Wolfgang U. Eckart: Medizin und Krieg. Deutschland 1914-1924, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2014, 564 S., ISBN 978-3-506-75677-0, EUR 49,90
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Nach seinem die Forschungen zur Medizin in der NS-Diktatur und im Zweiten Weltkrieg zusammenfassenden Buch von 2012 hat der Heidelberger Medizinhistoriker Wolfgang Uwe Eckart nun über 550 eng bedruckte Seiten über die Medizin im unmittelbaren Vorfeld des Ersten Weltkriegs, im Krieg selbst und in der Nachkriegszeit vorgelegt. [1] Dabei gibt es manche Verbindungslinien zwischen den beiden Büchern, etwa mit Blick auf den rassenhygienischen Diskurs. Die Blickwinkel Eckarts sind gewohnt zahlreich. Neben erwartbaren und notwendigerweise zu behandelnden Themen wie der nervösen Gesellschaft des Wilhelminismus, der Kriegszitterer und der Spanischen Influenza zieht er unter anderem eine "literarische Bilanz", indem er in den Jahren der Weimarer Republik erschienene Kriegsliteratur mit medizinischen Bezügen bespricht (426). Auch beschränkt er sich nicht auf die europäischen Kriegsschauplätze, sondern bezieht den pazifischen Raum, China und Afrika in seine Darstellung ein.
Das Buch gliedert sich in fünf große Teile: "Der Krieg beginnt", "Im Krieg", "Heimatfronten", "Ferne Schauplätze", "Nach dem Krieg". Er zitiert hin und wieder aus archivalischen Quellen, schöpft aber im Wesentlichen aus der Literatur. Der Forschungsstand wird somit souverän dargeboten, wobei als brillant klassifizierte Einzelstudien wie die von Susanne Michl, Hans-Georg Hofer und Julia Encke schon in der Einleitung hervorgehoben werden. [2] Dort widmet sich Eckart auch grundsätzlichen Fragen wie der mit Fritz Fischer und nun auch Christopher Clark verbundenen "Kriegsschuldfrage" oder George F. Kennans Wort vom Ersten Weltkrieg als "seminal catastrophe", dessen Übersetzung ("Urkatastrophe") heute in kaum einem deutschsprachigen Beitrag zum Ersten Weltkrieg fehlt.
Aus medizinhistorischer Sicht wesentlich ist der neuartige technisch-industrielle Charakter des Ersten Weltkriegs, der mit einer "Medikalisierung des Kriegs und der Kriegsgesellschaft" (11) einherging. Im Angesicht von Tuberkulose, Diphtherie, Grippe und Hunger, woran die Menschen an der Front wie in der Heimat, in Krankenhäusern und Kliniken wie in Gefangenenlagern, Lazaretten, Pflegeanstalten und Gefängnissen starben, war der Erste Weltkrieg gerade aus medizinischer Sicht "zweifellos total" (11). Das von Eckart präsentierte statistische Material für Deutschland stützt die These von der Totalität. Er zählt mehr als 1,9 Millionen "Gefallene", 4,4 Millionen Verwundete und Versehrte, 400.000 Hungertote sowie 20.000 Ärzte und Hunderttausende Krankenschwestern im unmittelbaren Kriegseinsatz.
Die dramatischste Krankheit zum Ende des Ersten Weltkriegs war die Spanische Influenza, der weltweit mehr als 40 Millionen Menschen zum Opfer fielen, die aber tendenziell in Deutschland unterschätzt wurde. Selbst auf dem Höhepunkt der Pandemie entschieden die Kommunen unterschiedlich, wenn es um die Schließung von Theatern und Kinos ging. Zugleich prägte die Grippe die Stimmung mit: Sie begleitete die Niederlage und den Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung. Sie gehörte zu den Faktoren, die zur "allgemeinen Depression am Ende eines erschöpfenden, einundfünfzig Monate währenden" Kriegs führte (205).
Daneben lassen sich kriegsbedingte Modernisierungsschübe konstatieren, durchaus auch in Abgrenzung zu anderen Staaten. So lag die Zahl von 300 Todesurteilen wegen "Feigheit vor dem Feind" in Deutschland vergleichsweise niedrig. Man erkannte in der "Feigheit" immer öfter eine Hysterie - kein Verbrechen, sondern eine therapiebedürftige Erkrankung. Während die meisten Zeitgenossen nach dem Kriegsende über die erlittene Schmach klagten, sahen Psychiater, auch Chirurgen und Internisten, den Krieg im Nachhinein für ihr Fach als nützlich an. Die Ärzte glaubten angesichts Millionen Kranker und Verletzter "Großes vollbracht" und die "Erfahrungen wesentlich bereichert" zu haben, so 1922 der von Eckart zitierte Münchener Röntgenologe Rudolf Grashey (15).
