Ed Sanders: Envy and Jealousy in Classical Athens. A Socio-Psychological Approach, Oxford: Oxford University Press 2014, XIII + 207 S., ISBN 978-0-19-989772-8, GBP 47,99
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Die Erforschung der Emotionen erfreut sich seit Jahren wachsender Beliebtheit in der Geschichtswissenschaft, in der Alten Geschichte zeugen davon gleich mehrere neue Reihen. Von Robert A. Kaster und David Konstan herausgegeben wird die Serie "Emotions of the Past", deren zweiter Band das hier anzuzeigende, aus einer Dissertation bei Chris Carey hervorgegangene Werk ist. Thema ist der phthonos in der klassischen athenischen Literatur [1] nach gängiger Epocheneinteilung (479-322 v. Chr.), wobei Sanders sowohl die Emotionen an sich als auch deren sozialen Ausdruck und literarische Darstellung als Untersuchungsziele definiert. Das Buch lässt sich in drei Teile gliedern: Die ersten drei Kapitel stellen die Methodik der Untersuchung vor, das vierte gleicht die in Aristoteles' "Rhetorik" entwickelte Theorie des Neides mit der modernen Forschung ab, die letzten vier Kapitel enthalten Fallstudien zum phthonos in bestimmten Gattungen, wobei der Schwerpunkt auf Gerichtsreden und Dramen liegt.
Der phthonos ist bereits zuvor Gegenstand ausführlicher Untersuchungen gewesen [2], doch leiden diese laut Sanders an ihrem lexikalischen Zugriff. Seine Kritik an der Methodik, Emotionen auf der Grundlage von Begriffen zu untersuchen, untermauert er mit zwei Beobachtungen: Erstens sei phthonos ein negativ besetzter Begriff, der niemals zur Selbstbeschreibung eingesetzt werde; er könne also auch am Werke sein, wenn der Begriff nicht fällt. Zweitens habe es in der griechischen Klassik sexuelle Eifersucht gegeben, aber keinen eigenen Begriff dafür. Dem lexikalischen Ansatz setzt Sanders die von Kaster [3] eingeführte Methode der "Skripte" entgegen, die sich der Emotion über die Abstraktion emotionaler Episoden nähert.
Den im Titel genannten sozialpsychologischen Ansatz rechtfertigt Sanders mit dem Verweis auf die Ergebnisse experimenteller Forschung, wonach "Neid" und "Eifersucht" [4] zur Gruppe der sekundären Emotionen gehören, die im Gegensatz zu primären Emotionen erst im Rahmen der Sozialisation entstehen und daher von der umgebenden Gesellschaft geprägt sind; bei Historikern dürfte er damit auf wenig Widerstand treffen. Sehr lesenswert sind seine knappen Ausführungen zum Spektrum der Skripte des phthonos: Auf breiter Quellenbasis legt Sanders dar, dass phthonos sich sowohl auf ein Gut des anderen bezieht, das man selbst gerne hätte, wobei ein sozialer Vergleich impliziert ist (Neid), als auch auf ein Gut, auf das man einen Anspruch zu haben glaubt, wobei eine persönliche Rivalität mitschwingt (Eifersucht). Das Bedeutungsspektrum des phthonos ist demnach weiter als eines modernen englischen oder auch deutschen Begriffs.
Neid ist laut Sanders in der modernen wie in der klassischen griechischen Gesellschaft eine gesellschaftlich geächtete Emotion, die als moralisch niedrig wahrgenommen werde und die Kohärenz der Gesellschaft gefährde; wer Neid empfinde, fühle gleichzeitig Scham darüber und tendiere zu einer verzerrten Wahrnehmung der eigenen Emotion: Neid werde in der Selbstwahrnehmung zu Ärger oder Entrüstung oder gar zum Streben nach Gleichheit umgedeutet. Damit hat Sanders zweifelsohne recht, aber er ignoriert die andere Seite der Medaille: Forderungen nach einer gerechteren Verteilung von Ressourcen werden gerne als neidgesteuert diskreditiert, wie es in zeitgenössischen Debatten im Kampfbegriff der "Neidgesellschaft" ausgedrückt wird. [5] Für das Kernproblem der Emotionengeschichte - wie man von einer Analyse der gesellschaftlichen Kommunikation über Emotionen zu den Emotionen selbst gelangt - vermag auch Sanders keine schlüssige Lösung zu liefern.
