Lenka Jirouková: Der heilige Wikingerkönig Olav Haraldsson und sein hagiographisches Dossier. Text und Kontext der Passio Olavi (mit kritischer Edition) (= Mittellateinische Studien und Texte; Vol. 46), Leiden / Boston: Brill 2014, 2 Bde., L + 1080 S., ISBN 978-90-04-26413-7, EUR 305,00
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Neben der lateinischen Passio Olavi gibt es andere Überlieferungen zur Biografie Olavs und zu seinen Wundertaten. Die Verfasserin der hier zu besprechenden Bände stellt sich die Aufgabe, die einzelnen Recensiones zu identifizieren und daneben Zeit und Ort ihrer Entstehung sowie die Quellen zu bestimmen. Die von ihr neu edierten Texte werden leserfreundlich im zweiten Band gesammelt, wo sich auch Abbildungen und aussagekräftige Karten finden lassen. Die eigentlichen Untersuchungen sind im ersten Band zu lesen.
Im ersten Kapitel werden kurz das Leben Olavs und sein Tod in der Schlacht bei Stiklestad am 29. Juli 1030 beschrieben. Eine der ältesten Quellen, die Glælognskviða aus dem Jahr 1032, wurde von einem Skalden verfasst, der sich im Umfeld des dänischen Königs Svein (Svend) befand. Dieser war aber nicht, wie die Verfasserin (9) behauptet, Sohn Knuds des Großen, sondern dessen Neffe (Sohn seiner Schwester Estrid und deren Mann Ulf).
Im zweiten Kapitel werden die Überlieferungen vorgestellt. Mehrere Versionen können dabei unterschieden werden: 1. die hochmittelalterlichen Texte, als Recensio I bezeichnet; 2. zwei Versionen innerhalb der spätmittelalterlichen Überlieferung, als Recensio II und Recensio III bezeichnet.
Kapitel III beschäftigt sich ausschließlich mit der in zwei Fassungen überlieferten Recensio I. Die Verfasserin kommt zu dem überzeugenden Ergebnis, dass die lange Version A die ältere ist, die Version B hingegen auf A basiert, von der sie eine Kurzversion ist. Die Überlieferungssituation der Mirakel stellt sich hingegen gänzlich anders dar, sodass die Frage berechtigt scheint, ob die Passio und die Mirakel überhaupt zum selben Werk gehören.
In Kapitel IV wird versucht, darauf eine Antwort zu finden. Das Mittel hierzu ist eine sprachlich-stilistische Analyse, insbesondere in Hinblick auf Cursus und Reim. Stilistisch variieren die Mirakel so stark, dass Vorstellungen einer kompositorischen Einheit abgelehnt und die Mirakel eher als individuelle Einzelerzählungen angesehen werden. Das Kapitel zeigt, dass die Verfasserin das philologische Handwerk beherrscht, und ihre Ergebnisse sind überzeugend.
In Kapitel V geraten die Überlieferungen der Mirakel und ihre Quellen in den Blick. Gab es keine Übereinstimmung mit der ältesten historischen Quelle, der Glælognskviða, so findet man doch im 30 Jahre jüngeren Geisli acht der ersten zehn Wundererzählungen der Recensio I. Die Verfasserin versucht, die Überlieferung der Mirakel in Phasen oder Schichten einzuteilen: so soll die erste Gruppe (Mirakel 1-9) vor 1153, die zweite (Nr. 1-9 plus Nr. 11-21 und 50) nach diesem Jahr aufgezeichnet worden sein. Während die ersten neun Mirakel sich nicht eindeutig geografisch einordnen lassen, scheint die zweite Gruppe im Umfeld des Trondheimer Nidarosdoms entstanden zu sein. Die dritte Schicht, die die Mirakel 1-21 enthält, wäre dann spätestens in den 1180er-Jahren ebenfalls am Dom von Nidaros entstanden. Die Wundertaten 22-49 sind nur in einer Handschrift aus Fountains überliefert. Festgestellt wird, dass die Mirakelerzählungen Quelle für das Altnorwegische Homilienbuch um 1200 und die Legendarische Saga aus dem frühen 13. Jahrhundert waren, nicht umgekehrt, ein Ergebnis, dem der Rezensent beipflichten kann. In Bezug auf die Quellen muss sich die Frage nach einer möglichen mündlichen Überlieferung stellen. Für Mirakel 4 könnte eine Tradition der Varägergarde die Quelle sein - die Verfasserin erwähnt diese Möglichkeit nicht.
In Kapitel VI stehen die Fountains-Überlieferung und überhaupt die Verehrung Olavs in England im Mittelpunkt. Wo die Handschrift geschrieben wurde, wissen wir nicht, erwähnt werden mehrere Möglichkeiten, aber keine ist wirklich schlüssig. Auch ist es wohl gewagt, den Einband aus Seehundfell als Argument für eine norwegische Herkunft anzuführen; Seehunde leben auch auf den britischen Inseln. Im Kapitel werden ferner die Zeugnisse der Olavsverehrung in England erörtert, ohne dass es der Verfasserin gelingt, ein schlüssiges Ergebnis vorzulegen. Zwar erkennt sie an, dass die dedicatio ecclesie am 19. Juli Hinweise auf die Provenienz der Handschrift O geben könnte, und dass eine solche Untersuchung eine Sichtung der liturgischen Kalendarien der Klöster in Yorkshire erfordern würde. Diese Arbeit ist jedoch leider unterblieben (253). Wäre sie in Angriff genommen worden, hätte sich auch die Zahl möglicher Hypothesen begrenzen lassen.
