Rezension über:

Alexander Nagel: Medieval Modern. Art out of Time, London: Thames & Hudson 2012, 312 S., 104 Farb-, 30 s/w-Abb., ISBN 978-0-500-23897-4, GBP 29,95
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Rezension von:
Stefan Trinks
Institut für Kunst- und Bildgeschichte, Humboldt-Universität zu Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Philippe Cordez
Empfohlene Zitierweise:
Stefan Trinks: Rezension von: Alexander Nagel: Medieval Modern. Art out of Time, London: Thames & Hudson 2012, in: sehepunkte 14 (2014), Nr. 11 [15.11.2014], URL: https://www.sehepunkte.de
/2014/11/23623.html


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Alexander Nagel: Medieval Modern

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Alexander Nagel hat ein Buch geschrieben, aber es wird nicht recht klar, worüber. Schon die formale Beziehung der beiden Adjektive im Titel seines Werkes "Medieval Modern" ist vage. In roten Buchstaben sind sie auf dem Cover im rechten Winkel um Lyonel Feiningers Bauhaus-Kathedralholzschnitt gelegt: "Medieval" horizontal über der "Kathedrale", "Modern" vertikal abgehängt unter dem Scharnier-Untertitel "Art Out of Time" in der rechten Ecke. Betont diese Spreizlage den Graben zwischen beiden oder überbrückt sie diesen gerade? Was sollen die beiden Eigenschaftswörter, die keine Epochenbegriffe mehr sein wollen und denen im Buch erlaubt wird, sich so lange frei zu tummeln, bis sie im Begriffsnebel verloren gegangen sind?

Nagel, Renaissanceexperte und Professor an der New York University, versucht 300 Seiten und 21 Kapitel hindurch, das Mittelalter durch die Moderne zu verstehen und umgekehrt. Leider bleibt bis zum Schluss offen, was für ihn "Mittelalter" und "Moderne" bedeuten. Pablo Picassos Les Demoiselles d'Avignon wird mittelalterlichen Altarretabeln an die Seite gestellt, Kurt Schwitters Merzbau wird zum Schrein "erotischen Leidens" und von der Reliquie bis zum Readymade ist es nur ein Sprung. Dieses fröhliche Assoziieren gelingt teils überzeugend, teils überhaupt nicht. Auf die mittelalterlichen Wurzeln der Bauhaushütte und die Geburt der modernen Lichtkunst eines Lázlo Moholy-Nagy, Dan Flavin oder James Turrell aus den Glasfenstern gotischer Kathedralen wären die meisten Leser vielleicht selbst gekommen; einen Altar von Cimabue aus dem 13. Jahrhundert über Guillaume Apollinaire mit dem Design eines Flugzeugs in Verbindung zu setzen, kann der Leser eher schlecht nachvollziehen. Der Kunstkanon wird zwar beibehalten, allerdings kräftig durcheinander gewirbelt, sodass erhellende neue Verbindungen entstehen. Einleuchtend arbeitet Nagel beispielsweise heraus, dass die "Non-Site" Robert Smithsons abstrakter ist als jedes Werk des Abstrakten Expressionismus. Smithsons "Site-Specificity" kann besser verstanden werden vor dem Hintergrund der frühmittelalterlichen Entwurzelungserfahrung und der an frühe Land Art gemahnenden Steinreliquiensammlung der Sancta Sanctorum in Rom aus dem 6. Jahrhundert. Auch erinnert er daran, dass Johannes Calvin nicht die Bilder attackierte, die einen visuellen Überschuss besaßen, sondern nur diejenigen, die ungenügend referentiell waren. Nur so sei zu erklären, dass im Kampf gegen die Ikonoklasten versucht wurde, die Heiligenbilder nicht weniger "authentisch", sondern im Gegenteil authentischer zu gestalten und ihre indexikalische Qualität zu erhöhen, um sie gegen den Vorwurf der Idolatrie zu schützen. Dass die Moderne diesen Kampf des Mittelalters mit neuer Stärke fortsetze, lässt Nagel als unbelegte Hypothese stehen.

