Marc Spohr: Auf Tuchfühlung. 1000 Jahre Textilgeschichte in Ravensburg und am Bodensee (= Historische Stadt Ravensburg; Bd. 6), Konstanz: UVK 2013, 158 S., zahlr. Abb., ISBN 978-3-86764-442-6, EUR 14,99
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In dem in der deutschsprachigen Frühneuzeitforschung noch jungen Feld der Geschichte der Waren und Objekte hat die Geschichte der Textilien die vielleicht längste Tradition. Schon die ältere Sozial- und Wirtschaftsgeschichte machte sie zu ihrem Gegenstand, indem sie die spätmittelalterliche und frühneuzeitliche Produktion von Textilien, die Organisation des Gewerbes und die Geschichte von Handelshäusern, Heimarbeit und Manufakturen erforschte. Die Arbeiten von Walter Bodmer, Hektor Ammann, Wolfgang Stromer und anderen in den 1960er und 70er Jahren etablierten grundlegendes Wissen über die Entwicklung der vormodernen Textilindustrie und ihrer Produkte im süddeutschen und schweizerischen Raum, spätere Studien von Rolf Kießling und anderen erweiterten und differenzierten das Bild des schwäbischen Textilreviers [1].
Dass die Geschichte der Textilien nicht nur aus produktions-, zunft- oder landesgeschichtlicher Perspektive von Interesse ist, sondern an der Schnittstelle eines dynamischen Forschungsfeldes liegt, das Global- und Kulturgeschichte, Geschichte der materiellen Kultur und museum studies zusammenbringt, hat vor allem die angelsächsische Geschichtswissenschaft der letzten Jahre gezeigt [2]. Von diesen jüngsten Tendenzen der history of textiles weiss der vorliegende Band nichts zu erzählen, aber das, um es gleich vorweg zu nehmen, ist auch nicht seine Absicht.
Marc Spohr hat eine konzise Darstellung von rund 150 Seiten vorgelegt, auf denen er die Geschichte des Textilgewerbes der Region Bodensee-Oberschwaben unter besonderer Berücksichtigung der Stadt Ravensburg vom 14. Jahrhundert bis zur Gegenwart beschreibt. Publiziert als Begleitband der gleichnamigen Ausstellung "Auf Tuchfühlung" im Museum Humpis-Quartier in Ravensburg, zielt der Band darauf ab, die Grundlinien der historischen Entwicklung in durchaus traditionell sozial- und wirtschaftshistorischer Sicht nachzuzeichnen und Kontextwissen zu Exponaten zu vermitteln.
Marc Spohr liefert einen Überblick, der auf die publikumsgerechte Aufbereitung von bestehendem Fachwissen, weniger auf neue wissenschaftliche Perspektiven ausgerichtet ist (obwohl der Autor eigne Archivstudien einbringt). Seine Darstellung ist prägnant und informiert. Dass zu bestimmten Teilthemen (wie zum Beispiel dem Kattundruck) Verweise auf einschlägige Fachliteratur fehlen, tut dem Band keinen Abbruch. Er ist gut ausgestattet mit zahlreichen hochwertigen farbigen und schwarz-weissen Abbildungen, die gegenständliche Objekte wie Werkzeuge und Textilien, zeitgenössische Bilder und Karten sowie Photographien von Archivdokumenten oder noch bestehender Industriearchitektur zeigen.
Das Buch gliedert sich einschließlich einer kurzen Einleitung in acht Kapitel, die weitgehend chronologisch geordnet sind. Das zweite Kapitel gibt zunächst einen knappen Überblick über die wichtigsten Rohstoffe vormoderner Textilien, Wolle, Baumwolle, Seide, Hanf und Flachs, und informiert über Herkunftsgebiete und Anbauorte. In der Region Bodensee-Oberschwaben wurde vor allem Flachs angebaut, wenn auch weniger als im Volksmund oft behauptet. Dieser Flachs lieferte den wichtigsten Rohstoff zur Herstellung oberschwäbischer Leinwand, mit der die Region im Spätmittelalter prosperierte.
Das dritte Kapitel beschreibt den Weg vom Flachs zum Garn (ernten, riffeln, rösten, dörren, spinnen) und erklärt, warum Garn im 15. und 16. Jahrhundert ein permanentes Politikum war. Weil Garn knapp war und um seinen Einkauf konkurriert wurde, versuchten die oberschwäbischen Städte seinen Verbrauch zu steuern und Preise zu kontrollieren. Vergeblich, denn der Garnverbrauch blieb bis "zur Einführung des Maschinengarns der wunde Punkt des Leinengewerbes" (43). Das vierte Kapitel beschäftigt sich mit den Produktionsetappen der Leinwand (weben, bleichen, färben, mangen), der Produktionsorganisation (Verlagssystem) und den dazugehörigen städtischen Institutionen (etwa die Schau).
