Viktor Krieger: Bundesbürger russlanddeutscher Herkunft. Historische Schlüsselerfahrungen und kollektives Gedächtnis (= Geschichte, Kultur und Lebensweisen der Russlanddeutschen; Bd. 1), Münster / Hamburg / Berlin / London: LIT 2013, IV + 264 S., 62 Abb., ISBN 978-3-643-12073-1, EUR 29,90
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Felix Schneider: Oberösterreicher in sowjetischer Kriegsgefangenschaft 1941 bis 1956, Graz: Verein zur Förderung der Forschung von Folgen nach Konflikten und Kriegen 2004
Am 28. August 1941 ließ Stalin durch Dekret des Präsidiums des Obersten Sowjets die Autonome Sozialistische Sowjetrepublik der Wolgadeutschen auflösen. Über 360.000 Menschen wurden deportiert, die überwiegende Mehrheit davon nach Sibirien. Daneben wurden sowjetische Staatsbürger deutscher Nationalität aus weiteren Gebieten Russlands, der Ukraine und des Kaukasus nach Zentralasien und Sibirien verfrachtet: Gemäß der unvollständigen Statistiken insgesamt 794.000 Personen (30). Diese Massenverfolgung war nicht die einzige sowjetische Gewaltmaßnahme gegen die deutsche Minderheit. Krieger geht mit eher konservativen Schätzungen davon aus, dass von 1918 bis 1948 unter den Deutschen in der Sowjetunion mindestens 480.000 Menschen vorzeitig ums Leben kamen. Sie fielen Kämpfen und Pogromen der Bürgerkriegsjahre, danach den Hungersnöten von Anfang der 1920er und 1930er Jahre, dem Großen Terror, den Deportationen vor und im Zweiten Weltkrieg sowie der Zwangsarbeit in der sogenannten "Arbeitsarmee" zum Opfer (3). Die genannten Ereignisse trafen unterschiedliche Gruppen der Russlanddeutschen in verschiedenem Ausmaß. Von einzelnen Verfolgungswellen gerade ab der zweiten Hälfte der 1930er Jahre wurde die deutsche Minderheit in der UdSSR überproportional hart getroffen. Die Zwangsmaßnahmen selbst wurden jedoch in aller Regel nicht exklusiv gegen Volksdeutsche verhängt. Diese Beobachtungen verweisen darauf, dass sich die Geschichte der Russlanddeutschen ohne Einbettung in die Gesamtgeschichte des Stalinismus sowie ohne Anbindung an die prekäre internationale Entwicklung nach 1917 nicht angemessen beschreiben lässt.
Der Autor hat in seinem Buch bereits an anderen Orten erschienene eigene Publikationen vor allem aus den Jahren 2006 bis 2011 durchgesehen und, mit zahlreichen Illustrationen aufbereitet, zusammengeführt. Aufgrund des Sammlungscharakters kommt es in dem Band mitunter zu Wiederholungen. Auch bei der Übernahme von Lehrmaterialien oder im Glossar wären Kürzungen möglich gewesen (80-97, 244-252). Die Aufsätze decken in unterschiedlicher Dichte vornehmlich die Jahre seit 1917 ab, liefern jedoch auch ausreichende Grundinformationen über die Zarenzeit. Der große Vorteil des Buchs liegt in dem multidimensionalen Zugriff auf die Geschichte der Russlanddeutschen. Über biographische Skizzen werden beispielsweise frühe politische Verfolgungen und Lebens- und Arbeitsbedingungen in der Zwangsarbeit fassbar. Detailstudien über Arbeitslager wie Čeljabmetallurgstroj liefern Einblicke die stalinistische Wirtschaftspolitik, Darstellungen widerständigen Verhaltens seit 1917 tragen zur Diskussion um Formen und Möglichkeiten individuellen oder kollektiven Protests in der UdSSR bei. Besonders aufschlussreich sind zudem Informationen über die schleppende und unvollständige Rehabilitierungspolitik nach Stalin bzw. nach dem Ende der UdSSR sowie über kollektive Erfahrungen der Russlanddeutschen auch in der neuen Heimat Bundesrepublik. In der postsowjetischen Demokratie punktete etwa Boris El'cin mit anti-deutschen Ressentiments. Dagegen nahm - und nimmt - die deutsche Gesellschaft zugezogene Russlanddeutsche offenbar vornehmlich als Fremde oder "Russen" wahr, und die deutsche Politik hat seit den späten 1990er Jahren die Zuwanderung zunehmend erschwert (218-220, 228-230).
