Rezension über:

Joachim Rees: Die verzeichnete Fremde. Formen und Funktionen des Zeichnens im Kontext europäischer Forschungsreisen 1770 - 1830 (= Berliner Schriften zur Kunst), München: Wilhelm Fink 2015, 487 S., 94 Abb., 21 Farbtafeln, ISBN 978-3-7705-5589-5, EUR 69,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Christiane Schachtner
Staatliche Graphische Sammlung, München
Redaktionelle Betreuung:
Hubertus Kohle
Empfohlene Zitierweise:
Christiane Schachtner: Rezension von: Joachim Rees: Die verzeichnete Fremde. Formen und Funktionen des Zeichnens im Kontext europäischer Forschungsreisen 1770 - 1830, München: Wilhelm Fink 2015, in: sehepunkte 15 (2015), Nr. 10 [15.10.2015], URL: https://www.sehepunkte.de
/2015/10/27028.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Andere Journale:

Diese Rezension erscheint auch in KUNSTFORM.

Joachim Rees: Die verzeichnete Fremde

Textgröße: A A A

Hatte im Kontext der europäischen Forschungsreisen über Jahrhunderte vor allem die sprachliche Beschreibung in Form von Journalen, Briefen, Berichten und Tagebuchaufzeichnungen, reisende Forscher bei der Begegnung, Aneignung und Vermittlung außereuropäischer Wirklichkeiten begleitet, so entwickelte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts der wissenschaftliche Standard, visuelle Zeugnisse aus der Fremde in die Heimat mit zurückzubringen. Das Zeichnen als bildgenerierendes Verfahren etablierte sich als Instrument empirischer Forschung und Dokumentation.

Ausgehend von diesem 'visual turn', den das europäische Explorationswesen des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts einleitete, gelingt es Joachim Rees, die "Ausdifferenzierung ästhetischer und epistemischer Geltungsansprüche des Bildes" (25) nachzuzeichnen. Die Strukturierung und beeindruckend gründliche Analyse des reichen schriftlichen und bildlichen Quellenmaterials, zu dessen Zusammenstellung er ein sample aus 16 explorativen Expeditionen bildet, folgt einem Dreischritt: Zuerst widmet sich die Studie den Akteuren der Bildproduktion in der Fremde, den Zeichnern. Sie wendet sich dann deren Arbeitspraxis, dem Zeichnen unter mobilen Arbeitsbedingungen zu, und fokussiert schließlich auf die Materialität explorativer Bildherstellung, die Zeichnung.

In den ersten beiden Kapiteln untersucht der Autor exemplarisch die sozial- und funktionsgeschichtliche Profilierung des Reisezeichners und dessen Arbeit im Kontext der Forschungsreisen. Anhand schriftlicher Quellen rekonstruiert und vergleicht er erstmals Praktiken, institutionelle Durchführung und Kriterien der Rekrutierung von Reise- und Expeditionszeichnern im genannten historischen Untersuchungszeitraum. Durch den chronologischen Rückgriff auf die zweite russische Kamschatka-Expedition im Jahr 1733 beleuchtet er diesen Zeitraum als "entscheidende Formationsphase für die Organisationsstruktur der Forschungsreise als Synthese aus textproduzierenden und bildgebenden Verfahren." (32)

Rees leistet damit einen ganz wesentlichen Beitrag zur Sozialgeschichte der Künstler, die als Bilderzeuger wesentlich "zur Formation eines global aufgespannten visuellen Erfahrungshorizonts" beitrugen und "zugleich europäisch formierte Bildpraktiken und -verständnisse in differente kulturelle Kontexte" exportierten (41). Er zeichnet sorgfältig die heterogenen gesellschaftlichen und sozialen Konstellationen der temporären Forschungsgemeinschaften nach, die während der Reisen auf engstem Raum zusammenfinden und kooperieren mussten. Ebenso aufschlussreich beleuchtet er die - mitunter durch Apodemiken oder institutionelle Weisungen und Instruktionen - impliziten Bildverständnisse und Erwartungen seitens der Auftraggeber an das auf Reisen zu produzierende Bildmaterial und die damit einhergehenden Entwicklungen in der Systematisierung des explorativen Zeichnens.

In den folgenden vier Kapiteln widmet sich die Studie der Praxis des explorativen Zeichnens in ihren epistemischen, produktionsästhetischen und performativen Aspekten. Unter dem Titel 'Konturen der Erwartung' entwirft der Autor zunächst eine knappe allgemeine Charakteristik explorativen Zeichnens.