Gleichwohl hatten auch die Ärzte und die in der Medizin tätigen Wissenschaftler einst den Sieg erhofft und auf der Seite der Kriegsbefürworter gestanden. Viele bekundeten ihre Haltung öffentlich, beispielsweise durch Aufrufe oder Erklärungen, in denen sie die Rückgabe akademischer Auszeichnungen aus dem feindlichen Ausland bekannt gaben. Zu den prominentesten Kriegsbefürwortern zählten Paul Ehrlich, Emil von Behring, August Bier, Ernst Haeckel, Albert Neisser und Emil Kraepelin. Diese Erkenntnisse stehen nicht im Gegensatz zu der von Eckart in Erinnerung gerufenen Relativierung der bis zu Michael Stöckers bahnbrechender Studie von 1994 angenommenen allgemeinen Kriegsbegeisterung im "Augusterlebnis". [3] Kriegsgegner waren unter den Ärzten eine Ausnahmeerscheinung. Eckart schildert ausführlich den Fall des Physiologen Georg Friedrich Nicolai, der den Fahneneid verweigerte. Mit Blick auf Wilhelm Schallmayer, der als Rassenhygieniker und Vorreiter der NS-Ideologie gilt, erinnert Eckart im Anschluss an Hans-Peter Kröner an dessen paneuropäischen Pazifismus.
Nicht zuletzt unter Zuhilfenahme von Feldpostbriefen und Schwesternberichten schildert Eckart die Situation an der Front. Die Lazarette werden detailliert als "Soziotope" betrachtet, als "Orte des Grauens" (123). Neben Elend und Not wird das Bemühen um Hilfeleistung deutlich. Wesentlich seltener spiegeln sich in den Quellen Kriegseuphorie oder politische Willensbildung. Das gilt auch für die 41 ausgewählten Fotografien und Abbildungen von Propagandamaterial, die trotz ursprünglich gegenteiliger Absicht die Grausamkeit des Krieges erahnen lassen. Im Zusammenhang mit der jüdischen Kriegspflege nimmt Eckart das Schicksal der 1943 im KZ Auschwitz ermordeten Schriftstellerin Ilse Ury zum Anlass, um an den späteren Umgang mit den Krieg vorbehaltlos unterstützenden Juden zu erinnern. In Urys Romanserie "Nesthäkchen" zeigt die positiv gezeichnete Arzttochter Annemarie Braun "ungeschminkte Kriegsbegeisterung" (119).
Den sozialen, kulturellen und medizinischen Aspekten der Sexualität im Krieg widmet sich der erste Abschnitt des Kapitels "Heimatfronten". Bordellbesuche insbesondere der Mannschaftsdienstgrade (Offiziere hatten eigene Bordelle mit höheren hygienischen Standards) führten zur Ausbreitung von Geschlechtskrankheiten, nach Heimatbesuchen auch fernab der Front. Das Sexualverhalten der Soldaten wissenschaftlich zu untersuchen, wie es der Breslauer Dermatologe Albert Neisser kurz vor seinem Tode mit einer Fragebogenaktion anstrebte, wurde von Seiten der Behörden unterbunden. So blieb der Umgang mit den Geschlechtskrankheiten ähnlich unentschlossen wie der mit der Influenzagefahr. Manche Ärzte rieten den Soldaten zur Onanie, manche hatten wie der Dichter und Militärarzt Gottfried Benn im Brüsseler "Hurenspital St. Gilles" täglich Hunderte Prostituierte gynäkologisch zur versorgen (217).
Die Vielzahl der wahrlich wissenswerten Fakten und das präsentierte aufschlussreiche Datenmaterial würden manch anderen Autoren überfordern. Eckart aber schreibt gewohnt souverän und belegt schlüssig seine These, die Medizin habe sich im Ersten Weltkrieg als "Dienerin des Staates" empfunden, nach 1918 "sogar Gewinn" für sich beansprucht. In Wirklichkeit hatte eine nachteilige Entwicklung eingesetzt. Die Medizin wurde "zur Steigbügelhalterin einer biopolitischen Diktatur" (20).
Ein wichtiges, großes Buch ohne Vorgänger. Aus sprachpflegerischer Sicht mag die wiederholte kritiklose Übernahme des zeitgenössisch vorherrschenden Begriffs der "Schwangerschaftsunterbrechung" verwundern, der die Möglichkeit zur Wiederaufnahme der Schwangerschaft insinuiert (230ff.). Auch verwendet Eckart wie die meisten Historiker das verharmlosende Wort des "Gefallenen" für im Krieg getötete Soldaten (12 u.ö.).
Anmerkungen:
[1] Wolfgang Uwe Eckart: Medizin in der NS-Diktatur. Ideologie, Praxis, Folgen, Wien / Köln / Weimar 2012.
[2] Susanne Michl: Im Dienste des "Volkskörpers". Deutsche und französische Ärzte im Ersten Weltkrieg (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft; Bd. 177), Göttingen 2007; Hans-Georg Hofer: Nervenschwäche und Krieg. Modernitätskritik und Krisenbewältigung in der österreichischen Psychiatrie (1880-1920), Wien / Köln / Weimar 2004; Julia Encke: Augenblicke der Gefahr. Der Krieg der Sinne, München 2006.
[3] Michael Stöcker: "Augusterlebnis 1914" in Darmstadt. Legende und Wirklichkeit, Darmstadt 1994.
Ralf Forsbach