Rezension über:

Detlef Lehnert (Hg.): Sozialliberalismus in Europa. Herkunft und Entwicklung im 19. und frühen 20. Jahrhundert (= Historische Demokratieforschung; Bd. 4), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2012, 301 S., 6 s/w-Abb., ISBN 978-3-412-20927-8, EUR 42,90
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Rezension von:
Markus Heber
Historisches Seminar, Goethe-Universität, Frankfurt/M.
Redaktionelle Betreuung:
Andreas Fahrmeir
Empfohlene Zitierweise:
Markus Heber: Rezension von: Detlef Lehnert (Hg.): Sozialliberalismus in Europa. Herkunft und Entwicklung im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2012, in: sehepunkte 14 (2014), Nr. 6 [15.06.2014], URL: https://www.sehepunkte.de
/2014/06/23140.html


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Detlef Lehnert (Hg.): Sozialliberalismus in Europa

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Der hier besprochene Sammelband zum 'Sozialliberalismus in Europa' wird von Detlef Lehnert, Professor für Politikwissenschaft an der FU Berlin, herausgegeben. Auf 301 Seiten versammelt das Buch insgesamt dreizehn Beiträge. Einem einführenden Text des Herausgebers, der den historischen Ort des Sozialliberalismus zu bestimmen versucht, folgen, untergliedert in drei Kapitel, weitere zwölf Beiträge. Das erste Kapitel setzt sich mit der 'Frühgeschichte des deutschen Sozialliberalismus' auseinander, das zweite trägt die Bezeichnung 'Friedrich Naumann und deutschsprachige Zeitgenossen', während das dritte Kapitel 'ausgewählte europäische Vergleichsstudien' anzubieten hat.

Vom Sozialliberalismus zu sprechen, setzt zunächst eine Verständigung darüber voraus, was und zu welcher Zeit Sozialliberalismus überhaupt ist und wer als Sozialliberaler zu gelten hat. Die Frage wirft Detlef Lehnert auch in seinem einführenden Beitrag auf: "Wer und was kann in Deutschland als sozialliberal gelten?" (19). Diese Frage ist Dreh- und Angelpunkt des Sammelbandes und begegnet dem Leser in dem Band an gleich mehreren Stellen.

Die Schwierigkeit scheint dabei in der bisweilen komplizierten Differenzierung und Trennschärfe des Begriffs und seines Verständnisses zu liegen. Lehnert spricht zu Beginn von einer bestehenden "terminologische[n] Unschärfe" (20). Deutlich wird das auch im Aufsatz von Hans-Georg Fleck über "Sozialliberalismus und Gesellschaftsreform seit der Reichsgründungszeit" (51-65). Dort zeigt Fleck einen Sozialliberalismus mit "verschiedenen Erscheinungsformen und Akzentsetzungen" (52) an und spricht zudem von einem "Sozialliberalismus älteren und neueren Typs" (62). Um eine Handhabung des Begriffs zu vereinfachen, wird im eröffnenden Beitrag von Detlef Lehnert deshalb eine variable Verwendung des Begriffs angeregt. Sozialliberalismus soll "als Oberbegriff mehrerer unterscheidbarer Aspekte verwendet [werden], für die in anderem Kontext auch eine jeweils unterschiedliche Benennung nützlich sein könnte" (20).

Lehnert betont in seinem einführenden Text, dass Liberalismus "als breit angelegte Strömung" (21) verstanden werden müsse, wozu auch das Zitat passt, mit dem Peter Brandt seinen Beitrag zum Sozialliberalismus in Skandinavien 1890-1914 überschreibt: "Es gibt nicht einen Liberalismus, sondern viele" (221). Sozialliberalismus lässt sich demnach nur schwer isoliert betrachten. Man muss den Sammelband zum Sozialliberalismus deshalb in eine Reihe mit den verschiedenen Arbeiten zur Liberalismusforschung stellen. Ratsam ist es, sich auf das Buch erst einzulassen, wenn man mit einigen bekannten Darstellungen einen Überblick über die Entstehung und Entwicklung liberalen Gedankenguts und ihren Ausdrucks- beziehungsweise Organisationsformen gewonnen sowie sich mit der Liberalismusforschung vertraut gemacht hat. Standardwerke zur Geschichte des Liberalismus in Deutschland gibt es einige. Sicher gehören dazu die bekannten Arbeiten beziehungsweise Sammelbände von Gall, Langewiesche und Sheehan. [1]

Wenige frühere Versuche zum Sozialliberalismus hat es bereits gegeben, wobei insbesondere ein von Karl Holl, Günter Trautmann und Hans Vorländer herausgegebener Sammelband aus dem Jahr 1986 zu nennen ist, der den schlichten Titel 'Sozialer Liberalismus' trägt. [2] Dieser darf als erste und bisher weitgehendste Beschäftigung mit dieser liberalen Strömung gelten. Man kann den Band aus dem Jahr 2012 als zeitgemäße Fortentwicklung betrachten, wird doch der Faden des Holl'schen Sammelbandes aufgenommen und durch Überprüfung der Thesen und Fortsetzung der Überlegungen weitergesponnen.

