Rezension über:

Eva Schlotheuber / Hubertus Seibert (Hgg.): Soziale Bindungen und gesellschaftliche Strukturen im späten Mittelalter (14. - 16. Jahrhundert) (= Veröffentlichungen des Collegium Carolinum; Bd. 132), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2013, VIII + 360 S., 26 Abb., ISBN 978-3-525-37304-0, EUR 69,99
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Rezension von:
Peter Hilsch
Eberhard Karls Universität, Tübingen
Redaktionelle Betreuung:
Jessika Nowak
Empfohlene Zitierweise:
Peter Hilsch: Rezension von: Eva Schlotheuber / Hubertus Seibert (Hgg.): Soziale Bindungen und gesellschaftliche Strukturen im späten Mittelalter (14. - 16. Jahrhundert) , Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2013, in: sehepunkte 14 (2014), Nr. 7/8 [15.07.2014], URL: https://www.sehepunkte.de
/2014/07/24331.html


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Eva Schlotheuber / Hubertus Seibert (Hgg.): Soziale Bindungen und gesellschaftliche Strukturen im späten Mittelalter (14. - 16. Jahrhundert)

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Die Beiträge dieses Bandes entstammen einer Tagung auf Schloss Mickeln bei Düsseldorf (2011), die als dritte Veranstaltung zu einer Reihe gemeinsamer Tagungen jüngerer deutscher und tschechischer Historiker und Historikerinnen der Prager Karlsuniversität, der Tschechischen Akademie der Wissenschaften sowie der Universitäten München und Düsseldorf gehört. Die Vorträge zur Geschichte und Kunstgeschichte sind hier vielfach erweitert worden.

In ihrer Einleitung betonen die Herausgeber die Rolle der sozialen Bindungen (Familie, Verwandtschaft, Lehensbeziehungen, Ämterverfassung) für die Struktur der mittelalterlichen Gesellschaft und verweisen vor allem auf die unterschiedlichen Forschungstraditionen der tschechischen und deutschen Geschichtswissenschaft; diese werden in den beiden ersten Beiträgen (Themenblock 1) behandelt.

Neu aufgenommen wurde dazu František Šmahel "Neu entdeckte Geschichtsschreibung. Deutsche Mediävistik in den böhmischen Ländern 1848-1918" (7-28). Der wertvolle und vorurteilsfreie Überblick eines der besten Kenner des böhmischen Mittelalters stellt alle einschlägigen Historiker vor, beginnend mit Constantin Höfler als Gründer des Historischen Seminars der Karlsuniversität und dem Verein für die Geschichte der Deutschen in Böhmen. Dann werden die Geschichtsprofessoren der Deutschen Karls-Universität (seit der Teilung 1882), aber auch die historisch arbeitenden Juristen, Theologen und Archivare, sowie andere deutsche Historiker vorgestellt. Drei der zahlreichen umkämpften historischen Themen im deutsch-tschechischen Nationalitätenstreit skizziert Šmahel im Folgenden: den Kampf um die Fälschungen, den Streit um Hus und die Hussiten und um die nationale Identität Karls IV. Mit Genugtuung stellt der Leser die allmähliche Auflösung der alten Kampfpositionen fest.

Jiří Kuthan führt seinen historischen Überblick "Kunstgeschichte Böhmens, Kunstgeschichte Mitteleuropas" (29-39) fast bis zur Gegenwart fort: von der ersten Prager Professur für böhmische Archäologie und Kunstgeschichte (seit 1850) bis zur großen Ausstellung "Die Parler und der Schöne Stil 1350-1400" (1978/80). Bedeutende Kunsthistoriker sind wenigstens zeitweise in Prag tätig gewesen; mit Ausnahme von Josef Opitz gerieten sie im 20. Jahrhundert mehr oder weniger in das nationale oder nationalistische Fahrwasser, obwohl gerade die Kunst stets grenzüberschreitend tätig war und ist.

Vier weitere Beiträge werden im zweiten Themenblock (Soziale Bindungen und religiöser Kultus) zusammengefasst. Lukas Wolfinger ["Fürst und Ablass. Zu Heilsvermittlung und Heilsfürsorge als Faktoren herrschaftlicher Bindung im Spätmittelalter" (41-78)] untersucht dieses Heilsmedium anhand der habsburgischen Fürsten und kann überzeugend nachweisen, dass nicht nur die Reliquien, sondern auch die Ablässe für die weltlichen Fürsten zur Pflege sozialer Beziehungen oder für die Darstellung demonstrativer Frömmigkeit von Bedeutung waren, obwohl sie Ablässe nur durch Kauf oder politische Beziehungen beschaffen konnten.

Martin Bauch ["Einbinden - belohnen - stärken" (79-111)] behandelt echte und vermeintliche Reliquienschenkungen Karls IV., der wohl mehr Reliquien sammelte als verschenkte. Er vermutet die Entstehung der bekannten Aachener Büste Karls des Großen in Prag und nimmt an, dass Karl IV. sie bei seinem Aufenthalt in Aachen (1372) dorthin geschenkt haben könnte. Der Autor hält die Urkunde der südböhmischen Rosenberger (1354) über die Schenkung bedeutender Reliquien aus der Hand Karls IV. indes für eine Fälschung.