Diese alleatorische Sprunghaftigkeit kann produktiv sein. Sie verspricht Kohärenz und sie sieht Bedeutung, wo vorher keine war. Eine Provokation, eine Herausforderung unseres Zeitsinns, wie es der englische Klappentext reißerisch behauptet, ist das, dank Aby Warburg, allerdings längst nicht mehr. Ein kunsthistorisches Standardwerk wird es vermutlich aufgrund der mangelnden Systematik nicht.

Die Kombination aus schillernden Thesen und Hochglanzfotografien der diskutierten Werke kleiden Nagels Buch in ein messianisches Gewand. Es ruft dem Leser zu: Siehe, ich mache alles neu! Neu ist sein Ansatz jedoch nicht und das weiß auch sein Autor. Schon Wilhelm Worringer, Meyer Schapiro oder Leo Steinberg suchten Gemeinsamkeiten zwischen "Mittelalter" und "Moderne", wie Nagel einräumt (12). Beide Epochen mißachteten für die bisherigen "Medievalists" meist produktiv das Schöne und die Illusion. Das Einreißen festgefügter Epochenkonstruktionen ist längst zur kunsthistorischen Fingerübung geworden. Doch will Nagel einen Schritt weiter gehen, was der Untertitel seines Buches, der auf dem Buchcover das Gelenk zwischen "Medieval" und "Modern" bildet, verrät: "Art Out of Time".

Spätestens seit seinem zusammen mit Christopher Wood verfassten Buch "Anachronic Renaissance" [1], das Wellen über die Kunstgeschichte hinaus geschlagen hat, interessieren Nagel "relations of contemporaneity persistently routed through anachronisms" (26). Das Buch handelt nicht von der Neuziehung von Geschichts- oder Stilepochen, es geht Nagel nicht einmal um ein wie immer geartetes "Mittelalter", sondern um "Art works that refuse to stay stably in their time" (26). Michelangelo wird in diesem Buch daher ebenso behandelt wie Caravaggio und Watteau, sodass der Leser zunehmend den Eindruck gewinnt, Nagel verhandle seine Spezialthema unter dem Deckmantel vorgeblicher "Medievalisms". Ihn interessiert nicht länger die alte Geschichte, sondern eine andere und welche aus der Zeit und dem Mainstream fallenden Kunstwerke die Zeiten überdauern. Das ist so vollmundig wie folgenlos und am Titel des Buches vorbei. Denn sieht man von einigen zeitsurfenden Benjaminzitaten, dem alt-neuen Kulturwissenschaftskitsch, ab, liefert er keine theoretische Fundierung dieser Anachronismen. Benjamin wird immer da benutzt, wo der Autor nicht mehr an geschichtliche Kontinuität glaubt, aber trotzdem an der Kohärenz hängt; dort beispielsweise, wo es peinlich geworden ist, festzustellen, dass ein Bild besser oder wichtiger ist als ein anderes, aber trotzig die Vorrangstellung einiger weniger Bilder verteidigt werden soll. Wie genau das Bild seine Historizität überschreitet, ob in der "ikonischen Differenz" [2], im "schematischen Bildakt" [3] oder auf andere Weise, dieser Frage weicht Nagel in seinem kaleidoskophaftem Buch aus. Stattdessen schrammt er immer wieder haarscharf an metaphysischer Spekulation und mystischer Bildverehrung vorbei. Darüber hinaus lässt er sich in unschöne Widersprüche verwickeln: Es erscheint inkonsequent, erst mit aller Epochemacherei aufzuräumen, nur um dann wieder die Sattelzeit "um 1800", in der die Menschen das Museum erfanden und lieben lernten, als die wahrhaft bedeutende künstlerische Wegscheide des letzten Jahrtausends zu feiern (58ff.), zumal diese zwar für die Geschichte der "Medievalisms" bedeutend ist, nicht aber für die Mittelalterrezeption moderner Künstler.

