Christian Ritz: Schreibtischtäter vor Gericht. Das Verfahren vor dem Münchner Landgericht wegen Deportation der niederländischen Juden (1959-1967), Paderborn: Ferdinand Schöningh 2012, 257 S., ISBN 978-3-506-77418-7, EUR 34,90
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Die vorliegende Studie reiht sich ein in das große Feld der Ahndung von NS-Verbrechen durch (west-)deutsche Gerichte, die sich teils einzelnen Prozessen [1] oder Tatkomplexen [2], teils ganzen Zeitabschnitten [3] widmeten. Im Fokus steht hier wiederum ein einzelnes Gerichtsverfahren, in dem der frühere Befehlshaber der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes (BdS) Niederlande, Wilhelm Harster, wegen Beihilfe zum Mord zu 15 Jahren, der ehemalige Leiter des "Judenreferates IV B 4", Wilhelm Zoepf zu neun und die früher dort beschäftigte Sachbearbeiterin Gertrud Slottke vom Landgericht München II im Jahr 1967 zu fünf Jahren Haft verurteilt wurden. Die Auswahl begründet Ritz damit, dass es sich um ein Verfahren handelt, in dem erstmals Angehörige der mittleren bis höheren Funktionselite für ihre Beteiligung an der Ermordung europäischer Juden verurteilt wurden (254).
Das Schicksal der niederländischen Juden ist von besonderer Tragik. Während in Frankreich und Belgien der Anteil der deportierten Juden deutlich geringer war (75.000 von über 300.000 in Frankreich lebenden Juden bzw. 25.000 von etwa 65.000 in Belgien lebenden Juden), fielen in den Niederlanden etwa 73% der Juden den Deportationen zum Opfer (140.000 Juden, davon ca. 107.000 deportiert). Die Niederlande sind das westeuropäische Land mit der höchsten Mordrate unter seiner jüdischer Bevölkerung. Über die Gründe ist viel geschrieben worden: die größeren Fluchtmöglichkeiten der französischen Juden in das unbesetzte Frankreich, die bessere Integration belgischer Juden, die nach Ablegen des Sterns in die nichtjüdische Bevölkerung diffundieren konnten, die größere Obrigkeitstreue niederländischer Juden, die sich schon 1941 auf Anraten des Judenrates registrieren ließen, die stärkere Kollaborationsbereitschaft von Franzosen und Belgiern auf der einen Seite sowie der Widerstand der nichtjüdischen niederländischen Bevölkerung auf der anderen Seite, die die Besatzer zum brutalen Vorgehen "provozierte", die diversen Ausprägungen der zivilen oder militärverwalteten Besatzungsherrschaft. Und doch gibt es eine weitere simple und entsetzliche Erklärung für den gigantischen Blutzoll der aus den Niederlanden deportierten niederländischen (und deutschen) Juden: während die Deportationszüge aus Frankreich und Belgien überwiegend Auschwitz ansteuerten, fuhren von März bis Juli 1943 19 Züge aus Westerbork nach Sobibor, einem Lager im Distrikt Lublin, das bis dato vor allem der Ermordung polnischer Juden gedient hatte. Obwohl auch im Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau die meisten Menschen sofort vergast wurden und lediglich junge, gesunde und arbeitsfähige Menschen eine gewisse Überlebenschance hatten - von 60.026 aus den Niederlanden dorthin Verschleppten überlebten 1052 [4] - , gab es im Vernichtungslager Sobibor praktisch kein Entrinnen vor dem gewaltsamen Tod. Von den 34.313 aus den Niederlanden nach Sobibor Verschleppten überlebten 18 Menschen. Bei 14 der 19 Transporte, die stets zwischen 1000 und 3000 Menschen umfassten, überlebte kein einziger. Die Kardinalfrage ist daher, warum ausgerechnet so viele Deportierte aus den Niederlanden sämtlich nach Sobibor gebracht wurden. Leider sucht man im Harster-Prozess vergeblich nach einer Erklärung und auch Christian Ritz thematisiert diese Frage nicht weiter.
Der von Christian Ritz beschriebene Prozess war der westdeutsche Versuch, die noch greifbaren Verantwortlichen für den Holocaust an den niederländischen (und aus den Niederlanden verschleppten deutschen) Juden zur Verantwortung zu ziehen. Die Einleitung seiner Dissertation gibt einen knappen Überblick über die bisherige Forschung. Ein erstes Kapitel befasst sich mit der Deportation der niederländischen Juden, ein zweiter Abschnitt stellt die Biografien der drei Angeklagten in den Mittelpunkt, ein dritter Teil analysiert den niederländischen Prozess von 1949 gegen Wilhelm Harster, ein vierter Abschnitt dessen Nachkriegskarriere, das größte Kapitel schließlich den eigentlichen Prozess. Hauptquelle für die Arbeit ist der Prozess des Landgerichts München II, der 52 Bände umfasst. Hinzu kommen Unterlagen aus dem NIOD Institute for War, Holocaust and Genocide Studies und anderen Archiven.