Im Hinblick auf die bildliche Dokumentation der auf Forschungsreisen entdeckten, studierten und gesammelten Objekte führte der Versuch, die unter den geordneten und stabilen Bedingungen des Arbeitens im Atelier ausgebildeten Werkverfahren auf die völlig veränderten Bedingungen des Arbeitens auf Reisen zu übertragen zu erheblichen Friktionen. Im Kapitel 'Kodiertes Kolorit' widmet sich der Autor insbesondere der Dokumentation des Beobachtungskomplexes 'Farbe'. Dieser stellte die Bildproduzenten vor größte Herausforderungen: die Farbinformation war (insbesondere bei Pflanzen) nicht konservierbar und transportabel. Erschwerend hinzu kam, dass die Bildproduktion oftmals noch dem Vergleich mit säuberlich ausgeführten Pflanzenbildern in den heimatlichen höfischen Bibliotheken als verbindlichen Bewertungsmaßstab standzuhalten hatte (173). Rees verdeutlicht durch die vergleichende Gegenüberstellung einer Fülle von Zeichnungen und deren Produktionsgeschichte die Entwicklung komplexer numerischer Farbcodes. Diese sollten schließlich den Gebrauch von Farbpigmenten unter mobilen Bedingungen gänzlich ersetzen. Das Verfahren ermöglichte es, die Farbbeobachtung und die künstlerische Umsetzung der auf diese Weise notierten Informationsgehalte räumlich und zeitlich unabhängig voneinander zu vollziehen. Zugleich optimierte es das Arbeiten auf Reisen unter zeitökonomischen Aspekten, denn der Zeichner hatte meist in kürzester Zeit eine Fülle von Einzelobjekten zu dokumentieren, deren farbliche Erscheinung nur von kurzer Dauer war.

Im folgenden Kapitel 'Zeichnen im Konflikt' fragt Rees nach der performativen Dimension des Zeichnens im Kontext der Forschungsreisen, und stellt dabei überzeugend den heterogenen "Personalverbund Forschungsreise selbst als eine mobile 'Kontaktzone'" vor, in der ständig unterschiedlichste "soziale, nationale, professionelle, religiöse, zivile und militärische Identitäten ausagiert werden mussten." (34) Dem Zeichnen als friedliche Kontaktaufnahme mit den jeweiligen Einwohnern der erforschten Länder setzt der Autor die Realität der Einbindung des Zeichners in den "strukturellen Gewaltzusammenhang" (233) der Forschungsreisen gegenüber. Dazu unternimmt er eine vergleichende Analyse der schriftlichen Überlieferung sowie einer Zeichnung von William Westall - der Darstellung eines Sterbenden oder toten Eingeborenen - und rekonstruiert minutiös die Ereignischronologie binnen dreier Tage im Januar 1803.

Konsequent und aufschlussreich unternimmt das folgende Kapitel 'Indigenes Zeichnen' einen Perspektivwechsel. Denn unter den Bilderzeugnissen, die an Bord der Schiffe mit in die Heimatländer gebracht wurden, befanden sich nicht nur Arbeiten der dafür engagierten Zeichner, sondern auch Handzeichnungen von Angehörigen indigener Ethnien, die von den europäischen Reisenden als Proben erhoben worden waren. Rees befragt diese im Hinblick auf die spezifischen Bedingungen ihrer Entstehung in einer "bildkulturellen Kontaktzone" (35) sowie deren Rezeption und Deutung im Kontext der sich formierenden Anthropologie.

Parallel dazu weist Rees im abschließenden Kapitel 'Die Ankunft der Apparate' seit den 1770er-Jahren den Einsatz optischer Zeichenhilfen nach. Musste der Zeichner zunächst bei Gebrauch einer Camera obscura noch im verdunkelten Gehäuse verschwinden und sich in der Aufzeichnung ganz der Information des Apparates überlassen, ermöglichte - nach 1800 - die durch ihre kompakte materielle Beschaffenheit bestens für das Arbeiten auf Reisen geeignete Camera Lucida eine teilnehmende Beobachtung (327) und - insbesondere beim Porträtzeichnen - direkten Kontakt und Nähe zum Gegenüber (345). Letztlich konstatiert Rees dem Europa der Restitutionszeit die Anfänge der "Wettläufe um die letzten Blicke auf verschwindende Kulturen und Ethnien" (353), während der "die kamerabewehrten Zeichner in Wahrheit Szenen" suchten, "die aus der Zeit vor der Ankunft der Apparate stammten".

Höchst anschaulich und überzeugend legt der Autor mit dieser Studie dar, dass das explorative Zeichnen im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts im Kontext der Forschungsreisen ganz neue und eigene Notationsverfahren und Visualisierungspraktiken ausbildete; er leistet damit einen beeindruckenden Beitrag zur Zeichnungsforschung wie zur Entwicklungs- und Produktionsgeschichte des epistemischen Bildes. Der Band beinhaltet zudem einen Tafelteil mit Farbreproduktionen sowie ausgewählte Briefe, Instruktionen und Verträge als Dokumente im Anhang.

Christiane Schachtner