Die Textanalysen in den Kapiteln 5 bis 8 enthalten eine Vielzahl interessanter Beobachtungen, wobei Sanders sorgfältig zwischen den in den Texten genannten Emotionen und den Emotionen, die sie beim Publikum auslösen sollten, trennt. Bei den Rednern stellt Sanders verschiedene Strategien fest, mit Neid umzugehen: Während Aischines in der Gesandtschaftsrede und Demosthenes in der Kranzrede den jeweiligen politischen Gegner als Neidgetriebenen zu diskreditieren suchten, habe Demosthenes in der Rede gegen Meidias den Neid der Richter auf den reichen Angeklagten anstacheln wollen. Die Komödie analysiert Sanders auf der Grundlage von Platons im Dialog "Philebos" entwickelter These, dass sie dem Publikum Schadenfreude (Sanders benutzt den deutschen Begriff) habe bereiten sollen. Komödien wie die "Ritter" hätten darauf abgezielt, Schadenfreude über den auf der Bühne gedemütigten Demagogen auszulösen, jedoch habe der Dichter ein gewisses Maß nicht überschreiten dürfen. In Euripides' "Medea" sei die Titelheldin, nachdem sie von Jason verlassen wurde, nicht nur von Trauer, Stolz und Wut erfüllt, sondern auch von phthonos, der hier Eifersucht auf die Rivalin ausdrückt.
Es wäre ungerecht, von einem solch schmalen Buch detaillierte Lösungen zu Forschungsproblemen in einem solch komplexen Thema zu erwarten. Die Analyse der Fallbeispiele attischer Literatur umfasst insgesamt nur 90 Seiten, so dass den vielschichtigen und vielerforschten Werken jeweils nur wenige Seiten gewidmet werden können. Auch werden die historischen Rahmenumstände ausgeblendet: Die Frage etwa, wie die gewaltigen Eruptionen des Peloponnesischen Krieges mit den Bevölkerungsverlusten durch Kampfhandlungen und Seuchen, den politischen Umstürzen und Bürgerkriegen sich auf die Emotionen der Athener ausgewirkt haben, bleibt unbeantwortet, weil sie gar nicht gestellt wird. Doch trotz dieser Kritikpunkte ist Sanders dafür zu loben, dass er den Blick auf die Allgegenwart und den Facettenreichtum des phthonos in der klassischen Literatur lenkt und damit einen frischen Blick auf bekannte Texte eröffnet.
Anmerkungen:
[1] Sanders beschränkt sich auf die literarischen Quellen. Für eine Untersuchung von Emotionen auf der Grundlage von Inschriften siehe Angelos Chaniotis (ed.): Unveiling emotions: sources and methods for the study of emotions in the Greek world, Stuttgart 2012.
[2] Sanders setzt sich vor allem mit zwei Werken auseinander: Peter Walcot: Envy and the Greeks. A study in human behaviour, Warminster 1978, und David Konstan / N. Keith Rutter (eds.): Envy, spite and jealousy, Edinburgh 2003. Forschungen, die auf anderen Sprachen als englisch erschienen sind, z.B. Ernst Milobenski: Der Neid in der griechischen Philosophie, Wiesbaden 1964, nimmt Sanders nicht zur Kenntnis.
[3] Robert A. Kaster: Emotion, restraint, and community in Ancient Rome, Oxford 2005.
[4] Diese Übersetzung der englischen Begriffe "envy" und "jealousy" ins Deutsche hält der Rezensent trotz geringer Unterschiede für unproblematisch.
[5] So nimmt es wenig wunder, dass die Ostrakisierung führender Athener in vielen Quellen auf den Neid des breiten Volkes zurückgeführt wird; dass wirklich Neid am Werk war, ist damit noch nicht bewiesen (siehe dazu Christian Mann: Macht des Volkes - Disziplinierung des Adels: Überlegungen zur Funktion des Ostrakismos, in: A. de Benedictis u.a. (Hgg.): Die Sprache des Politischen in actu, Göttingen 2009, 31-50).
Christian Mann