Rezension über:

Christof Rolker: Das Spiel der Namen. Familie, Verwandschaft und Geschlecht im spätmittelalterlichen Konstanz (= Konstanzer Geschichts- und Rechtsquellen; XLV), Ostfildern: Thorbecke 2014, 453 S., ISBN 978-3-7995-6845-6, EUR 52,00
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Rezension von:
Michael Mitterauer
Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Universität Wien
Redaktionelle Betreuung:
Ralf Lützelschwab
Empfohlene Zitierweise:
Michael Mitterauer: Rezension von: Christof Rolker: Das Spiel der Namen. Familie, Verwandschaft und Geschlecht im spätmittelalterlichen Konstanz, Ostfildern: Thorbecke 2014, in: sehepunkte 15 (2015), Nr. 5 [15.05.2015], URL: https://www.sehepunkte.de
/2015/05/26267.html


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Christof Rolker: Das Spiel der Namen

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Historische Studien zur Geschichte der Namengebung haben in den letzten beiden Jahrzehnten deutlich zugenommen, insbesondere in der mediävistischen Forschung. Das verstärkte Interesse an dieser Thematik dürfte mit einer allgemeinen Zuwendung zu historisch-anthropologischen Fragen zu tun haben. In einem solchen Kontext ist die enge Verbindung zwischen historischer Namenforschung einerseits und der Sozialgeschichte von Verwandtschaft und Familie andrerseits zu verstehen. Christof Rolkers Habilitationsschrift "Das Spiel der Namen. Familie, Verwandtschaft und Geschlecht im spätmittelalterlichen Konstanz" greift in sehr grundsätzlicher Weise solche Zusammenhänge auf.

Die umfassende Studie auf breiter Literatur- und Quellengrundlage ist im Wesentlichen in zwei Hauptteile untergliedert. Der eine behandelt die "Rufnamen", der andere die "Familiennamen". Beide werden jeweils durch einen allgemeinen Überblick über langfristige und großräumige Entwicklungen des mittelalterlichen Namenwesens eingeleitet und vertiefen dann einzelne Fragestellungen auf der Basis von Quellenmaterial aus Konstanz bzw. aus umliegenden Regionen.

Der allgemeine Teil über die Entwicklung der "Rufnamen" geht von der sogenannten "Namenrevolution" des Hochmittelalters aus und behandelt den Prozess der Namenkonzentration durch Nachbenennung nach Herrschern, nach Heiligen und nach Verwandten. Das Überblickskapitel über die Entwicklung der "Familiennamen" stellt einander zwei konkurrierende Modelle der Erklärung von Zweitnamen gegenüber, nämlich die Interpretation als Identifizierung des Einzelnen und als Repräsentation von Gruppen.

Das gemeinsame Grundthema der beiden Hauptteile kommt in den jeweiligen Obertiteln zum Ausdruck: Bei den "Rufnamen" lautet er "Das 'europäische Namensystem' I", bei den "Familiennamen" "Das europäische Namensystem II" - im einen Fall unter Anführungszeichen, im anderen ohne solche. Die Behandlung dieses gemeinsamen Grundthemas ist durch eine gewisse Ambivalenz charakterisiert. Auf Seite 74 meint der Autor in Hinblick auf die soziale Praxis der Nachbenennung nach Herrschern, Heiligen und Verwandten: "Mit einigem Recht kann angesichts dieser Gleichförmigkeiten für die christlichen Mehrheitsbevölkerungen von einem europäischen Namensystem gesprochen werden" und Seite 99: "Ob als Namenspender Herrscher, Heilige oder Verwandte gewählt wurden, Nachbenennungen waren seit dem Hochmittelalter die für das europäische Namensystem entscheidende Operation bei der Vergabe von Rufnamen." In der abschließenden "Zusammenfassung und Analyse" seiner Arbeit formuliert er hingegen im Untertitel (346): "Europäische Namensysteme: Wenn, dann im Plural". Er spricht hier von drei verschiedenen Namensystemen. Als kennzeichnende Merkmale eines "nordwesteuropäischen Namensystems" sieht er "die große Rolle der Nachbenennung nach (leiblichen und geistlichen) Verwandten, die relativ frühe Verbreitung von Familiennamen und insbesondere ihre Nutzung (auch) als Ehenamen. Dabei bestanden in allen genannten Punkten deutliche Unterschiede zu anderen europäischen Namensystemen, wie sie sowohl weiter im Norden (von Irland bis Skandinavien) als insbesondere auch im Mittelmeerraum zu finden waren, die durch eine deutlich größere Rolle der Nachbenennung nach Verstorbenen, die sehr viel geringere Einbeziehung exogamer Paten, die Nutzung von Familiennamen v.a. für Abstammungsgruppen und eine bedeutende Rolle von Patronymen (teilweise auch von patronymen Kettennamen) gekennzeichnet waren."

