Mario Baier (Hg.): Neun Leben des Homer. Eine Übersetzung und Erläuterung der antiken Biographien (= Altsprachliche Forschungsergebnisse; Bd. 9), Hamburg: Verlag Dr. Kovač 2013, 232 S., ISBN 978-3-8300-7150-1, EUR 75,80
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Antike Dichterviten erfreuen sich schon seit geraumer Zeit eines verstärkten Interesses der Forschung. Zu verweisen ist zunächst auf Mary Lefkowitzs wegweisende Monographie von 1981. [1] Speziell die Homerviten wurden 2002 von Barbara Graziosi behandelt [2] und 2003 von Martin West für die Loeb Classical Library ins Englische übersetzt. [3] Mario Baier hat nun eine kommentierte Übersetzung aller Homerbiographien ins Deutsche vorgelegt. [4] Die ebenfalls 2013 erschienene textkritische Neuedition und Übersetzung der umfänglichsten, unter dem Namen Herodots überlieferten Vita von Maria Vasiloudi konnte von Baier nicht mehr berücksichtigt werden. [5]
Die Herstellung von Übersetzungen und Kommentaren ist ein oft undankbares, für Forschung und Lehre jedoch extrem nützliches Unterfangen. Insofern ist das Erscheinen von Baiers Buch fraglos zu begrüßen. Schon ein erster Blick zeigt freilich, dass der Band die geweckten Erwartungen nur teilweise befriedigt. Baier hat sich nämlich entschieden, keinen zusammenhängenden Lesetext zu bieten, sondern an die Übersetzung einzelner Paragraphen unmittelbar den Kommentar anzuschließen. Das mag die Benutzung des Kommentars erleichtern, eine zusammenhängende Lektüre des Textes wird dadurch jedoch praktisch unmöglich. Das ist umso bedauerlicher, weil der Kommentar vermutlich ohnehin eher von einem Publikum benutzt werden wird, das mit den Texten entweder bereits vertraut ist oder parallel eine griechische Textausgabe zur Hand hat. Insofern wäre die klassische Gliederung in Übersetzung- und Kommentarteil wohl doch die sinnvollere gewesen.
Den kommentierten Viten (Vita Herodotea, Vitae Pseudoplutarcheae, Proklos, Vitae Scorialenses, Vita Romana, Suda, Certamen Homeri et Hesiodi) geht eine knappe Einführung (7-21) voraus. Baier folgt dem wesentlich durch Lefkowitz geprägten Stand der neueren Forschung, wenn er die Frage nach dem Quellenwert und die Suche nach einem "realen" Homer hinter der Interpretation und Kontextualisierung der Viten selbst zurückstellt. [6] Ein erheblicher Teil der Einleitung ist der Rhapsoden-Problematik gewidmet (11-18), ohne dass dies jedoch wie in der Monographie von Graziosi das Fundament für die Interpretation der biographischen Überlieferung insgesamt abgegeben würde. [7]
Auf die Kommentare folgt dann eine ebenfalls knappe Zusammenfassung (189-200), welche die zuvor gemachten Einzelbeobachtungen unter fünf Aspekten bündelt: "Der Name 'Homer' als biographisches Indiz", "Ilias und Odyssee als 'Quellen' der Biographie", "Der Einfluss 'lokaler Traditionen' auf die Biographie", "Der biographisch 'tiefere Sinn' von Homers Lebenzeit", "'Muster' in der Biographie eines Kultur-Heroen". Dies wäre der Ort gewesen, aus der intensiven Beschäftigung mit dem Material abgeleitete übergreifende Thesen zu formulieren und in eine Auseinandersetzung mit der Forschung einzutreten. Dies geschieht jedoch nicht: Der "besseren Übersichtlichkeit" (189) wegen konzentriert Baier stattdessen die weiterführende Literatur in einer Sammelfußnote zu Beginn des Abschnitts.
Die meisten der übersetzten Texte bieten einen knappen doxographischen Überblick über die antike Homergelehrsamkeit. Das Certamen Homeri et Hesiodi fokussiert auf ein spezifisches Ereignis in der Vita der beiden Protagonisten und erzählt deren Tod. Allein die Vita Herodotea will einen detaillierten Bericht über das gesamte Leben Homer geben, der mit Verweis auf angebliche Reflexe im überlieferten Text der Homer zugeschriebenen Werke beglaubigt wird. Eine von Baier nicht aufgegriffene Frage ist allerdings, inwieweit dieses Werk bzw. seine Quellen überhaupt als eine ernste Abhandlung aufzufassen sind oder nicht vielmehr Charakterzüge einer Parodie zeigen, wie dies Joachim Latacz in den Raum stellte. [8] Dass Homer in der Antike durchaus nicht nur Gegenstand von Verehrung war, sondern seine Texte und die biographische Tradition auch Gegenstand einer spielerischen Auseinandersetzung werden konnten, zeigen jene Werke, die unter Berufung auf abenteuerliche Visionen oder Dokumentenfunde versuchten, den Bericht der homerischen Epen zu "korrigieren". [9]
Insgesamt ergibt sich ein zwiespältiger Eindruck: Einerseits zeigt Baiers Kommentar die inhaltlichen Verbindungen zwischen den verschiedenen Viten und der sonstigen antiken Homertradition auf. Andererseits erschließt sich nicht recht, inwieweit dadurch neue Verständnisperspektiven eröffnet werden. Man mag einwenden, dass es das Privileg eines Kommentars ist, zunächst einmal selbstzweckhaft relevantes Kontextwissen zu versammeln. Man hätte sich aber doch gewünscht, dass die Texte bzw. das in ihnen überlieferte ältere Material in weitere Kontexte eingeordnet würden, etwa im Vergleich mit anderen Dichterviten, im Blick auf die Entwicklung der Homergelehrsamkeit in der Antike oder die Rolle Homers als Bildungsgut in der Spätantike. Einführung und Zusammenfassung fallen aber zu knapp aus, um hier Substantielles beizutragen. Man wird Baiers Buch daher vornehmlich zur Information über Einzelfragen der Motiv- und Überlieferungsgeschichte heranziehen.