Die Erkenntnisse der Täterforschung von Ulrich Herbert, Michael Wildt, Gerhard Paul, Klaus-Michael Mallmann u.a. werden auf Harsters und Zoepfs Biografien angewandt und ihr Werdegang detailliert beschrieben. Gertrud Slottke wird allerdings deutlich kürzer behandelt, die Täterinnenforschung ist sichtlich nicht rezipiert. Harster berief sich wie sein Vorgesetzter Hanns Albin Rauter, der Höhere SS- und Polizeiführer Niederlande, der 1948 in den Niederlanden zum Tod verurteilt wurde, darauf, dass er von dem Zweck der Deportationen nichts gewusst habe. Er habe sich nicht vorstellen können, dass angesichts der Not an Arbeitskräften Menschen über tausende von Kilometern durch Europa gefahren würden, um getötet zu werden. Im Münchner Prozess räumte er ein, erst Ende 1943 habe er von Kriminalrat und SS-Sturmbannführer Christian Wirth in Triest (bei Ritz irrig: Trient, 172) von der Vergasung von Juden im Distrikt Lublin gehört.
Dabei war es schon früher nicht so schwer, vom Schicksal der Verschleppten zumindest gerüchteweise zu erfahren. Anne Frank, wie bekannt im Versteck in der Prinsengracht in Amsterdam, schrieb am 9.10.1942 in ihr Tagebuch: "Unsere jüdischen Bekannten werden gleich gruppenweise festgenommen. Die Gestapo geht nicht im geringsten zart mit diesen Menschen um. Sie werden in Viehwagen nach Westerbork gebracht, dem großen Judenlager in Drente. [...] Es muß dort schrecklich sein. [...] Wenn es in Holland schon so schlimm ist, wie muß es dann erst in Polen sein. Wir nehmen an, daß die meisten Menschen ermordet werden. Der englische Sender spricht von Vergasungen, vielleicht ist das noch die schnellste Methode zu sterben." [5]
Artikel 131 des Grundgesetzes sorgte für die Wiedereinstellung Harsters, der 1955 aus niederländischer Haft entlassen wurde und sich - wiederum nicht unüblich für ehemalige SS-Angehörige - "Unbedenklichkeitsbescheinigungen" (91) ehemaliger "Kameraden" als Ehrenerklärungen besorgte; seiner Wiederverwendung beim bayerischen Innenministerium stand damit nichts mehr im Wege. Die Einbettung des Verfahrens in den zeithistorischen Kontext, die Auseinandersetzung mit rechtlichen Fragen (Gehilfenrechtsprechung, Einstufung des Tatvorgangs als "Tateinheit"), die Problematik der Rechtshilfeersuchen, die Zusammenarbeit der Staatsanwaltschaft mit dem NIOD (damals noch Rijksinstituut voor Oorlogsdocumentatie), die Verteidigungsstrategien der Angeklagten, die historischen Sachverständigengutachten, die Rolle des Nebenklägers Robert Kempner, der für die Schwester von Edith Stein als Nebenkläger fungierte, die Urteilsbegründung, die kurze Strafverbüßung (aufgrund der Anrechnung der in den Niederlanden verbrachten Haftzeit Harsters), die Reaktionen des Publikums und Kommentierung durch die Printmedien im In- und Ausland - all das wird solide aufbereitet und gut lesbar dargelegt. Hervorzuheben ist, dass es dem Autor gelang, Gespräche mit dem beteiligten Staatsanwalt Benedikt Huber zu führen (133). Leider reicht das nicht, um den etwas dünnen Gesamteindruck zu revidieren und die schlampige Literaturliste (Nichtberücksichtigung einschlägiger neuer Werke; Maximilian anstatt Robert Kempner, keine korrekte Titelaufnahme bei Michael Greves Dissertation, 242; "Christiana" anstatt Christina Ullrich, 245) zu kompensieren.