Dass die Nachbenennung nach Lebenden und nach Toten tendenziell die Namengebung in ganz Lateineuropa geprägt hat, ist sicher eine Feststellung, die allgemeine Geltung beanspruchen darf. Problematisch wird die Situation, wenn man den Begriff "Namensystem" sowohl auf Prozesse der Namengebung als auch das Nebeneinander verschiedener Namenselemente bezieht und noch dazu die Entstehung von Zweitnamen vom Prozess der Namenkonzentration durch Nachbenennung abgekoppelt sieht (so etwa 186). Vielleicht wäre es hilfreich gewesen, zwischen "Systemen der Namengebung" im Sinne des Teils I und "Namensystemen" im Verständnis von Teil II zu unterscheiden. Wie auch immer - die Widersprüchlichkeit der zitierten Aussagen erscheint jedenfalls in der zusammenfassenden Analyse nicht aufgelöst.

Eine Debatte, ob es legitim sei, von einem "europäischen System der Namengebung" bzw. einem "europäischen Namensystem" zu sprechen, müsste wahrscheinlich über den Kulturraum Lateineuropa hinausgehend geführt werden. Sie müsste innerhalb des Kontinents Europa wohl auch die byzantinisch geprägten Ostkirchen berücksichtigen und könnte aus dem Vergleich mit dem islamischen Kulturraum an Schärfe der Konturen gewinnen. Auf Byzanz als Wurzel verweist etwa die für das spätmittelalterliche Konstanz festgestellte Häufung des Namens Johannes (107ff.). Sie bleibt in der vorgelegten Analyse uninterpretiert. Insgesamt fehlt der religionsgeschichtliche Hintergrund der Nachbenennung nach Heiligen. Sicher ist es richtig, dass Heiligennamen, sobald sie eingeführt waren, vielfach als Verwandtennamen weitergegeben wurden (349). Zweifellos aber wurde in vielen europäischen Regionen auch bis in neueste Zeit herauf unmittelbar nach Heiligen nachbenannt. Ob die "Nachbenennung nach einem Heiligen" dabei als "eine Gabe an ihn" (65) zu verstehen ist, sei dahingestellt. Mit der gleichzeitig verwendeten Terminologie vom "Heiligen als Namenspender" (ebda.) erscheint diese Vorstellung schwer vereinbar. Insgesamt ist es problematisch, innerhalb eines Systems der Nachbenennung von "Namenspendern" zu sprechen.

Die als "Fallstudien" (35) konzipierten Kapitel über Namenspraktiken im spätmittelalterlichen Oberdeutschland, insbesondere in der Stadt Konstanz, bieten eine Vielzahl neuer Aspekte. Im ersten Hauptteil gilt das etwa für die Frage der Elternnachbenennung, für Namenspräferenzen in der Geschwisterfolge oder für die Nachbenennung aufgrund von Patenschaft. Im zweiten Hauptteil ergibt sich auf der Basis der Analyse von Primärquellen ein überaus differenziertes Bild über die Genese und den Gebrauch von Zweitnamen. Sehr aufschlussreich erscheint die Untersuchung der von den Quellen verwendeten Verwandtschaftsbegriffe wie "stam", "blut", "geschlecht", "helm und schild" oder "stam und namen". Diese semantischen Studien ergeben ein komplexes Bild von spätmittelalterlichen Vorstellungen über Gruppenbildungen durch Verwandtschaft. Obwohl nicht unmittelbar in die Forschungssprache der Gegenwart übernehmbar, tragen sie wesentlich zu terminologischen Klärungen bei. Insgesamt bietet die vorgelegte Arbeit weit über den engeren Untersuchungsraum hinaus bedeutsame Ergebnisse zu einem viel diskutierten historisch-anthropologischen Themenkomplex - und sie wird wohl auch Anstoß zu weiterführenden Diskussionen geben.

Michael Mitterauer