Rezension über:

Peter Gautschi / Barbara Sommer Häller (Hgg.): Der Beitrag von Schulen und Hochschulen zu Erinnerungskulturen (= Forum Historisches Lernen), Schwalbach: Wochenschau-Verlag 2014, 240 S., ISBN 978-3-89974949-6, EUR 19,80
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Rezension von:
Astrid Schwabe
Institut für Geschichte und Ihre Didaktik, Universität Flensburg
Redaktionelle Betreuung:
Christian Kuchler
Empfohlene Zitierweise:
Astrid Schwabe: Rezension von: Peter Gautschi / Barbara Sommer Häller (Hgg.): Der Beitrag von Schulen und Hochschulen zu Erinnerungskulturen, Schwalbach: Wochenschau-Verlag 2014, in: sehepunkte 14 (2014), Nr. 5 [15.05.2014], URL: https://www.sehepunkte.de
/2014/05/24632.html


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Peter Gautschi / Barbara Sommer Häller (Hgg.): Der Beitrag von Schulen und Hochschulen zu Erinnerungskulturen

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In den letzten zwei Jahrzehnten hat sich der Begriff 'Erinnerungskultur(en)' in der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft zu einem zentralen Konzept entwickelt. Es liegt zahlreichen Studien zu Grunde, die die boomhafte Beschäftigung von Gesellschaften mit bestimmten Aspekten ihrer Vergangenheit untersuchen. Nach der Definition von Christoph Cornelißen, auf die sich auch die Herausgeber des Sammelbandes berufen (15), ist unter Erinnerungskultur ein "formale[r] Oberbegriff für alle denkbaren Formen der bewussten Erinnerung an historische Ereignisse, Persönlichkeiten und Prozesse zu verstehen, seien sie ästhetischer, politischer oder kognitiver Natur." [1] Individuen, Gruppen und auch ganze Nationen konkurrierten dabei als Träger dieser Erinnerungen. In ihrer thematischen Einführung stellen Peter Gautschi, Barbara Sommer Häller und Markus Furrer fest, dass sich die umfassende wissenschaftliche Beschäftigung mit Erinnerungen und Erinnerungskulturen allerdings nicht hinreichend in der historischen Vermittlungsarbeit an Schulen und Hochschulen widerspiegele (10). Dabei sind auch Bildungsinstitutionen entscheidende Träger von Erinnerungen. Die vorliegende Dokumentation der Eröffnungstagung des "Zentrums Geschichtsdidaktik und Erinnerungskulturen" der Pädagogischen Hochschule Luzern im September 2012 unternimmt folglich einen Vermittlungsversuch zwischen wissenschaftlicher Forschung und Lehre beziehungsweise Unterricht.

Die insgesamt 14 Beiträge des vorliegenden Bandes sind in vier Abschnitte gegliedert. Der erste Teil "Zur Einleitung" umfasst neben der schon angesprochenen Einführung einen Beitrag von Cornelißen, der dezidiert nicht aus einem explizit fachdidaktischem Blickwinkel argumentiert. Der Autor umreißt darin das Spannungsfeld, in dem sich Schulen und Hochschulen in Punkto Erinnerungskulturen bewegen und benennt Herausforderungen sowie vor allem Chancen des Konzepts für die Vermittlung. Er sieht sie besonders in "methodischen Potenziale[n]", die zur Ausbildung einer "selbstreflexiven Kompetenz" führen könnten (32).

Das Kapitel "Konzepte und Begriffe" versammelt drei sehr unterschiedlich angelegte Aufsätze. Bodo von Borries spannt einen weiten Bogen, um das Verhältnis zwischen "Geschichtsunterricht und Erinnerungskulturen", so der Titel, in seiner Vielschichtigkeit zu erfassen; dabei verweist auch er auf die begrifflichen Probleme in der Abgrenzung zur Geschichtskultur (43f.). In der Tat ist die Beziehung des Begriffs der Erinnerungskulturen zu dieser geschichtsdidaktischen Leitkategorie kaum geklärt; auch das mag mitursächlich für die mangelnde Repräsentanz des Konzepts in der schulischen Geschichtsvermittlung sein. [2] Die analytische Schärfe der Begrifflichkeit Erinnerungskultur(en) hinterfragt Béatrice Ziegler in ihrem instruktiven Beitrag fundamental. Ausgehend von der Foucault'schen Diskurstheorie leuchtet sie den Begriff der individuellen und kollektiven Erinnerung aus. Die Autorin argumentiert, dass die Nutzung von Begrifflichkeiten wie kollektive Erinnerung die Analyse zugrunde liegender machtgesteuerten Aushandlungsprozesse eher behindere und kommt zu dem Schluss: "Es ist daher zentral, gesellschaftlichen Umgang mit Geschichte nicht als 'Erinnerung' zu verstehen, sondern als einen komplexen und höchst machtdurchdrungenen Vorgang, in welchem historische Deutungen nicht im freien Spiel der individuellen 'Erinnerung' hergestellt werden, sondern in dem sich interessegebundene Deutungen durchsetzen, die sich hinter dem Begriff der 'Erinnerung' verstecken" (86).

