Anne-Christine Brehm: Hans Niesenberger von Graz. Ein Architekt der Spätgotik am Oberrhein, Basel: Schwabe 2013, 358 S., 257 Abb., ISBN 978-3-7965-3194-1, EUR 65,50
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Diese Rezension erscheint auch in KUNSTFORM.
Steffen Krämer: Herrschaftliche Grablege und lokaler Heiligenkult. Architektur des englischen Decorated Style, München / Berlin: Deutscher Kunstverlag 2007
Marie-Thérèse Zenner (ed.): Villard's Legacy. Studies in Medieval Technology, Science and Art in Memory of Jean Gimpel, Aldershot: Ashgate 2004
Michael Carter: The Art and Architecture of the Cistercians in Northern England, c.1300-1540, Turnhout: Brepols 2019
Die vorliegende Werkmeisterbiografie zum spätgotischen Baumeister Hans Niesenberger von Graz († 1493) entstand als Dissertation bei Johann Josef Böker an der Universität Karlsruhe. Die Arbeit verfolgt das klare Ziel, das architektonische Werk Niesenbergers anhand der schriftlichen, bildlichen und architektonischen Überlieferungen zu erfassen, die bisherigen Zuschreibungen kritisch zu prüfen und neue Befunde zur Diskussion zu stellen. Auf dieser Basis werden die architekturhistorische Rolle des Werkmeisters sowie dessen Beitrag zur spätmittelalterlichen Architektur neu bestimmt und bewertet.
Nach einer knappen Einleitung folgt die Studie in den Einzelkapiteln den biografischen Fixpunkten Niesenbergers. Das erste Kapitel beschäftigt sich mit seiner Zeit in Graz, von wo er möglicherweise stammte, wo er jedoch seine Lehre absolviert und seine erste eigene Baustelle betreut haben dürfte. Die These, dass Hans von Graz, beeinflusst durch die Prager Parlerarchitektur, am Grazer Dom zwischen 1438 und 1450 wirkte, lässt sich allerdings nur durch Indizien belegen. Nach Ravensburg reiste der Werkmeister wohl über Wien und Ulm, wobei er in Ulm 1455 nachweisbar ist. Das zweite Kapitel fasst die von Ravensburg ausgehenden Aktivitäten zusammen, wo Niesenberger zwischen 1455 und 1477 ansässig war, wo er heiratete und wo seine beiden Söhne geboren wurden. Neben verschiedenen Bauprojekten für das Kloster Weißenau tritt Niesenberger nun auch als Bauunternehmer in Erscheinung. 1459 besuchte er den Regensburger Hüttentag. Das dritte und umfangreichste Kapitel untersucht die Tätigkeit des Werkmeisters am Freiburger Münster (1471-1491) sowie an Bauten im Gebiet des Oberrheins (u.a. Breisach, Emmendingen, Straßburg). Der Baumeister wird in Freiburg 1471 auf Lebenszeit berufen, hat aber das Recht weitere Aufträge anzunehmen. Hier zeigt sich die Komplexität der Aufgaben mittelalterlicher Werkmeister, die oft nicht gestaltend wirkten, sondern in erster Linie Probleme ihrer Vorgänger zu lösen hatten und dies vor allem mit Blick auf die Baukosten. In die Freiburger Zeit fallen auch die ersten dokumentierten Rechtsstreitigkeiten (Hans-Paule-Streit, Konrad-Nüchter-Streit), in denen Niesenbergers fachliche Kompetenz in Frage gestellt wurde und die ihm in späteren Jahren erheblich schadeten. Dem Mailänder Engagement Niesenbergers (1483-1486), wo er die Vierung des Doms vollenden sollte, ist das vierte Kapitel gewidmet. Hier wird überzeugend dargestellt, dass Misserfolge durchaus mehrere Ursachen haben konnten, an denen auch die Bauverwaltung und die durch sie eingerichtete Bauorganisation ihren Anteil hatten. Über Luzern, wo er das Bürgerrecht erwarb, kehrte er an den Oberrhein zurück. Das letzte Kapitel behandelt die Basler Jahre ab 1487 bis zum Tod im Jahr 1493. Niesenberger arbeitete in Basel an der Leonhardkirche des Augustinerchorherrenstiftes. Zugleich musste er sich in einem erbitterten und in Teilen unfairen Rechtsstreit gegen Vorwürfe des Werkmeisters Hans von Nußdorf wehren. In das letzte Lebensjahrzehnt fallen auch die Entlassungen, die zumeist mit dem Vorwurf handwerklicher Fehler verbunden waren, im Juni 1485 in Straßburg, im August 1486 in Mailand und im November 1491 in Freiburg. Die Studie schließt im Anhang mit einer beachtlichen Auswahl von Archivalien, die transkribiert nun auch einem größeren Leserkreis leicht verfügbar gemacht werden. Dieser Quellenfundus ist nicht nur in Bezug auf die Werkmeisterbiografie bedeutsam, sondern auch von allgemeiner sozialhistorischer Relevanz.
