Rezension über:

Melissa Calaresu / Helen Hills (eds.): New Approaches to Naples c.1500 - c.1800. The Power of Place, Aldershot: Ashgate 2013, XVIII + 260 S., 7 Farb.-, 38 s/w-Abb., ISBN 978-1-4094-2943-2, GBP 65,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Steffi Roettgen
Institut für Kunstgeschichte, Ludwig-Maximilians-Universität München
Redaktionelle Betreuung:
Hubertus Kohle
Empfohlene Zitierweise:
Steffi Roettgen: Rezension von: Melissa Calaresu / Helen Hills (eds.): New Approaches to Naples c.1500 - c.1800. The Power of Place, Aldershot: Ashgate 2013, in: sehepunkte 14 (2014), Nr. 10 [15.10.2014], URL: https://www.sehepunkte.de
/2014/10/24424.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Andere Journale:

Diese Rezension erscheint auch in KUNSTFORM.

Melissa Calaresu / Helen Hills (eds.): New Approaches to Naples c.1500 - c.1800

Textgröße: A A A

Hervorgegangen aus drei interdisziplinären Workshops, die durch einen network grant des britischen Research Council an den Universitäten Cambridge und York ermöglicht wurden, vereint der Band Einzelstudien, die signifikante Aspekte und Themen des künstlerischen und sozialen Lebens im Neapel der frühen Neuzeit untersuchen. Den methodischen Rahmen steckt die Einleitung der beiden Herausgeberinnen ab. Hier wird der Forschungsstand zur Kulturregion Neapel mit dem Ziel skizziert, die Beiträge vor dem Hintergrund der Rezeptionsgeschichte als Bausteine zu einer Revision der polarisierenden Beurteilung des Mezzogiorno - zwischen Exotisierung und Marginalisierung - zu verorten. Die Wahrnehmung Neapels als fremdartigem, nicht recht durchschaubarem und gefährlichem Ort, für den die herkömmlichen Kategorien der historischen und der kunsthistorischen Klassifizierung nicht greifen, sei von Stereotypen gekennzeichnet, die der Realität nicht gerecht werden. Neapel, so lautet das Fazit, sei insgesamt von der internationalen Forschung vernachlässigt, müsse aber als key-site der kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Beziehungsnetze im Mittelmeerraum verstanden werden. Neuere Debatten zum "Meridionalismo", d.h. dem Phänomen der Retardierung des Südens (Mezzogiorno) gegenüber dem Norden Italiens [1], haben - so wird dargelegt - den Gesamtblick auf die meridionale Kultur mit Neapel als Zentrum mittlerweile verändert und ein Gegengewicht zur Insiderperspektive der bis heute sehr produktiven Lokalhistorie geschaffen, die seit dem 19. Jahrhundert vom Klischee der klimatisch und politisch bedingten Resistenz des Mezzogiorno gegenüber dem gesellschaftlichen und intellektuellen Fortschritten der Moderne geprägt wurde, auf der anderen Seite jedoch diese Sonderstellung stilisierte. Besonderes Gewicht komme der "Kolonialisierung" durch die mehrere Jahrhunderte währende spanische Herrschaft über das Königreich Neapel zu. Dieser eher befremdliche Begriff für das Phänomen der spanisch-habsburgischen Hegemonie, die bisher, vor allem seitens der spanischen Forschung, als eine für Neapel kulturell und sozial ertragreiche Verbindung gesehen wurde, wird gewählt, um das soziale und politische Konfliktpotential zu charakterisieren, das sich aus der spanischen Herrschaft in Süditalien ergab.

