Angelo Bolaffi : Deutsches Herz. Das Modell Deutschland und die europäische Krise. Aus dem Italienischen von Christine Ammann und Antje Peter, Stuttgart: Klett-Cotta 2014, 289 S., ISBN 978-3-608-94885-1, EUR 21,95
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Angelo Bolaffi muss man hierzulande nicht vorstellen. Der an der Universität La Sapienza in Rom lehrende Politologe und Philosoph gilt seit mehr als einem Vierteljahrhundert als einer der besten Deutschlandkenner Italiens. Zahlreiche wissenschaftliche Publikationen und tagespolitische Zwischenrufe begründeten diesen Ruf. Von 2007 bis 2011 leitete er außerdem das italienische Kulturinstitut in Berlin, das sich unter seiner Führung intensiv um den deutsch-italienischen Kulturtransfer bemüht hat.
Sein neues Buch Deutsches Herz hat sein Ansehen weiter gehoben. Es war bereits 2013 in aller Munde, in Italien sowieso, aber auch in Deutschland, obwohl es nur in der italienischen Ausgabe zu haben war. Seit es auf Deutsch vorliegt, weist die Aufmerksamkeitskurve noch weiter nach oben.
Bolaffi hat sein Buch in drei Großabschnitte gegliedert. Im ersten Teil bietet er eine Art Rückblick auf die Geschichte Deutschlands und Europas nach dem Fall der Mauer 1989. Der Autor erblickt darin und in der dann folgenden deutschen Wiedervereinigung den "Anfang einer neuen geopolitischen Ära der Menschheitsgeschichte", weil sich die Ereignisse im Herzen Europas mit neuartigen, seit langem spürbaren Globalisierungsprozessen verbunden hätten, die nach der epochalen Wende von 1989/90 eine unerhörte Dynamik gewannen und alles in Frage stellten, was bis dahin als sicher und dauerhaft gegolten hatte. Auch der auf den "Trümmerfeldern des Zweiten Weltkrieges" geborene, als Absicherung gegen deutsche Herrschaftsambitionen gedachte Europagedanke ging in den Augen Bolaffis "unter den Resten der Berliner Mauer" verloren. Die Antwort auf diesen Verlust hält er für wenig befriedigend, weil sie sich ganz in den alten Bahnen bewegte. Nach wie vor ging es den europäischen Staatsmännern darum, die Gespenster der Vergangenheit zu bannen, während sie die Herausforderungen der Globalisierung ignorierten. EU und Euro blieben so politisch eine halbe Sache, was aber angesichts der Machtverhältnisse in Europa unvermeidlich gewesen sei. Die Europäer konnten sich nicht auf eine politische Union einigen, obwohl das eigentlich zwingend gewesen sei. In nationalen Egoismen befangen und von altem, rückwärtsgewandtem Denken heillos infiziert, begnügten sie sich mit einer Währungsunion und hofften, so die Deutschen zähmen zu können und die eigene Souveränität nicht antasten zu müssen.
Im zweiten Teil geht es um das Modell Deutschland, seine Geschichte, seine Strukturmerkmale und seine Attraktivität, wobei Angelo Bolaffi hier ein so enthusiastisches Porträt zeichnet, dass man als Deutscher erröten könnte, wie Gustav Seibt in der Süddeutschen Zeitung geschrieben hat. Die Bundesrepublik habe sich nach einer bemerkenswerten Abkehr von der NS-Vergangenheit vorbehaltlos zu den westlichen Werten bekannt, sie habe einen "radikalen historischen Bruch" vollzogen, den man "durchaus mit der Reformation Martin Luthers vergleichen" könne. Entstanden sei so eine "Oase der Stabilität und Liberalität", in der nahezu alles klappt - die demokratischen Institutionen ebenso wie die Sozialpartnerschaft, die sozialen Sicherungssysteme nicht anders als die Mechanismen der Integration von Ausländern. Berlin hat es Angelo Bolaffi dabei besonders angetan. Die deutsche Hauptstadt leuchtet, sie sei die Hauptstadt Europas und eine der anregendsten und liberalsten Metropolen der Welt, die "Welthauptstadt der Zweiten Moderne".
Im dritten Teil greift Bolaffi das Thema Europa noch einmal auf. Er rekapituliert dabei die Etappen der europäischen Einigung nach 1945, wobei er den ungelösten Dualismus von "Föderalisten" (die auf Vereinigte Staaten von Europa zielten) und "Konföderierten" (die eine Konföderation von Nationalstaaten wollten) und die daraus resultierenden Handlungsschwächen in Krisenzeiten besonders akzentuiert. Vor 1989/90 hätten diese Defizite nicht weiter gestört, danach seien ihre schädlichen Wirkungen aber nicht mehr zu übersehen. Vor allem das Gründungsnarrativ Europas habe sich überlebt, weil es - wie schon angedeutet - ganz im Zeichen der Aussöhnung einst verfeindeter Völker gestanden habe. Dieses Problem der Aussöhnung bestehe jetzt aber nicht mehr. Zum ersten Mal in seiner Geschichte müsse Europa sich nicht gegen, sondern für etwas zusammenschließen - mit dem Ziel einer gemeinsamen Zukunft. Europa müsse endlich nach vorne blicken und sich neu erfinden, wenn es seine kulturellen Werte, seine demokratischen Normen und seine sozialen Errungenschaften behalten und in der globalisierten Welt in der Konkurrenz mit Amerika, China und den dynamischen Schwellenländern mit gewichtiger Stimme mitreden wolle. Es geht um unsere Zukunftsfähigkeit, nicht mehr und nicht weniger, meint Angelo Bolaffi.
