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Matthias Wolfram: Entscheidungsprozesse im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen. Die Mandatierung von Militäreinsätzen (= The United Nations and Global Change; 6), Baden-Baden: NOMOS 2012, 400 S., ISBN 978-3-8329-7506-7, EUR 69,00
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Rezension von:
Ekkehard Griep
Berlin
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Ekkehard Griep: Rezension von: Matthias Wolfram: Entscheidungsprozesse im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen. Die Mandatierung von Militäreinsätzen, Baden-Baden: NOMOS 2012, in: sehepunkte 14 (2014), Nr. 6 [15.06.2014], URL: https://www.sehepunkte.de
/2014/06/22738.html


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Matthias Wolfram: Entscheidungsprozesse im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen

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Im Prozedere der internationalen Politik finden sich eskalierende Krisen früher oder später im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen wieder: Von Syrien über den Irak bis zu Maßnahmen gegen den internationalen Terrorismus. Sogar der Klimawandel und die Bekämpfung von Aids haben es auf die Tagesordnung gebracht. Dabei ist allein die Existenz des Sicherheitsrats, wie auch die der Vereinten Nationen insgesamt, keineswegs naturgegeben, sondern eine Lehre, die die internationale Gemeinschaft aus den Katastrophen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gezogen hat. Nach dem Scheitern des Völkerbundes, geschaffen in der Folge des Ersten Weltkrieges mit dem neuartigen Anspruch einer weltumspannenden, der Friedenswahrung verpflichteten Organisation, standen die Gründungsstaaten der Vereinten Nationen 1945 vor der Herausforderung, Schwächen der Vorgängerorganisation nicht zu wiederholen. Neben einer heute tatsächlich erreichten (nahezu) globalen Mitgliedschaft galt es Defizite vor allem im strukturellen und prozeduralen Bereich zu vermeiden. Zu diesem Zweck wurde mit dem Sicherheitsrat eine Art Direktorium geschaffen, das die Hauptverantwortung für die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit tragen solle. Man installierte fünf ständige Mitglieder dieses Gremiums, jeweils ausgestattet mit dem Privileg des Vetorechtes - und legte so den Grundstein für ein bis heute andauerndes Statusgefälle gegenüber den gewählten, nichtständigen Mitgliedern des Rates. Damit gibt die UN-Charta, unbeschadet immer wieder artikulierten Reformbedarfs, klare Verantwortlichkeiten vor. Auf den Sicherheitsrat und seine Entscheidungen richten sich die Weltmedien, wenn internationale Krisen nach Antworten verlangen.

Mit seiner Untersuchung zieht Matthias Wolfram den Schleier beiseite, der die Öffentlichkeit üblicherweise fernhält von den Prozeduren des UN-Sicherheitsrates, und schafft Transparenz mit Blick auf dessen Entscheidungsmechanismen in den Jahren 1992-1996, also in einer Phase kurz nach dem Ende des Kalten Krieges. Obwohl der Untertitel ("Die Mandatierung von Militäreinsätzen") dies suggerieren könnte, handelt es sich nicht um Fallstudien der Entscheidungsabläufe für ausgewählte UN-Einsätze, sondern eher um eine Analyse der für UN-Mandatierungen notwendigen, weitgehend vorgegebenen, teils aber auch in der Praxis weiterentwickelten Strukturelemente und Verfahrensschritte. Der Autor flicht zwar punktuell Bezüge zu einzelnen Operationen ein, hält sich ansonsten aber in seiner Analyse an grundsätzliche Betrachtungen. Hierbei stützt er sich zu einem großen Teil auf die gründliche Auswertung von Sekundärliteratur in erheblichem Umfang. Eine Unschärfe bleibt gleichwohl in zweifacher Hinsicht: Zum einen liegen einige Referenzbeispiele außerhalb des eigentlichen Analysezeitraums (z.B. Kosovo 1999; Osttimor 1999; Kongo 1999). Zum anderen führt die Nutzung des recht grobkörnigen Terminus VN-mandatierter "Militäreinsätze" dazu, dass VN-geführte (mehrdimensionale) Friedensmissionen (ca. 85% im Untersuchungszeitraum) und multinationale (militärische) Koalitionen (ca. 15%) in der Betrachtung nicht weiter differenziert werden. Generell sind internationale Militäreinsätze aber schon deswegen ein lohnender Untersuchungsgegenstand, weil hier - so führt Wolfram in seinen Schlussbemerkungen treffend aus - nationalstaatliche Souveränität von außen tangiert wird.