Die Handschrift D stammt aus dem flandrischen Kloster Anchin. Folgerichtig wird daher in Kapitel VII der Olavsverehrung in Nordfrankreich nachgegangen. Es muss als sicher gelten, dass die Nachricht über Olavs Taufe in Rouen auf Wilhelm de Jumièges basiert (299). Schlüssige Hinweise auf eine Vermittlung über die Normandie nach England kann die Verfasserin jedoch nicht liefern, lediglich Hypothesen formulieren.
Kapitel VIII beschäftigt sich mit der Olavsverehrung in Norwegen und im übrigen Skandinavien. In den 1060er-Jahren entstand in Winchester die Olavsmesse, deren Text fast unverändert während des gesamten Mittelalters in Nidaros verwendet wurde. Überhaupt scheint man in Winchester um die Mitte des 11. Jahrhunderts ausgesprochen pro-skandinavisch gewesen zu sein; hier wurden sowohl Knud der Große († 1035) als auch sein Sohn und Nachfolger Hardeknud († 1042) begraben. Auch das älteste Offizium wurde zur selben Zeit in Winchester verfasst, bald aber durch ein neues, in Norwegen Ende des 12. Jahrhunderts entstandenes abgelöst. Dieses basiert zum Teil auf der Langfassung A der Passio. Als Ergebnis kann die Verfasserin auf verschiedene, bisher unbeachtete Zeugnisse der spätmittelalterlichen Olavsverehrung in Skandinavien hinweisen.
In Kapitel IX wird die Olavsverehrung in Dänemark und Norddeutschland untersucht. Wenn hier - Enno Bünz folgend - angenommen wird, dass Heinrich Rantzau wegen seiner lutherischen Religion theologische und liturgische Codices aus der katholischen Zeit aussortierte (388), so ist dies sicherlich falsch. Mehrere der Segeberger Bücher mit katholischem Inhalt, die sich heute in Prag befinden, hatte Rantzau aus der Klosterbibliothek nach Breitenburg überführen lassen. Auch zeigt die neuere Forschung, dass man Friedrich I. wohl kaum als reformkatholisch bezeichnen kann (393); seine Klosterpolitik zeigt ihn als durchaus antikatholisch, er war aber durch seine Wahlkapitulation auf den Schutz der alten Kirche verpflichtet und musste daher vorsichtig agieren. In einer Prager Handschrift aus Segeberg sind liturgische Schriften über Olav und die aus Irland stammende Heilige Sunniva enthalten, die sich ebenfalls in Norwegen finden lassen. Da beide auch in Lübeck verehrt wurden, und da Lübeck wichtige Handelsinteressen in Norwegen hatte, schlussfolgert die Verfasserin, dass Lübeck eine Rolle für die Verbreitung der Olavsverehrung gespielt haben muss.
Mit großer Energie wurde der Olavsüberlieferung in verschiedenen Regionen nachgegangen - und neue Forschungsergebnisse wurden dabei erzielt. Aber wirklich entscheidend scheinen sie nicht zu sein - sie können jedenfalls nicht mit den Resultaten der philologischen Untersuchung in Kapitel IV mithalten.
In Kapitel X wird das Ziel verfolgt, die "Konstruktion der Heiligkeit" Olavs in der Passio sowie in den Mirakeln zu erörtern. Konstatiert wird dabei, dass im Gegensatz zu den älteren Königsheiligen die Heiligkeit Olavs zwei Wurzeln hat, eine politische und eine geistliche, worunter man vor allem die Predigt verstehen soll. Dass die Olavsverehrung angelsächsisch beeinflusst war, hatte schon Erich Hoffmann gezeigt, aber hierzu kommen noch Parallelen aus der ottonischen Hagiografie. Wenn aber die Verfasserin behauptet (426), dass in Abb. X 7 b Olav als König und als kirchlicher Amtsträger mit Bischofsstab dargestellt wird, so kann der Rezensent ihr hier nicht folgen. Was der König hält, ist kein Bischofsstab, sondern die lange Axt, die sein Attribut ist (wie für St. Peter der Schlüssel). Daraus lässt sich keine Doppelfunktion (König und Priester nach dem Vorbild Melchisedechs) ableiten. Hingegen ist der Verfasserin wohl zuzustimmen, wenn sie die gotländischen Novgorodfahrer als Quelle für das Mirakel Nr. 15 sieht (431).