Weil Nagel seinen Bildern so viel Kraft zuschreibt, verwundert es, wie wenig er ihnen vertraut. Seine Erläuterungen sind nicht aus dem Bild heraus entwickelt, sondern privilegieren andere (Schrift-)Quellen. Selten sieht man daher in den Abbildungen etwas, das man vorher nicht entdeckt hat; seltenst überraschen sie einen. Nagels Buch entwickelt im ersten Kapitel immerhin einen Kriterienkatalog latenter Strukturen, die sowohl "medieval" als auch "modern" sein sollen, wie "iconoclasm", "memory" und "authorship" (12ff.). Wenn "authorship" allerdings für die gotische Kathedrale von Chartres in gleichem Maße gelten soll wie die Bauhaushütte, wenn der Diamantenschädel von Damien Hirst mehr als nur eine oberflächliche Ähnlichkeit mit dem Reliquiar von Saint-Yrieix haben soll, müssten die Kriterien besser begründet und genauer gefasst sein. Mehr als logische Stringenz fehlt diesem Buch aber die theoretische Reflexion dessen, was "Interpiktorialität" genannt werden könnte. Welche Beziehungen können ein Cimabue und ein Flugzeug haben? Inwiefern wird der eine zum "Vorläufer" des anderen, und welche Folgen hat die Verwendung dieser Metapher? Besteht die Verbindung in einer "Assoziation" eines Kritikers, des Künstlers oder eines Betrachters, und worin läge der methodische Unterschied? Nagels Strategie ist, sich diese Fragen nicht zu stellen und nur immer neue Ausdrücke für die Beziehungen zwischen alten und neuen Bildern zu finden. Was mit "medieval dimensions" gemeint ist, was genau "patterns", "themes" und "structural analogies" der Kunstgeschichte sind, wird an keiner Stelle definiert. Manche Wendungen bleiben bloße Rhetorik, etwa wenn Nagel behauptet, die zeitgenössische Kunst "speaks strongly to medieval Christian patterns of sacramental authorization"; oder wenn die Rede ist von "Erik Satie's love affair with Gregorian chant" (14). All diese Schlagzeilen werden nicht voneinander geschieden, sondern in einem Potlatch vor dem Leser ausgekippt.

Dabei können aus der präzisen Kontrastierung von "medieval" und "modern" durchaus Funken geschlagen werden, wenn die Möglichkeit einer Beziehung zwischen zwei Bildern genau bestimmt wird. Mediävisten, die nicht verzweifeln wollen an der Gier der Zeitgenossen nach Kunst von heute, sind tatsächlich in besonderem Maße zu einem Brückenschlag berufen. Schließlich ist "das Mittelalter", wenn es irgendetwas ist, derjenige Abschnitt, der in seiner Religiosität, seinem Visualismus und seiner Ökonomie das große Gegenbild unserer Moderne und zugleich unser Spiegel ist: Unsere Sprache, unser Bild vom Menschen und das Verhältnis zur Natur sind dem Mittelalter näher als alle anderen Zeiten zuvor. Ein Mediävist könnte den Blick haben für die strukturelle Differenz scheinbar ähnlicher Formen, aber auch die produktionsästhetischen Gemeinsamkeiten im Grunde unvereinbarer "Stile" erkennen. Möglich würde ein solcher Blick durch eine systematische interpiktorielle Theorie, welche die Beziehung zweier Bilder aus unterschiedlichen Zeiten nicht als selbstverständlich empfindet, sondern sie problematisiert. Die Potenz des Bildes zeigt sich erst durch eine differenzierte Einflussforschung. In diesem Sinne ist das Mittelalter heute moderner denn je, in diesem Sinne müßte das Buch allerdings auch so präzise wie ein mittelalterlicher Langbogen geführt sein, um durch die Zeiten hindurch ins Schwarze zu treffen.


Anmerkungen:

[1] Alexander Nagel / Christopher S. Wood: Anachronic Renaissance, New York 2010.

[2] Z.B. Gottfried Boehm: Ce qui se montre. De la différence iconique, in: Penser l'image, éd. p. Emmanuel Alloa, Dijon 2010, 27-47.

[3] Horst Bredekamp: Der schwimmende Souverän. Karl der Große und die Bildpolitik des Körpers. Eine Studie zum schematischen Bildakt, Berlin 2014, v.a. 7ff.

Stefan Trinks