Trotz des Untertitels "Herkunft und Entwicklung im 19. und frühen 20. Jahrhundert" wird bei eingehender Betrachtung auffallen (was Lehnert in seinem Vorwort auch einräumt), dass "die Mehrzahl der in diesem Band versammelten Texte ungefähr 1890 ihren Anfangs- und mit selten mehr als einigen Ausblicken nach 1920 ihren Endpunkt der Betrachtung hat" (11). Wenn man dann abschließend danach fragt, ob es denn eine Hochzeit des Sozialliberalismus gegeben hat, muss man wohl als Antwort die Ausführungen von Detlef Lehnert zitieren: "Die historische Stunde des Sozialliberalismus kam mit dem Sturz der zentraleuropäischen Kaiserreiche [...]" (201).

Letzten Endes führt diese Einschätzung zur Person Friedrich Naumanns (1860-1919), der dem Leser bereits auf dem Titelbild begegnet. Weiter trägt eine der bereits weiter oben erwähnten Kapitelüberschriften Naumann im Namen. Und ja, keine Frage, in Deutschland ist der Sozialliberalismus mit dem Namen Friedrich Naumann untrennbar verbunden. Peter Theiner hat in seiner Arbeit aus dem Jahr 1983 Friedrich Naumann als den "im Rahmen des politischen Systems seiner Zeit [...] wohl prononciertesten Vertreter eines modernen Sozialliberalismus" bezeichnet. [3] Schon Naumanns Nationalsozialer Verein, der eine siebenjährige Schaffenszeit erreichte, war eine der bekannteren - aber am Ende doch kaum erfolgreichen - organisierten Ausprägungen des Sozialliberalismus im kaiserlichen Deutschland; ihm widmet sich eine Monographie von Dieter Düding aus dem Jahr 1972. [4] Im liberalen Einigungsprozess nach der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert bildete der Sozialliberalismus eine der Strömungen, die miteinander um die richtige Auslegung der liberalen Sache rangen. Mit Friedrich Naumann beschäftigt sich dann im Rahmen des vorliegenden Sammelwerks der Text von Jürgen Frölich (135-157).

Trotz dieser auf den ersten Blick bestehenden Naumann-Fokussierung strebt es der vorliegende Sammelband an, den Begriff Sozialliberalismus zeitlich weiter zu fassen und ihn nicht allein auf eine "späte Frucht in der Geschichte der Liberalen" (35) zu beschränken. Detlef Lehnert spricht in seinem einleitenden Beitrag deshalb auch davon, dass es durchaus Tatsachen gäbe, die "gegen das Naumannsche Ursprungsprivileg" sprechen, da es bereits "lange vor ihm sozialliberale Tendezen im Brückenschlag von liberal - zu sozialdemokratischen Kräften gegeben [habe] " (22). Es wird eine Art Spurensuche betrieben, eine Spurensuche nach ersten sozialliberalen Ansätzen und Entwicklungen, auch über Deutschland hinaus. Der Aufsatz von Dieter Langewiesche, macht hier den Anfang und greift folgerichtig auf die vorwilhelminische Zeit hinaus. "Am Anfang war der soziale Liberalismus" (35). Dieser Satz in Langewiesches Beitrag gibt gleich die klare Richtung vor. Neben der Betrachtung dieses Beginns des sozialen Liberalismus und der Beschäftigung mit Friedrich Naumann, richtet sich der Blick der darauffolgenden Beiträge auf Lujo Brentano und Gustav Stresemann. Europäische Vergleiche entstehen durch die Betrachtung der Situation in Österreich und der Schweiz, Tschechien, den skandinavischen Ländern, Frankreich sowie Italien.