Kapitel fünf schildert den Aufstieg der Region Bodensee-Oberschwaben zu einem der führenden Textilreviere Europas durch die Herstellung von Leinwand und Barchent einerseits und die Vermarktung dieser Textilien durch Handelsgesellschaften wie die Große Ravensburger andererseits. Vor allem Barchent wurde aufgrund der Standardisierung des Produktions- und Schauprozesses zur gefragten Exportware, die in Mittel- und Osteuropa sogar die italienische Konkurrenz verdrängte. Aber nicht alle oberdeutschen Städte produzierten Barchent. Anders als Ulm, Augsburg, Biberach, Memmingen und Kaufbeuren blieb der südliche Teil Schwabens, mit Ausnahme Ravensburgs, der Leinenweberei treu.
Kapitel sechs skizziert die Umbrüche der Textilwirtschaft im 16. und vor allem 17. Jahrhundert. Mit dem Ende der Ravensburger Handelsgesellschaft um 1530, dem Aufkommen neuer Textilreviere im nordwestdeutschen Raum (und, müsste man noch hinzufügen, der Verbreitung der draperies nouvelles) verlor die oberschwäbische Leinwandproduktion an Bedeutung. Auch der Barchentabsatz sank in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts und kam während des Dreißigjährigen Krieg fast ganz zum Erliegen. Statt dessen entwickelte sich das südliche Schwaben zum Rohstoff- und Arbeitskräftereservoir vor allem für St. Gallen. Die Stadt war für ihre hochwertigen Leinenprodukte, Musselinen und Stickereien bekannt und griff für deren Herstellung vor allem auf süddeutsche Heimarbeiterinnen zurück. Einen eigenen Weg aus der Krise des Leinen- und Barchentgewerbes fand Augsburg mit der Etablierung von Kattundruckmanufakturen im späten 17. und 18. Jahrhundert.
Das siebte Kapitel erzählt den Wiederaufstieg der Ravensburger Textilwirtschaft anhand der Firmen Gosner & Co, Manz & Stimmler, Osiander, Kutter und anderer im Zuge der Industrialisierung des 19. Jahrhunderts. Einen Ausblick auf das 20. Jahrhundert wirft das achte und letzte Kapitel. Nach dem zweiten Weltkrieg kam es zwar zu einer Wiederbelebung der Ravensburger Textilindustrie, doch viele Firmen konnten schon in den 1970er Jahren nicht mehr mit der asiatischen Konkurrenz mithalten. Die letzte Ravensburger Textilfabrik, die Bleicherei und Appreturanstalt Weißenau, stellte 2006 ihren Betrieb ein und setzte damit, wie die Ausstellungsmacher von "Auf Tuchfühlung" durchaus mit einem gewissen lokalpatriotischen Bedauern feststellen, den Endpunkt einer über 700jährigen Geschichte (148).
Marc Spohr hat eine gelungene, auf die Ausstellung zugeschnittene Darstellung vorgelegt. Wer sich einen Überblick über die Geschichte eines der wichtigsten Textilreviere im spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Europa, über Arbeitsabläufe und -organisation der Textilproduktion, über Weber, Färber, Kaufleute und Firmengründer verschaffen will, dem sei dieser Band empfohlen. Durch die Aufnahme vieler auch längerer Quellenzitate und den engen Bezug zu den Exponaten ist er anschaulich, kurzweilig und dicht. Wer sich mit den neuen Wegen der Geschichte der Textilien beschäftigen will, darf aber auch an ihm vorbeigehen.
Anmerkungen:
[1] Walter Bodmer: Die Entwicklung der schweizerischen Textilwirtschaft im Rahmen der übrigen Industrien und Wirtschaftszweige, Zürich 1960; Wolfgang Stromer von Reichenbach: Die Gründung der Baumwollindustrie in Mitteleuropa. Wirtschaftspolitik im Spätmittelalter, Stuttgart 1978; Hektor Ammann: Die Anfänge der Leinenindustrie des Bodenseegebiets, in: Alemannisches Jahrbuch (1953), 251-314; Rolf Kießling: Entwicklungstendenzen im ostschwäbischen Textilrevier während der Frühen Neuzeit, in: Wolfgang Hartung / Joachim Jahn (Hgg.): Gewerbe und Handel vor der Industrialisierung: Regionale und überregionale Verflechtungen im 17. und 18. Jahrhundert, Sigmaringendorf 1991, 27-48.
[2] Giorgio Riello: Cotton. The fabric that made the modern world, Cambridge 2013.
Kim Siebenhüner