Sophus A. Reinert: Translating Empire. Emulation and the Origins of Political Economy, Cambridge, MA / London: Harvard University Press 2011, XIII + 438 S., ISBN 978-0-674-06151-4, USD 55,00
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Translating Empire ist ein ambitioniertes Buch. Vordergründig geht Sophus A. Reinert der verwickelten Publikations- und Übersetzungsgeschichte eines englischen Handelstraktats von 1695 nach, das im Laufe des 18. Jahrhunderts unter massiver Umarbeitung in mehrere Sprachen übersetzt wurde. Doch diese Geschichte, die es ihm erlaubt nacheinander die ökonomischen Diskurse in England, Frankreich, Italien und Deutschland darzustellen, ist nur der Aufhänger für Reinerts vielfältige Thesen, von denen ich vier herausgreifen möchte: Die erste lautet, dass die Geschichte des ökonomischen Denkens dem Fach einen falschen Kanon zugrunde gelegt hat, nicht nur durch die Heroisierung Adam Smiths, sondern auch die Bevorzugung 'liberaler', freihändlerisch orientierter Denker vor Smith, die zeitgenössisch kaum beachtet worden seien. Denn - zweitens - hätten "Enlightenment economics" nichts mit Freihandel oder laissez-faire zu tun gehabt, sondern seien auch theoretisch als beinharter Kampf um Marktmacht unter Einsatz politischer und militärischer Mittel konzipiert worden. Daher träfen - drittens - die meisten philosophisch unterfütterten Behauptungen zur Entwicklung des ökonomischen Denkens in der Aufklärung nicht oder nur eingeschränkt zu: weder habe die von Albert Hirschman berühmt gemachte Idee der befriedenden und zivilisierenden Wirkung des Handels dem Kampf um ökonomische Macht oder Unterwerfung ihre Schärfe genommen noch hätten die handelsfeindliche Tugendlehre des "civic humanism" oder naturrechtliche Menschheitskonzepte größeren Einfluss gehabt. Denn das 18. Jahrhundert sei - viertens - vom Konzept der "emulation" geprägt gewesen, das mit Nachahmung bzw. Nacheifern eher schwach übersetzt ist, da es zu jener Zeit neben dem Einholen durchaus auch das Überholen beinhaltete. Während Emulation für Reinert einen Grundtatbestand der Wirtschaftsgeschichte darstellt, war das spezifische Objekt nun eben England, das sich anschickte, eine ökonomische "Universalmonarchie" (28) aufzubauen und dessen Wirtschaftspolitik daher zum Studienobjekt ganz Europas wurde. So erklärt der Autor die große internationale Karriere von Carys Essay on the State of England.
Doch der Reihe nach: Reinert beginnt im ersten Kapitel mit der Präsentation seiner drei zentralen Konzepte: Handel als Krieg mit anderen Mitteln, Emulation als einzige Möglichkeit des effektiven Widerstands und die Übersetzung ökonomischer Texte als Informationsbasis eben jener Emulation. An den Zitaten zur Bedeutung der ökonomischen Macht ist besonders spannend, dass sie gerade von Vertretern vieler kleinerer europäischer Staaten stammen. Es ging also nach Reinert nicht (nur) um den Kampf um die Weltherrschaft zwischen Frankreich und Großbritannien, sondern um die Unabhängigkeit jedes Gemeinwesens, ja sogar ihr "civic survival". Denn "many Europeans feared that a state could be enslaved by purely economic means." (27) Das Kapitel schließt mit einer höchst instruktiven statistischen Analyse von Übersetzungen ökonomischer Texte zwischen 1500 und 1850, die zeigt, dass der Markt für die Übersetzung englischer Wirtschaftstraktate um 1750 geradezu explodierte.
Eines der Objekte des Übersetzungsbooms war der "Essay on the State of England" des Bristoler Kaufmanns John Cary, 1695 erstmals publiziert. Carys Essay ist im Grunde ein typisches Produkt der englischen Debatten. Geschrieben von einem Praktiker; nicht gelehrt, aber wie die Korrespondenz des Autors mit Locke zeigt, auch nicht ohne intellektuellen Anspruch; und schließlich in einer spezifischen Situation und politischen Debatte auf ein klares Ziel hin formuliert. Erst in weiteren Umarbeitungen versuchte Cary den generischen Charakter seiner Ausführungen zu verstärken und schließlich eine "science of trade" zu kreieren. Doch es war weniger der (fragwürdige) Wissenschaftscharakter als die praktischen politischen Ratschläge und ihre ideologische Unterfütterung, die auf dem Kontinent Interesse weckten. Carys Text begann eine Karriere als Blaupause des britischen Wirtschaftsimperialismus. Dem eher unbekannten Autor wurde nun jene Bedeutung bei der Formulierung von Politik zugeschrieben, die er sich zeitlebens gewünscht hatte.