Aber: "Wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch". Bolaffi beruft sich hier hoffend auf Hölderlin und verbindet diese Hoffnung mit einem überraschenden Wunsch, den kaum ein Deutscher so unverblümt aussprechen würde - mit dem Wunsch nach einer stärkeren deutschen Führungsrolle, ja nach deutscher Hegemonie in Europa. Kein anderer europäischer Staat sei dazu in der Lage, nur die Bundesrepublik, die nach 1989/90 die drei großen Herausforderungen mit Bravour bestanden habe: die Wiedervereinigung, die europäische Einigung und die Globalisierung. Deutschland, der einstige "kranke Mann Europas", um den man sich vor zwanzig Jahren noch sorgen musste, sei Dank der Agenda 2010 von Gerhard Schröder quicklebendig und bis auf die Gene westlich, europäisch, "entdeutscht". Heute, so Bolaffi, können wir mit Fug und Recht sagen, dass "Europa in gleichem Maße deutsch werden sollte, wie Deutschland vollständig und überzeugt europäisch geworden ist. Die Lösung der deutschen Frage macht endlich den Weg für die europäische Einigung frei. Und diesen Weg auch zu gehen liegt nicht nur in Deutschlands Macht und Interesse, sondern ist auch seine historische und moralische Verpflichtung."
Wie man in Deutschland über diese historische und moralische Dienstverpflichtung denkt, ist schwer zu sagen. Das Lob aus Italien hören die Deutschen aber natürlich gerne, wenn auch ein wenig verwundert und ungläubig, weil aus Italien ja auch ganz andere Stimmen zu uns dringen. Mitunter treibt der Argwohn vieler Italiener gegenüber dem starken Nachbarn aus dem Norden die seltsamsten Blüten. Die Legende vom "Vierten Reich" ist nur eine davon. Über ihren Geruch muss man nicht streiten. Zu Beginn der neunziger Jahre, betont Bolaffi, sei etwas im Verhältnis zwischen Italien und Deutschland zerbrochen. Er spricht von einer schleichenden Entfremdung [1], die beiden Länder hätten sich voneinander abgewandt, ehe schließlich eine "große Kälte" eingetreten sei, die sich "in der zwanzig Jahre andauernden Berlusconi-Ära in eine handfeste politische und kulturelle Feindschaft verwandelte".
Es steht zu befürchten, dass man zu ganz ähnlichen Befunden käme, wenn man als Bezugspunkt Griechenland, Portugal oder Großbritannien nähme. Die bilateralen Beziehungen in Europa haben generell gelitten, die Beziehungen der Deutschen zu ihren Nachbarn in besonderem Maße. Überall stehen sie ja massiv in der Kritik. Viele Deutsche reagieren verstört darauf und werden in ihrer Europaorientierung wankend. Sie fühlen sich als großzügige Zahlmeister, sehen sich aber zugleich als Sündenböcke denunziert und verstehen die Welt nicht mehr.
Bolaffis ganz andere Deutung, sein "enthusiastisches Porträt" über die Bundesrepublik tut der deutschen Seele gut. Endlich sagt es einer, endlich erteilt uns einer Absolution: die Krise in Europa, zumal in Südeuropa hat nichts mit deutscher Rücksichtslosigkeit zu tun, nichts mit der Austeritätspolitik der Regierung Merkel, nichts mit dem deutschen Sparfimmel, der Europa angeblich in den Ruin treibt. Die Ursachen liegen, so Bolaffi, in den betroffenen Ländern selbst. Die Probleme resultieren aus dem Reformstau und vor allem aus der Rückständigkeit vieler europäischer Länder, die so ausgeprägt ist, dass sie auf dem Weltmarkt auf Jahre hinaus nicht konkurrenzfähig sind. Die Spanier, die Griechen und die Italiener hatten mit der Einführung des Euro eine riesige Modernisierungschance, sie haben sie leichtfertig vertan. Italien hat fröhlich die Rendite verschleudert, die der Euro der italienischen Wirtschaft garantierte, so lautet Bolaffis ungeschminkte, bittere Bilanz.
Bolaffis neues Buch ist keine wissenschaftliche Studie, die - wie alle Wissenschaft - im Zeichen des sine ira et studio stehen müsste. Der Autor schreckt deshalb auch vor Einseitigkeiten und Überzeichnungen nicht zurück. Zu seinem Deutschlandbild und vor allem zu seinem euphorischen Berlinporträt gäbe es sehr viel Kritisches zu sagen, was Bolaffi übrigens selber weiß, aber unter den Tisch fallen lässt, weil es der Wucht seiner Hauptthesen abträglich wäre.
Bolaffis Buch ist eine Streitschrift für ein neues Europa und ein leidenschaftliches Plädoyer, es sich mit der Bundesrepublik Deutschland nicht zu leicht zu machen, die alten Stereotype zu überprüfen und gegebenenfalls über Bord zu werfen. Es gibt nicht viele so kenntnisreiche Deutschlandversteher wie Bolaffi, das gilt für Italien, aber auch für andere Länder Europas. Ob Bolaffis Weckruf ein Umdenken bewirken kann? Die Chancen stehen leider nicht sehr gut.
Anmerkung:
[1] Vgl. Gian Enrico Rusconi / Thomas Schlemmer / Hans Woller (Hgg.): Schleichende Entfremdung? Deutschland und Italien nach dem Fall der Mauer, München 2008.
Hans Woller