Orientiert an der zentralen Leitfrage, welche Faktoren für die Entscheidungsprozesse im Sicherheitsrat bestimmend sind, ist die Untersuchung folgerichtig strukturiert. Im Einführungsteil (2. Kapitel) vermittelt der Autor durch die teils recht detaillierte Vorstellung einiger entscheidungstheoretischer Ansätze einen Eindruck von der Vielfalt wissenschaftlicher Herangehensweisen - mit dem latenten Risiko, sich in den diversen Theoriegebäuden zu verzetteln, dem er am Ende aber entgeht. Das sodann entwickelte Analyseraster (3.Kapitel) lenkt den Blick frühzeitig auf zwei für den Entscheidungsprozess relevante Aspekte: Erstens, dass für die Entscheidung im Rat auch (und vor allem) die politische Willensbildung in den Hauptstädten maßgeblich ist, und zweitens, dass die USA aufgrund ihrer herausgehobenen Position der besonderen Betrachtung bedürfen. (Letzteres illustriert der Autor später durch aufschlussreiche Kurzporträts der US-Vertreter im Sicherheitsrat: Pickering, Perkins und Albright). Die darauf folgende inhaltliche Analyse, Kernstück der Arbeit, sequenziert die Vorgehensweise des Sicherheitsrates in den "Entscheidungsprozess" (Kapitel 4; mit 153 Seiten der umfangreichste Teil) und, als dessen Ergebnis, die "Beschlussfassung" (Kapitel 5). So wird greifbar, dass die oft nur wenige Minuten dauernden Sitzungen des Rates zur Beschlussfassung lediglich den formalen Abschluss eines Prozesses bilden, der sich zuvor ausgiebig in informellen Sitzungen hinter verschlossenen Türen, also für die Öffentlichkeit nicht wahrnehmbar, vollzogen hat.

Mit Blick auf die formellen wie informellen Akteure und Verfahrensschritte im Rat trägt Wolfram zahlreiche elementare Details zusammen, etwa zur Relevanz von Sitzungsformaten, Statusunterschieden und Freundesgruppen. Instruktiv und erhellend sind vor allem die Einzelheiten des ratsinternen Verhandlungsprozesses (Kapitel 4.6). Deutlich wird, dass die Konsultationen vor der Beschlussfassung ein hochpolitischer Prozess sind, in dem z.B. durch positive und negative Anreize, mit der Androhung des Vetos oder mittels Stimmentausch agiert wird, um angestrebte Mehrheiten zu erreichen. Selbst die nicht mit Vetorecht ausgestatteten Ratsmitglieder können, wenn sie einig sind, Gestaltungs- bzw. Verhinderungsmacht erreichen. Als bedeutsames Element markiert der Autor hierbei das Spannungsverhältnis zwischen Weisungsbindung und Handlungsfreiheit der nationalen Vertreter im Sicherheitsrat und verdeutlicht manche Ambivalenz ausführlich am Beispiel der USA, daneben auch der anderen ständigen Ratsmitglieder sowie Indiens. Da auch Deutschland 1995-1996 (also während des Untersuchungszeitraums) einen nicht-ständigen Ratssitz innehatte, wären an dieser Stelle auch Ausführungen zur deutschen Vorgehensweise von Interesse gewesen.

Im 5. und 6. Kapitel schält der Autor mehr und mehr die USA als den maßgeblichen Akteur im Sicherheitsrat heraus, zentriert schließlich auch seine Schlussbetrachtung um die USA und kommt so zu einem recht realpolitischen Ergebnis. Denn die dominante Rolle Washingtons im internationalen System dürfte bis auf weiteres Bestand haben, auch wenn die auf den Untersuchungszeitraum folgenden Jahre (vgl. Irak-Krieg 2003) deutlich gemacht haben, dass die meinungs- (und mehrheits-)bildende Rolle der USA im Sicherheitsrat nicht mehr uneingeschränkt vorausgesetzt werden kann.

Der fokussierten Analyse der Entscheidungsprozesse im Sicherheitsrat und der gelungenen Bündelung bisheriger Forschungsergebnisse steht ein teils repetitiver, den Lesefluss hemmender Stil ebenso entgegen wie manche sprachliche, formale oder sachliche Flüchtigkeit, etwa wenn von einem Völkermord in Haiti gesprochen (23) oder - ohne auf die seinerzeit z.B. auf US-Seite diskutierten Abstufungen einzugehen - recht pauschal das Vetorecht als Voraussetzung für einen UN-Beitritt der Großmächte angeführt wird (250). Zudem wäre ein Stichwortverzeichnis hilfreich gewesen.

Insgesamt wird das hohe Maß an Komplexität deutlich, dem die mehrstufigen Entscheidungsprozesse im UN-Sicherheitsrat unterliegen. Dass dabei manche der Einflussfaktoren steuerbar, manche vorgegeben sind, lässt auch künftig vor allem Einzelfall-Entscheidungen erwarten. Ob im Sicherheitsrat angesichts sich verändernder weltpolitischer Gewichte künftig eher Ernüchterung oder eher Aufbruch zu erleben sein wird, scheint offen. Solange aber die wünschenswerte Reform des UN-Sicherheitsrates auf sich warten lässt, bleiben Kenntnisse über bisherige Entscheidungsmechanismen dieses Hauptorgans der Vereinten Nationen unerlässlich. Zu deren Vertiefung trägt diese Untersuchung zweifellos bei.

Ekkehard Griep