Uta Lohmann: David Friedländer - Reformpolitik im Zeichen von Aufklärung und Emanzipation. Kontexte des preußischen Judenedikts vom 11. März 1812, Hannover: Wehrhahn Verlag 2013, 576 S., ISBN 978-3-86525-310-1, EUR 59,80
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Als Gemeinderepräsentant, Aufklärer und Publizist zählte David Friedländer im ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhundert zweifellos zu den bedeutendsten Vertretern der preußischen Judenschaft. Engagiert beteiligte er sich an der um 1780 einsetzenden Emanzipationsdebatte und nahm auch auf den staatlichen Reformprozess, der im Emanzipationsedikt von 1812 seinen vorläufigen Kulminationspunkt erreichte, vielfältigen Einfluss. Gleichwohl steht Friedländer bis heute zumeist im Schatten des ungleich berühmteren Moses Mendelssohn. Uta Lohmanns 2011 an der Universität Duisburg-Essen angenommene Dissertationsschrift versteht sich als kritische Auseinandersetzung mit dem tradierten Bild eines radikalen Aufklärers, der im Gegensatz zu Mendelssohn bereit gewesen sei, das Judentum der ersehnten rechtlichen Gleichstellung zum Opfer zu bringen.
In ihrer im Wesentlichen chronologisch aufgebauten Studie zeichnet die Autorin zunächst den Bildungsweg Friedländers nach, der 1750 als Sohn eines Königsberger Großkaufmanns geboren wurde. Schon als Heranwachsender bewegte sich Friedländer "in zwei Welten" (42), da er nicht nur das traditionelle jüdische Lehrhaus besuchte, sondern darüber hinaus im Elternhaus säkular ausgerichteten Privatunterricht genoss. 1771 übersiedelte er nach Berlin, heiratete eine Tochter des einflussreichen Fabrikanten und Gemeindeältesten Daniel Itzig und stieg in den obrigkeitlich geförderten Seidenhandel ein. Damit gehörte er zum Kreis der besonders privilegierten jüdischen Elite und kam 1791 sogar in den Genuss des Naturalisierungspatents, das sein Schwiegervater von Friedrich Wilhelm II. verliehen bekommen hatte. Dennoch prägten die zahlreichen Restriktionen der preußischen Juden- und Wirtschaftspolitik auch Friedländers Alltag. Gegenüber den Berliner Zentralbehörden, zu denen er enge Kontakte unterhielt (seit 1793 übernahm er sogar Gutachtertätigkeiten als Assessor des Manufaktur- und Kommerzkollegiums), plädierte er für einen Abbau von Handelsschranken.
Am aufklärerischen Diskurs seiner Zeit nahm Friedländer regen Anteil. Er war regelmäßig im Haus Moses Mendelssohns zu Gast, besuchte die Salons von Sara Levy und Henriette Herz und pflegte auch zu zahlreichen Christen wie Friedrich Nicolai, Christian Wilhelm Dohm oder den Brüdern Humboldt langjährige Freundschaften. Nach Lohmann wurden Friedländers vielfältige Initiativen vom Selbstbild eines ethisch agierenden Kaufmanns getragen, den seine wirtschaftliche Unabhängigkeit nicht nur zu karitativer Tätigkeit, sondern auch zur Formulierung von Kritik an gesellschaftlichen Missständen befähigte. Schon früh geriet dabei das jüdische Bildungswesen in Friedländers Fokus. 1778 gründete er mit seinem Schwager Isaak Daniel Itzig die jüdische Freischule, die insbesondere Kindern aus ärmeren Familien neben religiöser auch säkulare Bildung vermitteln sollte. Die geplante Aufnahme religiöser Lehrinhalte auf Grundlage von Mendelssohns Toraübersetzung scheiterte jedoch am Widerstand konservativer Gemeindemitglieder. Friedländer schied deshalb schon bald aus dem Schuldirektorium aus.
Zu einer wesentlichen Erweiterung seines Wirkungskreises kam es nach der Thronbesteigung Friedrich Wilhelms II. (1786). Gemeinsam mit Isaak Daniel Itzig und Liepman Meyer Wulff vertrat Friedländer die preußischen Judenschaften als Generaldeputierter in den Verhandlungen über eine Reform der restriktiven friderizianischen Judengesetzgebung. Während Friedländer eine vorbedingungslose Emanzipation anstrebte, wollte die Administration eine rechtliche Gleichstellung jedoch von einer vorhergehenden "bürgerlichen Verbesserung" der Juden abhängig machen. Insbesondere die Tätigkeit der traditionellen Gemeindeinstitutionen (Rabbinat, Gemeindeangestellte, Talmud-Tora-Schulen) galt den Beamten als ursächlich für die unterstellten charakterlichen Defizite der meisten "unaufgeklärten" Juden. Die Reform, die Friedländer auch publizistisch begleitete, brachte zwar Erleichterungen auf einzelnen Gebieten (Aufhebung des Leibzolls, Befreiung vom Zwangsexport von Berliner Porzellan und von der solidarischen Haftung für die Schutzgelder). Eine Überwindung der überkommenen Schutzjudenverfassung wurde jedoch nicht erreicht. Stattdessen wurden die Reformbemühungen mit Blick auf das revolutionäre Frankreich, wo die Emanzipation der elsässischen Juden zu erheblichen Widerständen in der christlichen Bevölkerung geführt hatte, 1792 vorerst eingestellt.