Die neun, als "Kapitel" definierten Beiträge werden nach folgenden Blöcken gruppiert: 1. Katastrophe und Niedergang 2. Topografie 3. Ausnahmestatus (exceptionality), und geben damit eine thematische Ausrichtung vor, die jedoch sehr unverbindlich bleibt. Im Beitrag von Marino wird das Bild Neapels in der Historiografie seit Macchiavelli und Guicciardini untersucht. Beide Autoren führten die Unterlegenheit Neapels sowohl auf das Fehlen republikanischer Strukturen wie auch auf den Mangel an Tugenden bei den Herrschern (capi) zurück, welche die ihnen von der Gemeinschaft übertragene Macht zu deren Schaden ausübten. Diese Sicht und das Andauern der internen gesellschaftlichen Parteiungen während des 16. und 17. Jahrhunderts beeinflussten das Geschichtsbild des 19. und 20. Jahrhunderts, das den gesellschaftlichen Fortschritt der Renaissance nur mit den republikanisch geprägten Stadtstaaten Mittel- und Norditaliens verband. Die notorische Rückständigkeit des Südens wird seitdem auf seine durch die Landwirtschaft geprägte Feudalstruktur zurückgeführt, deren Beseitigung im 19. Jahrhundert zu einem der Hauptziele des Risorgimento wurde. Die Wahrnehmung der Renaissance als Wiege der Moderne seitens der Geschichtswissenschaft trug das Ihre zur Verfestigung des Topos der "due Italie" bei. (Dualismus) Diesem Thema geht Anna Maria Rao im Hinblick auf drei signifikante Ereignisse und Perioden der Geschichte Neapels nach: 1. Masaniello-Aufstand (1647) 2. Aufklärung unter den Bourbonen und 3. Parthenopäische Republik (1796-1799). Die Autorin legt hier die oft diametral divergierenden Positionen der Historiker bei der Beurteilung dieser Ereignisse dar.

Der Beitrag von Hills gilt der ab 1608 errichteten Kapelle des hl. Januarius am Dom und deren Ausstattung mit Reliquien, Silberreliquiaren, Statuen sowie Textil- und Marmorverkleidungen. An der Materialität dieser den Betrachter überwältigenden Objekte wird die durch Katastrophen genährte Frömmigkeit des gläubigen Neapels (Napoli fedelissima) manifest, das nicht auf irdische, sondern allein auf die Hilfe seiner Heiligen und besonders die des hl. Januarius vertraute. Die Verflüssigung seines Blutes wird durch die Materialien der Kapelle üppig in Szene gesetzt, zugleich aber den Blicken und dem visuellen Nachvollzug des Wunders entzogen. Ziemlich gewagt erscheint Hills These einer anschaulichen und beabsichtigten Analogie zwischen dem schmelzbaren Material des Silbers der Reliquiare und der Verflüssigung des als Reliquie verehrten Blutes. Um die Pestepidemie von 1656 und ihre Bilder geht es in dem Text von San Juan. Der Seuche fielen mehr als 150.000 Menschen zum Opfer, und da die staatliche Gesundheitsfürsorge versagte, waren die Stadtpatrone als Heiler gefragt. Mithilfe von papiernen Votivbildchen, die man auf die betroffenen Körperteile der Kranken legte, glaubte man, die Seuche zu bannen. Tatsächlich aber trugen die von dem Kupferstecher Nicholas Perrey gefertigten und in großer Anzahl vertriebenen Heiligenbildchen durch Kontamination zur weiteren Verbreitung der Pest bei. Der Beitrag von Hendrix nimmt die Kartografie und Ikonografie Neapels vom späten 15. bis ins 18. Jahrhundert in den Blick. Dank seiner einmaligen Lage am Golf, der Nähe zum Vesuv und der effektvollen urbanen Textur verfügt Neapels Ikonografie über einen Reichtum, der Venedig und Rom kaum nachsteht. Seit 2009 wird an der Digitalisierung des Bildmaterials gearbeitet (http://www.codexcampania.it). Während die Reiseliteratur des 16. Jahrhunderts unter den "bellezze di Napoli" seine aus der Antike stammenden Sehenswürdigkeiten verstand, wie etwa die Grotte des Posillipo, wird ab circa 1560 die urbane Identität eher durch die Heiligen und ihre Kultorte geprägt. Erst im 18. Jahrhundert nimmt aufgrund des Interesses der Reisenden auf Grand Tour an den Ausgrabungen in Herculaneum und Pompeji die Bedeutung der "profane pilgrimage" wieder zu.