Trotz des gehobenen Preises sucht man einen Index vergeblich und der Satzspiegel vermittelt den Eindruck, einen Manuskriptausdruck in Klebebindung vor sich zu haben. [10] Es irritiert auch, dass in einem Buch, das sich vermutlich besonders an Philologen wendet, der Gebrauch eines griechischen Zeichensatzes mit Ausnahme einiger Passagen im Abschnitt über das Certamen stets durch Transliteration vermieden wird. So zeigt das Buch einerseits, warum eine verlegerische Betreuung von Druckpublikationen eigentlich notwendig wäre, andererseits aber auch, dass diese Aufgaben längst nicht mehr von allen Verlagen wahrgenommen werden. In diesem Fall wäre dann allerdings zu fragen, ob eine teure Druckausgabe wirklich zielführend ist oder der Verbreitung der Inhalte nicht mit einer elektronischen Publikation besser gedient wäre.
Anmerkungen:
[1] Mary Lefkowitz: The lives of the Greek poets (Classical life and letters), London 1981. In zweiter überarbeiteter Auflage Baltimore 2012 erschienen.
[2] Barbara Graziosi: Inventing Homer. The early reception of epic (Cambridge classical studies), Cambridge 2002.
[3] Martin L. West (ed.): Homeric Hymns. Homeric Apocrypha. Lives of Homer (Loeb Classical Library; 496), Cambridge, Mass. 2003.
[4] Ein älterer Kommentar liegt für die Vita Herodotea vor: Effie N. Coughanowr: Herodoti vita Homeri, Villanova 1990.
[5] Maria Vasiloudi: Vita Homeri Herodotea. Textgeschichte, Edition, Übersetzung (Beiträge zur Altertumskunde; 256), Berlin / New York 2013.
[6] Eine aus heutiger Hinsicht übermäßig optimistische Auswertung der Homerviten wurde hingegen im deutschen Sprachraum durch Wolfgang Schadewaldt: Legende von Homer, dem fahrenden Sänger (Lebendige Antike), Zürich 1959 (erstmals Leipzig 1942) popularisiert.
[7] Graziosi 2002 (s. Anm. 2), 13-50.
[8] Joachim Latacz: Homer. Der erste Dichter des Abendlandes, Düsseldorf / Zürich 2013 (4. Aufl.), 38. Meines Erachtens zu Recht weist Latacz darauf hin, dass die üblichen Schemata der Dichterbiographie in der Vita Herodotea "bis zur Groteske übertrieben" sind und sieht diese als mögliches Produkt der "Spottsucht eines intellektuellen Witzbolds".
[9] Zu nennen sind vor allem die Trojanische Rede des Dion Chrysostomos, der Heroikos des Philostratos, aber auch die Trojaerzählungen des Dares und Diktys.
[10] So hat der Autor für den Satz eine serifenlose Schriftart gewählt und die Zeilenlänge füllt die Blattbreite fast aus. Sperrungen sind falsch gesetzt, da die jeweils vorausgehenden und nachfolgenden Leerzeichen nicht mitgesperrt wurden (7), und sorgen zusammen mit sehr zahlreichen Kursivsetzungen für ein unruhiges Schriftbild. Die Kommentarteile sind durch einen etwas kleineren Schriftgrad von den Übersetzungsabschnitten abgesetzt, so dass auf fast jeder Seite verschiedene Schriftgrade zu finden sind, die sich aber doch nicht so klar unterscheiden, dass für das Auge immer gleich zu erfassen wäre, wo man sich gerade befindet. Längere Zitate in gebundener Sprache sind zentriert gesetzt und gleichzeitig mit Einzug versehen, so dass sie am rechten Seitenrand kleben (36). Als weitere formale Kritikpunkte sind zu nennen: Fußnoten werden offenbar nicht als Satzäquivalent aufgefasst, schließen dementsprechend nie mit einem Punkt und beginnen teilweise mit Kleinbuchstaben. Die Angaben antiker Quellen orientieren sich nicht an gängigen Abkürzungen, sondern bieten meist ausgeschriebene Werktitel, die weder durchgängig latinisiert noch konsequent eingedeutscht sind. Manchmal finden sich Fehler und griechisch-lateinische Mischformen, z. B. institutio oratoriae (10 Anm. 4), hymnus ad Artemin (11 Anm. 1), Oidipus Tyrranus (16 Anm. 16).
Andreas Hartmann