ordnungen in Deutschland beschäftigen.

Holger Löttel