Dem Sozialliberalismus einen breiten Rahmen zu geben, erscheint schon allein deshalb angebracht, wenn man den Feststellungen von Hans-Georg Fleck folgt: "Eine systematische Darstellung sozialliberalen Denkens in Deutschland [bleibt] vorerst ein Forschungsdesiderat [...]" (52-53). Und weiter: "Selbst in der seriösen Forschung [...] hat der Sozialliberalismus bis heute nicht die ihm geistes- und sozialgeschichtlich gebührende Berücksichtigung gefunden" (52). Dieser Einschätzung folgend, ist der vorliegende Sammelband ein nachvollziehbarer Schritt.

Eine Definition und zugleich eine Erklärung, warum sich Sozialliberalismus überhaupt herauszubilden begann, bietet ebenfalls Fleck in einem seiner beiden Beiträge an: "Sozialliberalismus ist [...] der Versuch, Freiheit und Eigenverantwortung unter den wachsenden Herausforderungen einer sich in extremer Weise polarisierenden Industrie- und Massengesellschaft zu bewahren und Wege zu eröffnen, um auch jene an den Errungenschaften der Freiheit teilhaben zu lassen, die der Prozess der ökonomischen und technischen Modernisierung ins gesellschaftliche Abseits geführt oder aber dort gehalten hat" (63).

Das Bemühen ist klar zu erkennen, den Sozialliberalismus in seinen unterschiedlichen und zu verschiedenen Zeiten auftretenden Ausprägungen aufzudecken und dafür einen vergleichenden Blick in europäische Nachbarländer zu wagen. Wünschenswert wäre jedoch noch der Versuch einer abschließenden Synthese gewesen. Ansonsten gilt: der Band schärft das Verständnis für sozialliberale Strömungen, erreicht zudem eine Erklärungsmuster dafür, was Sozialliberalismus im Kern ist (oder besser: sein kann). Ein Verdienst des neuen Sammelbandes liegt zudem in dem Versuch, den Begriff Sozialliberalismus neu in die Diskussion einzuführen und ihn für die weiterführende Verwendung nutzbar zu machen. Wer sich mit der Geschichte des Liberalismus beschäftigt, wird in Zukunft auch zu diesem Sammelband greifen müssen, denn eine Ergänzung zu den weiter oben genannten Standardwerken der historischen Liberalismusforschung und auch zu dem älteren von Holl, Trautmann und Vorländer herausgegebenen Sammelband zum Sozialen Liberalismus, ist das von Detlef Lehnert herausgegebene Buch allemal.

Einen Band zum Ursprung und zur Entwicklung des Sozialliberalismus aufzustellen scheint darüber hinaus überaus zeitgemäß, denn offenbar wird an durchaus prominenter Stelle um die Präsenz und Ausgestaltung eines zeitgemäßen Sozialliberalismus in der Gegenwart gerungen. Jüngst stellte etwa der SPD-Politiker Olaf Scholz, seines Zeichens stellvertretender Vorsitzender der Bundes-SPD und Erster Bürgermeister Hamburgs, in einem Interview mit der Wochenzeitung Die Zeit fest: "Die SPD steht jedenfalls bereit das sozialliberale Erbe anzutreten". [5] Na dann.


Anmerkungen:

[1] Dieter Langewiesche (Hg.): Liberalismus im 19. Jahrhundert. Deutschland im europäischen Vergleich. 30 Beiträge (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd. 79), Göttingen 1988; Dieter Langewiesche: Liberalismus in Deutschland, Frankfurt a. M. 1988; Lothar Gall (Hg.): Liberalismus, Königstein / Ts 1985; Lothar Gall / Dieter Langewiesche (Hgg.): Liberalismus und Region. Zur Geschichte des deutschen Liberalismus im 19. Jahrhundert (Historische Zeitschrift. Beihefte Neue Folge, Bd. 19), München 1995; Lothar Gall (Hg.): Bürgertum und bürgerlich-liberale Bewegung in Mitteleuropa seit dem 18. Jahrhundert, München 1997; James J. Sheehan: Der deutsche Liberalismus. Von den Anfängen im 18. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg 1770-1914, übersetzt von Karl Heinz Siber, München 1983.

[2] Karl Holl / Günter Trautmann / Hans Vorländer (Hgg.): Sozialer Liberalismus, Göttingen 1986.

[3] Peter Theiner: Sozialer Liberalismus und deutsche Weltpolitik. Friedrich Naumann im Wilhelminischen Deutschland (1860-1919), Baden-Baden 1983, 308.

[4] Dieter Düding: Der Nationalsoziale Verein 1896-1903. Der gescheiterte Versuch einer parteipolitischen Synthese von Nationalismus, Sozialismus und Liberalismus, München 1972.

[5] Die Zeit, Nr. 15 vom 3.4. 2014, 10.

Markus Heber