Mit dem Ende der Habsburger Herrschaft setzte 1734 ein neues Kapitel der politischen Geschichte Neapels unter dem Vorzeichen des aufgeklärten Absolutismus ein, das dem Königreich und der Stadt eine Glanzzeit bescherte, deren Protagonisten zwei Könige aus dem Geschlecht der spanischen Bourbonen waren: Karl VII. (1734-1759) und sein Sohn Ferdinand IV. (1759-1798). Vor allem Karl VII. ist die Modernisierung der Stadt, die Verbesserung der Verwaltung und der sozialen Einrichtungen und die Melioration der Landschaft zu danken. Seine intensive Bautätigkeit und die Ausgrabungen in Herculaneum und Pompeji erhöhten die Anziehungskraft Neapels für den Tourismus und zogen auch eine Reihe von Künstlern an den Hof, denen die visuelle Inszenierung der neuen Blüte der "Campania felix" anvertraut wurde, die von der Reiseliteratur in den höchsten Tönen gepriesen wurde. Zahlreiche königliche Güter und Jagdreviere ("siti reali") wurden nach spanischem Vorbild angelegt oder ehemalige Güter aus Adelsbesitz zu Landschaftsparks umgestaltet. Helena Hammond widmet sich diesem interessanten Aspekt unter Heranziehung eines Gemäldes von Claude-Joseph Vernet (1746), das eine königliche Jagd zeigt. Zwei weitere Beiträge gelten den Musikaliensammlungen und Wissenschaftssammlungen des 18. Jahrhunderts. Energiespender des musikalischen Lebens waren die vier öffentlichen Musikschulen, die in den großen Klöstern der Stadt eingerichtet wurden, und die im frühen 19. Jahrhundert zum noch heute existierenden Konservatorium S. Pietro a Maiella mit einer der weltweit größten Musikalienbibliotheken vereint wurden. Fabris lenkt den Blick dagegen auf ältere Musikaliensammlungen, die sich anhand von Inventaren noch nachweisen lassen, deren Bestände zur Beute der britischen Reisenden wurden, die zahlreiche Notenmanuskripte nach England brachten. Bedeutend waren auch die kulturellen und naturwissenschaftlichen Einrichtungen, die Ferdinando Spinelli, Principe di Tarsia, 1747 in seinem Palast einer größeren Öffentlichkeit zugänglich machte. Während von den materiellen Zeugnissen dieser hochstehenden Kultur der Aufklärung vor Ort kaum mehr etwas vorhanden ist, hat sich das neapolitanische Volksleben zu einem Mythos verdichtet, der bis heute wirkt. Seiner Entstehung und Vermarktung in Stichen, Krippenfiguren und Gemälden, die im 18. Jahrhundert mit einer nicht nur ästhetischen Aufwertung des popolo napoletano einhergeht, widmet sich Calaresu.

Angesichts der mit Nachdruck vorgetragenen methodischen Ambitionen dieser Publikation ist der Vergleich mit der 2009 in deutscher Sprache erschienenen Kulturgeschichte Neapels, die von einem großen Autorenteam erarbeitet wurde [2], unvermeidlich. Dort werden Fragestellungen und Themen, die der hier besprochene Band anschneidet, auf einer wesentlich breiteren Informationsbasis abgehandelt und mit einer klaren Strukturierung nach Themen und Kategorien. Die deutsche Publikation sucht man in den bibliografischen Angaben des hier besprochenen Buches allerdings ebenso vergeblich wie andere deutschsprachige Autoren, die sich in den letzten Jahren mit der kulturellen Identität Neapels befasst haben. Ist, so bleibt zu fragen, diese Ausblendung nur den sprachlichen Barrieren geschuldet oder ist sie das Ergebnis einer fragmentierten Spezialisierung, die es sich unter dem Dach der Interdisziplinarität bequem gemacht hat? Jedenfalls klaffen Anspruch und Ergebnis bei dieser Publikation deutlich auseinander, was die Validität einzelner Beiträge jedoch nicht schmälert.


Anmerkungen:

[1] Robert Lumley / Jonathan Morris: Nuove prospettive sul Mezzogiorno d'Italia, Roma 2009.

[2] Salvatore Pisani / Katharina Siebenmorgen: Neapel. Sechs Jahrhunderte Kulturgeschichte, Berlin 2009, Rezension von Moritz Buchner, Januar 2012 [http://www.h-net.org/reviews/showrev.php?id=35094].

Steffi Roettgen