Eva Doležalová ["Herrscher und Kirche. Machtpolitische und soziale Bindungen im luxemburgischen Böhmen" (113-123)] geht besonders auf den Konflikt zwischen König Wenzel und dem Prager Erzbischof Johannes von Jenstein ein.

Patrick Fiska ["Zum Verhältnis Landesfürst-Klöster-Adel unter Herzog Rudolf IV. von Österreich (1358-1365)" (125-163)] liefert einen Überblick über die landeshistorischen Konstellationen dieser Zeit.

Im dritten Themenblock (Ämterverfassung und Lehensbindungen) ist Dana Dvořáčková-Malás Beitrag "Zur sozialen Struktur und höfischen Kultur des böhmischen Herrscherhofes bis 1306" (165-175) als eine außerordentlich nützliche Übersicht über die personale Zusammensetzung und Wirksamkeit des Hofes zu würdigen.

Zdeněk Žalud ["Königliche Lehnsträger am Hofe Johanns des Blinden und Karls IV. Ein Beitrag zur sozialen Stellung der böhmischen Herren von Landstein und der Herren von Kolditz im 14. Jahrhundert" (177-205)] stellt an diesen und anderen Beispielen das vieldiskutierte Thema einer Einführung des Lehnswesens und seiner Bedeutung in Böhmen dar. Julia Eulenstein ["Fehde, Frevel, Sühne, Landesherrschaft? Überlegungen zur Bedeutung adliger und erzbischöflicher Fehdeführung für die Intensivierung von Landesherrschaft im Erzstift Trier unter Erzbischof Balduin von Luxemburg" (208-228)] betont die Umdeutung der bisher üblichen Fehdeführung durch Balduin als Straftat; sie erleichterte ihm den Ausbau seiner Landesherrschaft wesentlich.

Im vierten Themenblock (Soziale Bindungen in der Herrschaftsrepräsentation) fasst Robert Šimůnek ["Adelige Repräsentation durch Nachahmung. Der landesherrliche Hof als Vorbild" (231-260)] in seinem umfassenden Beitrag das zeitlose Thema der imitatio in allen seinen denkbaren kulturellen Formen zusammen. Der Hof der letzten Přemysliden und das 14./15. Jahrhundert stehen bei ihm im Mittelpunkt des von oben nach unten verlaufenden Prozesses (Landesherr→Adel→Bürger→Bauern?). Johannes Abdullahi ["Johann der Blinde und seine 'rheinischen Hansel'. Geld und Hof im zeitgenössischen Diskurs" (261-279)] interpretiert die Bezeichnung "rinenses Henkinos" in der Autobiografie Karls IV. und thematisiert die unterschiedliche Sicht auf König Johann bei den Zeitgenossen: als "Verschwender" galt er in Böhmen, als "großzügig und freigebig" in der Fremde. Ergänzen sollte man dabei auch eine positive Würdigung Johanns in Prag beim deutschen Übersetzer der Dalimilchronik. Romana Petráková ["Herrschaftliche Repräsentation und sakrale Architektur in Breslau während der Regierungen Johanns von Luxemburg und Karls IV." (281-302)] stellt in der bedeutendsten der schlesischen Erwerbungen der Luxemburger die Besuche der neuen Herrscher, ihre materiellen Denkmäler und ihre Förderung kirchlicher Institutionen vor. Helge Kuppe ["Kirchenumbau und Königserhebung. Die Bautätigkeit des Mainzer Erzbischofs Johann II. von Nassau (1397-1419) im Zusammenhang mit seiner Machtpolitik" (303-333)] geht von der Krönung Sigismunds in Aachen 1414 aus, an welcher sich der Erzbischof nicht beteiligt hatte. Er glaubt, aus den baulichen Veränderungen in Mainz unter Johann II. dennoch dessen Ansprüche auf die zentrale Rolle bei den Königskrönungen erschließen zu können. Uwe Tresp ["Zusammenfassung" (335-341)] fasst die auf soziale Bindungen und gesellschaftliche Strukturen im mitteleuropäischen Raum zielenden Beiträge des Sammelbandes zusammen.

Der Band (mit 26 Abbildungen) schließt mit einem Orts- und Personenregister.

Die Beiträge dieses Bandes konnten sicher nicht alle Aspekte des großen Themas behandeln, aber sie vermitteln in den meisten Fällen Forschungsergebnisse und sind mit reichhaltigen und weiterführenden Belegen versehen. Die tschechischen Autoren konnten ihre wichtigen und bei uns wenig bekannten tschechischsprachig publizierten Arbeiten einer größeren Öffentlichkeit vorstellen. Es ist zu wünschen, dass diese offensichtlich fruchtbare Zusammenarbeit weiter fortgesetzt wird. Bei allen grundsätzlichen Einwänden gegenüber allzu zahlreichen Vortrags-Sammelbänden: dieser lohnt sich zu lesen.

Peter Hilsch