Den Anfang machte die französische Übersetzung durch Georges-Marie Butel-Dumont (1755). Er blähte den kleinen Essay nicht nur auf zwei Bände auf, sondern nahm Carys Original eher zum Anlass, eine gelehrte und für andere Staaten exemplarische Geschichte des englischen/britischen Handels zu schreiben. Dieses Konzept griff Antonio Genovesi auf, der ab 1757 auf Basis des französischen Textes seine "Storia del commercio della Gran Bretagna" in drei Bänden publizierte. Beide veränderten den Ursprungstext also erheblich, strichen etliche Passagen und fügten dafür lange Betrachtungen über Themen ein, die bei Cary gar nicht vorgekommen waren. Beide Bearbeiter versuchten Carys rabiaten Nationalismus zu bändigen und mit aufgeklärtem Kosmopolitismus zu versöhnen, indem sie betonten, dass trotz allen Wettbewerbs der Handel und die verbesserte Produktion zur Besserung der gesamten Menschheit beitragen könnten. Zudem waren Carys anti-katholische Tiraden schon von Butel-Dumont gestrichen worden, so dass Genovesis Version dann im Kirchenstaat selbst populär werden konnte. Am Schluss steht schließlich die Übertragung von Genovesis italienischer Version ins Deutsche, die allerdings nach einem Band abgebrochen wurde. Mit großer Kenntnis und Gelehrsamkeit geht Reinert diesen Wandlungsprozessen des Textes nach und zeichnet so ein breites - und spannendes - Panorama ökonomischer, politischer und philosophischer Ideen im Europa der Aufklärung.
Trotz aller idiosynkratischen Veränderungen blieb die grundlegende inhaltliche Botschaft des Essays konstant: Machtgewinn oder bloß das Fortbestehen als unabhängiger Staat hing von robuster merkantilistischer Politik ab. Hier liegt der Kern von Reinerts Buch, das letztlich eine Ehrenrettung des Merkantilismus ist. Staatlich gelenkte Wirtschaftspolitik, die Steigerung gewerblicher Produktion und ein protektionistischer Schutzwall waren im 18. Jahrhundert nicht nur allgegenwärtige, sondern auch rationale, gut durchdachte und durch das historische Exempel des britischen Aufstiegs gerechtfertigte Praxis - und sind es noch heute, wie der Autor vielfach durchblicken lässt.
Reinert vermeidet den Begriff Merkantilismus und die damit verbundenen Debatten und Vorurteile; stattdessen bettet er diese Art von politischer Ökonomie fest in die Aufklärung ein und spricht von "Enlightenment economics", die er der liberalen klassischen Ökonomie entgegensetzt. Diese Terminologie bringt insofern Schwierigkeiten mit sich, als sich die immer wiederkehrenden Grundrezepte bis in das 16. Jahrhundert zurückverfolgen lassen; das zentrale Beispiel dieser Politik bleibt die Navigationsakte von 1651. Als Spezifikum der Aufklärungsökonomie bleibt dann nur die Systematisierung und z.T. theoretische Begründung einer akzeptierten Praxis. Überhaupt wirkt Reinerts Gestus der totalen Neuheit zuweilen übertrieben: weder sind Carys Thesen seinerzeit außergewöhnlich, noch war die Orientierung an England für die europäischen Autoren und Politiker die conditio sine qua non um zu einer produktionsorientierten Wirtschaftspolitik zu gelangen; schließlich ist auch das Bild interventionistischer Wirtschaftspolitik in der Geschichtswissenschaft - wohl mit Ausnahme der angelsächsischen Wirtschaftsgeschichte - nicht so schlecht, wie es der Retter in der Not zeichnet.
Gleichwohl handelt es sich um ein großes Buch, das anhand eines klug ausgewählten Beispiels eine Vielzahl starker Thesen entwickelt, die die Forschung zum Wirtschaftsdenken des 18. Jahrhunderts noch lange beschäftigen werden.
Justus Nipperdey