Im dritten Teil "Beispiele" gelten fünf Beiträge unterschiedlichen Phänomenen oder Projekten, die unter der großen Klammer Erinnerungskulturen verschiedener Gesellschaften zusammengefasst werden können. Neben einer kritischen Analyse der in Israel dominierenden Erinnerungskultur (Noa Mkayton) und der Beschreibung des Konzepts von Studienreisen nach Israel / Yad Vashem im Rahmen der Lehramtsausbildung der PH Luzern (Julia Thyroff, Peter Gautschi) gehören hierzu auch zwei konkrete Projekte, die unterschiedliche Medien und ihre Potenziale und Grenzen für die Vermittlung von Geschichte diskutieren: ein Improvisationstheater "Was bedeutet uns der Holocaust heute?" (Stefan Mächler) und der in der Schweiz sehr erfolgreiche Spielfilm "Der Verdingbub" (Karin Fuchs, Sabine Ziegler, Peter Reichenbach).

Der Analyse von "Erinnerungstraditionen - Erinnerungswandel" widmen sich vier Autorinnen und Autoren im letzten Abschnitt. Vor allem Aram Mattiolie - er analysiert den Wandel in der amerikanischen Erinnerungskultur im Hinblick auf die "Zerstörung der nordamerikanischen Indianerkulturen" (203) nach dem Ende des Kalten Krieges - und Markus Furrer - er untersucht die Debatten um die Aufarbeitung der Schicksale von Heimkindern in der Schweiz - liefern dabei gewinnbringende Analysen der vielfältigen Aspekte, die bestimmen, welche Erinnerungen sich durchsetzen können. In den konkreten Fällen arbeiten die Autoren globale Konstellationen ebenso heraus wie mediale Mechanismen in der Konkurrenz um Aufmerksamkeit.

Das Konzept der Tagungsdokumentation erschließt sich nicht auf den ersten Blick, was auch darin liegen mag, dass die Zuordnung einzelner Aufsätze zu den Abschnitten nicht immer überzeugt. Der Band weist eine große Vielfalt an Beiträgen von sehr unterschiedlicher analytischer Tiefe auf. Während einige durchaus lesenswerte, aber eher essayistische Reflexionen darstellen, können andere auf theoretischer und / oder analytischer Ebene die Diskussion um das Konzept der Erinnerungskulturen auch in seinem ungeklärten Verhältnis zur Theorie der Geschichtsdidaktik entscheidend befruchten. So bietet der Band eine erkenntnisreiche Annäherung an das Themenfeld "Erinnerungskultur und Geschichtsvermittlung". Etwas bedauerlich ist allerdings die Wahl des irreführenden Titels, der Gefahr läuft, die thematische Bandbreite des Sammelbandes zu verschleiern. Die Stärke des Bandes liegt nicht in pragmatischen Hinweisen zur konkreten Beschäftigung mit dem Phänomen Erinnerungskultur in Hochschullehre und Geschichtsunterricht, sondern darin, die Anschlussfähigkeit(en) eines in der Geschichtswissenschaft zentralen Konzepts an die geschichtsdidaktische Diskussion durchaus kritisch zu beleuchten.


Anmerkungen:

[1] Christoph Cornelißen: Was heißt Erinnerungskultur? Begriff - Methoden - Perspektiven, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 54 (2003), 548-563, 555.

[2] Vgl. hierzu Marko Demantowsky: Geschichtskultur und Erinnerungskultur - zwei Konzeptionen des einen Gegenstandes. Historischer Hintergrund und exemplarischer Vergleich, in: Geschichte, Politik und ihre Didaktik 1-2 (2005), 11-20; Vadim Oswalt / Hans-Jürgen Pandel: Einführung, in: Dies. (Hgg.): Geschichtskultur. Die Anwesenheit von Vergangenheit in der Gegenwart (= Forum Historisches Lernen), Schwalbach/Ts. 2009, 7-13, 8f.

Astrid Schwabe