Christian Ritz will zwar neben der "vergangenheitspolitischen" justiziellen Seite die außenpolitischen wie innenpolitischen Implikationen untersuchen (13), doch geht er weiterführenden Fragestellungen - wie der Justizpolitik, die sich in den Akten des bayerischen Justizministeriums oder auch des Bundesjustizministeriums niederschlug, oder der Diskussion um den Stellenwert der niederländischen Prozesse (die anders als die alliierten Prozesse nicht vom Überleitungsvertrag betroffen waren) - konsequent aus dem Weg. Dass manchmal ein einzelner Prozess reicht, um ein ganzes Universum zu entfalten, ist bekannt. [6] Der Ulmer Einsatzgruppen-Prozess, der Eichmann-Prozess in Jerusalem, die Frankfurter Auschwitz-Prozesse sind zu Recht als epochale Ereignisse der Justizgeschichte eingestuft worden. Diese Einzigartigkeit, die Ritz u.a. im Geständnis Harsters (234) festmachen will, weist das Verfahren nicht auf: Harster konnte sich die "Reue" leisten, weil er als Jurist wusste (und jeder Strafverteidiger ihm mitgeteilt hätte), dass aufgrund seiner vorverbüßten (niederländischen) Haftstrafe und der bundesdeutschen Untersuchungshaft eine weitere im Münchner Prozess zu verhängende Haftstrafe von kurzer Dauer sein würde (er wurde 7 Monate nach der Urteilsverkündung prompt entlassen). Eine Einbettung in die weitere Prozesslandschaft dieser Jahre oder verwandte Verfahren [7] liegt nahe, erfolgt bei Ritz aber stets nur extrem kursorisch und ohne den Versuch eines weiterführenden Vergleichs. Das Aktenmaterial wird referiert, ein Prozess "nacherzählt", und es bleibt bei der Beschreibung und Analyse eines einzigen, sicherlich nicht unbedeutenden, aber eben nicht singulären Verfahrens.
Gerade bei der überschaubaren Zahl der Holocaustverfahren hinsichtlich der Niederlande hätte sich die Aufarbeitung des Komplexes angeboten. Die diversen deutschen Ermittlungsverfahren etwa gegen die bereits in den Niederlanden Verurteilten und in Breda einsitzenden früheren Angehörigen der Zentralstelle für jüdische Auswanderung, Wilhelm Lages und Ferdinand aus der Fünten, oder den 1951 aus der niederländischen Haft entlassenen Kommandanten des Durchgangslagers Westerbork, Albert Konrad Gemmeker - alle Akten bequem bei der Zentralen Stelle in Ludwigsburg einzusehen - werden nicht berücksichtigt. Hier scheinen die Verbindungen auch eher gegeben als bei dem zeitweise parallel stattfindenden, aber doch sehr anders gelagerten Prozess gegen Adolf Eichmann in Jerusalem.
Anmerkungen:
[1] Etwa Devin O. Pendas: Der Auschwitz-Prozess. Völkermord vor Gericht, München 2013.
[2] Etwa Bernhard Brunner: Der Frankreich-Komplex. Die nationalsozialistischen Verbrechen in Frankreich und die Justiz der Bundesrepublik Deutschland, Göttingen 2004.
[3] Zu den 1950er Jahren: Norbert Frei: Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik Deutschland und die NS-Vergangenheit, München 1996 sowie Andreas Eichmüller: Keine Generalamnestie. Die Strafverfolgung von NS-Verbrechen in der frühen Bundesrepublik, München 2012; zu den 1960er Jahren: Michael Greve: Der justitielle und rechtspolitische Umgang mit den NS-Gewaltverbrechen in den sechziger Jahren, Frankfurt am Main 2001; Marc von Miquel: Ahnden oder amnestieren? Westdeutsche Justiz und Vergangenheitspolitik in den sechziger Jahren, Göttingen 2004.
[4] Vgl. Eberhard Jäckel / Peter Longerich / Julius H. Schoeps (Hgg.): Enzyklopädie des Holocaust. Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden, Bd. 2, Berlin 1993, 1008.
[5] Anne Frank: Tagebuch, Frankfurt am Main 2009, 64.
[6] Vgl. Christopher Browning: Ganz normale Männer. Das Reserve-Polizeibataillon 101 und die "Endlösung" in Polen, 5. Auflage, Reinbek bei Hamburg 2009.
[7] Frankfurt am Main 4 Js 586/56 = 4 Ks 1/62 gegen Hermann Krumey und Otto Hunsche (Deportation der Juden aus Ungarn nach Auschwitz); Flensburg 2 Js 19/67 = 2 Ks 1/75 gegen Kurt Asche (Deportation der Juden aus Belgien nach Auschwitz); Köln 130 Js 4/78 (Z) = 59-44/78 gegen Kurt Lischka, Herbert Hagen und Ernst Heinrichsohn (Deportation der Juden aus Frankreich nach Auschwitz); München II 10a Js 39/60 = 1 Ks 1/64 gegen Karl Wolff (Deportation der Juden aus dem Warschauer Ghetto in das Vernichtungslager Treblinka).
Edith Raim