Nicht auf die lange Bank schieben konnte die Administration indes die Neuregelung der Judenpolitik in den polnischen Teilungsgebieten, wo 1797 rund 80 % aller jüdischen Einwohner Preußens lebten. Es ist zu begrüßen, dass Lohmann der dortigen Situation, die in der deutschsprachigen Forschung nur selten hinreichend beachtet wird, ein eigenes Kapitel widmet. Ausgeklammert bleiben dabei jedoch die bis 1806 andauernden Vertreibungen und Zwangsumsiedlungen, auf die in jüngerer Zeit vor allem Manfred Jehle hingewiesen hat.[1] Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen: Das vergleichsweise liberale Generaljudenreglement für Süd- und Neuostpreußen (1797) gewährte den Juden derweil auf manchen Gebieten sogar mehr Rechte, als sie ihre Glaubensgenossen in den altpreußischen Landesteilen genossen. Allerdings zielte das Reglement, das die Aufhebung der rabbinischen Gerichtsbarkeit und eine grundlegende Reform des Erziehungswesens vorsah (zu der Friedländer ein Gutachten verfasste), unausgesprochen auf eine Auflösung jener Bande, die das traditionelle Judentum zusammenhielten. Lohmann betont deshalb zu Recht die Ambivalenz der preußischen Politik, wenngleich die griffige Formel von "Gleichschaltung statt Gleichstellung" (211) überspitzt erscheint. Im Falle der jüdischen Minderheit besaß die Auflösung intermediärer Gewalten zwar eine besondere Qualität, da sie sich mit weithin gehegten Konversionshoffnungen verband. Doch setzte die Formierung der den Aufklärern als Leitbild vor Augen stehenden Staatsbürgergesellschaft eben diese Auflösung intermediärer Instanzen der Ständegesellschaft religionsunabhängig voraus (man denke lediglich an das Zunftwesen).
Erst nach der katastrophalen Niederlage Preußens gegen Napoleon trat die Diskussion um die Judenemanzipation in ihre entscheidende Phase. Friedländer boten sich in jenen Jahren zahlreiche Möglichkeiten zu politischer Einflussnahme. Er gehörte seit 1808 dem reformorientierten Vorstand der Berliner jüdischen Gemeinde an und wurde 1809 auf Grundlage der im Vorjahr erlassenen Städteordnung zum ersten jüdischen Stadtrat Berlins gewählt. Als einzigen Juden zogen ihn die Behörden als Gutachter über das geplante Edikt heran. Lohmann betont, dass die jüdische Gemeinde derweil nicht nur durch den Krieg und die Konversion zahlungskräftiger Mitglieder zum Christentum ökonomisch geschwächt war, sondern darüber hinaus in bislang unbekanntem Maße auch durch innere religiöse Konflikte erschüttert wurde. Diese entzündeten sich insbesondere im Bildungswesen, da der Vorstand um Friedländer der traditionellen Talmud-Tora-Schule erstmals in der Geschichte der Gemeinde die Unterstützung versagte.
Der dichteste und analytisch stärkste Abschnitt von Lohmanns Studie entfällt auf die Zeit nach Erlass des Edikts von 1812. Die bald einsetzende Reaktion nahm Friedländer als "enttäuschter und erschütterter Beobachter" (322) wahr. Gleichwohl engagierte er sich weiterhin intensiv für die im Emanzipationsedikt vorgesehene Bildungs- und Kultusreform. Friedländer wollte den Talmud aus dem Religionsunterricht verbannen, betrachtete er das jüdische Zeremonialgesetz (Halacha) doch als Hindernis auf dem Weg zu einer vollständigen Integration der Juden in die bürgerliche Gesellschaft. Wie Lohmann überzeugend ausführt, ist diese Haltung jedoch nicht mit einer Abkehr vom Judentum zu verwechseln. Friedländer ging es vielmehr um eine Rückführung der Religion auf ihre "mosaischen" Ursprünge und um innerjüdische Pluralisierung. Auf diese Weise hoffte er, die um sich greifenden Konversionen eindämmen und das Überleben des Judentums in der Moderne sicherstellen zu können.
Shmuel Feiner hat die jüdische Aufklärung treffend als "kulturelle Revolution" charakterisiert.[2] Lohmann kann verdeutlichen, dass hiervon vor allem das jüdische Bildungswesen betroffen war. Ihre lesenswerte Studie gewährt wertvolle Einblicke in die zum Teil erbitterten Konflikte, die auf diesem Feld in der "Sattelzeit der Moderne" (Reinhart Koselleck) ausgetragen wurden und die auch Friedländers Lebenswerk prägten. Denn einerseits wusste Friedländer bei seinen Reformbemühungen nur eine Minderheit der Gemeindemitglieder hinter sich, während sein konservativer Widersacher, Rabbiner Meyer Simon Weyl, seine Position nach 1812 festigen konnte. Andererseits war eine Modernisierung des Judentums, die dessen Attraktivität erhöht und den Konversionsdruck vermindert hätte, auch nicht im Sinn des Königs und weiter Teile des Staatsapparats. Friedländers "Politik der sozialen Interaktion" (28), die Lohmann überzeugend nachgezeichnet hat, mangelte es deshalb auf christlicher wie jüdischer Seite in zunehmendem Maße an geeigneten Ansprechpartnern.
Anmerkungen:
[1] Manfred Jehle: "Relocations" in South Prussia and New East Prussia: Prussia's Demographic Policy towards the Jews in Occupied Poland 1772-1806, in: Leo Baeck Institute Yearbook 52 (2007), 23-47.
[2] Shmuel Feiner: Haskala - Jüdische Aufklärung. Geschichte einer kulturellen Revolution (Netiva; Bd. 8), Hildesheim / Zürich / New York 2007.
Tobias Schenk