Der Verfasser hat 2011 aus Anlass des 70. Jahrestags des sowjetischen Regierungsbeschlusses zur Deportation der Wolgadeutschen eine Denkschrift über die historischen Hintergründe und die aktuelle Lage der deutschen Minderheit verfasst und in einem Gedenkbuch publiziert. Sie ist in leicht abgeänderter Form in diesem Band wieder aufgenommen worden (189-233). [1] In der Denkschrift plädiert Krieger unter anderem dafür, dass man in der Bundesrepublik "würdig und angemessen" an "die Verbrechen erinnert, zu deren Opfern die Deutschen in der Sowjetunion" wurden (189). Mit Blick auf die russische Vergangenheitsaufarbeitung fordert die Denkschrift die endgültige Gleichberechtigung der russlanddeutschen Volksgruppe mit anderen Nationalitäten in Russland (233). Die Denkschrift ist beileibe keine Kampfschrift. Der Spannung zwischen einer historisch-kritischen Aufarbeitung der Geschichte der Russlanddeutschen in der UdSSR und dem Anliegen des Autors, der eigenen Gruppe zu einer Form von historischer Gerechtigkeit zu verhelfen, kann sich die Darstellung nicht immer entziehen. Die von Krieger vorgestellten Basisnarrative, die die kollektive Identität der Russlanddeutschen herstellen: Dienst- und Arbeitsethos, Leidens- und Opfererfahrungen, Freiheitsdrang und Widerstand -, werden in den Ausführungen mitunter wenig reflektiert (1). Dabei wird in anderen Passagen deutlich, dass sich etwa das Dienstethos auch als problematisches Instrument obrigkeitsstaatlicher Systemstärkung deuten ließe und in einem gewissen Widerspruch zum postulierten kollektiven Freiheitsdrang stehen konnte (2, 99, 108 f.). Umgekehrt erscheint es problematisch, das Vorgehen der sowjetischen Führung gegen die deutsche Minderheit seit den 1930er Jahren betont als Instrument der Herrschaftsstabilisierung zu beschreiben und damit vom internationalen Kontext der Epoche zu weit zu isolieren (152-159). Es ist schließlich keineswegs ausgemacht, ob sich ein Chruščev, der mehrfach bewiesen hatte, dass er gegen Opposition brachial vorzugehen wusste, 1964 durch "unüberhörbare Proteste der deutschen Aktivisten" zur partiellen Rehabilitierung der deutschen Minderheit drängen ließ (130). Die Gegenthese, wonach der Parteichef bei dieser Maßnahme auf den geplanten Besuch in der Bundesrepublik schielte, wird in der Darstellung nicht widerlegt.
Zugleich trägt der skizzierte Spannungsbogen allerdings zu einer produktiven Lektüre bei. Die Aufsätze machen deutlich, dass die Aufarbeitung der Geschichte der Russlanddeutschen im 20. Jahrhundert ein multinationales, ein transnationales Projekt ist, in dem unterschiedliche nationale, staatliche und gesellschaftliche Vergangenheiten, Selbst- und Fremdbilder verhandelt werden.
Anmerkung:
[1] Erstveröffentlichung in: Landsmannschaft der Deutschen aus Russland (Hg.): Keiner ist vergessen. Gedenkbuch zum 70. Jahrestag der Deportation der Deutschen in der Sowjetunion, Stuttgart 2011, 24-45.
Andreas Hilger