In Kapitel XI wird der mögliche Einfluss der norwegischen Gesetze auf die Wundererzählungen untersucht. Dass dies geschieht, kann man nur begrüßen. Aus chronologischen Gründen kann nur das westnorwegische Gulathingsrecht in Frage kommen, was eigentlich gegen die mehrmals angenommene Rolle des Erzstiftes Nidaros für die Entwicklung der Olavsverehrung spricht. Mehrmals wird festgestellt, dass die Erzählungen in Übereinstimmung mit geltenden Rechtskodifikationen verfasst worden sind.
Nach Ausführungen zur Rolle von Träumen und Visionen in den Mirakeln (Kapitel XII), stellt die Verfasserin in Kapitel XIII fest, dass die Recensiones II und III vollgültige Versionen sind, die auf der Recensio I basieren und sich zeitgleich entwickelten. Sicher ist es, dass die Recensio II sich erst im Spätmittelalter nachweisen lässt. Dass einige Topoi Olav mit Christus vergleichen, darf nicht verwundern, in der dänischen Königsideologie des späten 12. Jahrhunderts finden wir häufig solche Anspielungen. Auch wird Olav auf dem Altarschrein von Veien mit Maria unter dem Kreuz Christi dargestellt und übernimmt so die Rolle des Apostels Johannes (nicht Johannes des Täufers, wie die Verfasserin auf Seite 580 Anm. 46 meint).
Recensio III findet sich nur in Handschriften aus dem 15. Jahrhundert, die sich auf zwei Versionen verteilen. Beide basieren auf der langen A-Fassung der Passio. Eigenartig ist, dass im Kalender der Magdeburger Handschrift von 1459 (Ms. Be2) Olav gleich zweimal erscheint, einmal am 29. Juli als Märtyrer (was zu erwarten war) und einmal am 12. September als Bekenner. Die Verfasserin erkennt zwar das Rätselhafte der zweiten Notiz an, versucht aber nicht, mögliche Erklärungen zu bieten. Könnte es sich um eine Verwechslung handeln? Diese Möglichkeit wird nicht erörtert.
Während die Recensio I auf lateinischen Quellen basiert, haben die beiden anderen Recensiones neben den lateinischen auch volkssprachliche Quellen benutzt, was in den Wundererzählungen Nr. 60-62 deutlich wird. Wenn aber Summers haun mit der norwegischen Ortschaft Mosterhamn identifiziert wird (619), dürfte dies wohl kaum den Tatsachen entsprechen; Summers haun oder im 16. Jahrhundert Sømmershavn (heute Simrishamn) ist eine Stadt im südöstlichen Schonen.
In Kapitel XIV werden die Ergebnisse zusammengefasst. Zwei Überlieferungstraditionen lassen sich feststellen: Eine westeuropäisch-lateinische (Recensio I) und eine volksnahe, norddeutsche, die durch die Recensiones II und III vertreten wird. Das Manuskript von Fountains hat dabei eine Sonderstellung inne, sind in ihm doch nur die Mirakel 22-49 überliefert. Sie zeigen eine deutliche Verbindung zu Nidaros - diese Verbindung wird auch für die übrigen Teile der Recensio I reklamiert, ohne dass stichhaltige Beweise dafür angeführt werden. Dagegen spricht allein schon der Umstand, dass die erhaltenen Handschriften keine Beziehung zu Norwegen aufweisen.
Schon kurz nach seinem Tode wurde Olav sowohl in Skandinavien als auch in Winchester verehrt, wo eine Generation nach seinem Tod die erste Olavsliturgie belegt ist. Unabhängig voneinander bilden sich somit zwei frühe Traditionen heraus. Wäre es daher nicht logischer, den Ursprung der literarischen Olavsverehrung in England zu suchen? Dies würde die Überlieferung in England und Nordfrankreich erklären können. Erst mit der Gründung der norwegischen Kirchenprovinz in den 1150er-Jahren entstand dann im Umfeld des Nidaros-Doms eine norwegische literarische Olavsverehrung.
Mancher Vergleich der Recensiones II-III mit der Recensio I wirft Fragen auf: Die Kreuzigung Olavs (Recensio II) hat keine Entsprechung in der Recensio I, und Recensio III fügt einen Bekenner Olav zum klassischen Olavsbild hinzu. Ob die beiden Recensiones in einem Bettelordens-, Kaufmanns- und Seefahrermilieu entstanden sind, wie es die Verfasserin annimmt, lässt sich wohl nicht beweisen, unmöglich ist es aber nicht. In Lübeck unterhielten die Bettelorden jedenfalls gute Beziehungen zu den Kaufleuten der Stadt.
Die umfangreiche Untersuchung enthält vieles Wertvolles, vor allem auf philologischem Gebiet. Insbesondere hier wird deutlich, dass die Verfasserin die Methoden ihres Faches beherrscht. Nicht ganz so sicher agiert sie, wo es um die historische Argumentation geht. Das ist nicht erstaunlich, denn die Thematik ist so umfassend, dass sie eigentlich hätte interdisziplinär behandelt werden müssen. Die Untersuchung hat aber zu neuen Erkenntnissen geführt, von denen die künftige Forschung zweifellos profitieren wird.
Thomas Riis