Die Autorin ist um methodische Breite bemüht und wählt den jeweiligen Ansatz sorgfältig in Abhängigkeit von der Quellengattung. Dies reicht von architektonischen Stilvergleichen über die Analyse von Zeichentechnik bei Rissen und Plänen, dem Vergleich von Entwurfsstrategien bis hin zur detaillierten Interpretation von Verträgen und Akten, deren Wortlaut nicht immer leicht zu verstehen ist, und dies nicht nur aufgrund der landessprachlichen Eigenheiten, sondern auch aufgrund der Gewohnheit, Meisternamen auf den Vornahmen zu reduzieren. In der Diskussion der einzelnen Objekte werden die Grenzen der Interpretation aufgezeigt und teils alternative Vorschläge offeriert, ohne dass dadurch die Aussagekraft des historischen Materials beschränkt wird. Während die Auswertung der schriftlichen Quellen mit den üblichen hermeneutischen Problemen konfrontiert ist, muss sich die Autorin bei der architektonischen Analyse mit der Tatsache auseinandersetzen, dass in einigen Fällen die für die Bewertung des Schaffens von Niesenberger relevanten Bauten bzw. Bauteile nicht mehr überliefert sind und die schriftlichen Hinweise oft nicht mehr an konkreten Gestaltqualitäten verifiziert werden können.
Die Arbeit breitet eine ungeheure Fülle an Details und quellenbasierten Informationen aus, die von der Autorin akribisch diskutiert werden. Hierin liegen zweifellos die großen Stärken der Arbeit, die nicht nur die Bauwerke berücksichtigt und das bisherige Schrifttum einer gründlichen Neubewertung unterzieht, sondern durch eigene Archivstudien an Plänen, Rissen, Werkverträgen, Bau- und Prozessakten Altes überprüft und neue Quellen erschließt. Die Argumentationen sind klar und nachvollziehbar. Der flüssig geschriebene Text hätte allerdings an manchen Stellen gestrafft werden können, auch um Redundanzen zu vermeiden. Die Abbildungen ergänzen und veranschaulichen die Argumentationen, sind aber in einigen Fällen (z.B. Oberflächenbehandlung der Steine) zu kleinformatig. Dies trübt aber in keiner Weise die Verdienste der Autorin, die mit dieser Werkmeistermonografie durchaus ein Standardwerk geschaffen hat, das auch für andere Werkmeisterbiografien beispielgebend sein kann.
In dieser Studie wird mit Hans von Graz ein Typus des Werkmeisters lebendig, der zugleich als Baumeister und Bauunternehmer auftrat, einen Familienbetrieb etablierte und an mehreren Großprojekten gleichzeitig arbeitete. Letzteres hatte ihn zweifellos überfordert. Denn durch die langen Abwesenheiten von den Baustellen konnten weder er noch seine Parliere diese hinreichend betreuen, sodass Fehler, obwohl sie vielleicht rechtzeitig entdeckt worden waren, zu spät korrigiert wurden und die Baukosten durch die erforderliche Mehrarbeit erheblich anstiegen. An Niesenbergers Tätigkeit wird erkennbar, dass die Übernahme bereits begonnener Bauwerke besondere Anforderungen an einen Baumeister mit sich brachten, da hier vor allem kostengünstige Problemlösungen gefragt waren, verbunden mit integrativen Entwürfen, die den vorgefundenen Bestand respektierten, zugleich aber auch die architektonischen Formen aktualisierten. Dazu war Hans von Graz grundsätzlich in der Lage. Seine durchaus anspruchsvollen Entwürfe ließen sich jedoch aufgrund des mangelnden Zeitmanagements nicht adäquat umsetzen. Besonders interessant sind die in den ausgewerteten schriftlichen Zeugnissen aufscheinenden sozialhistorischen Gegebenheiten des zeitgenössischen Bauhandwerks, insbesondere das konkurrierende und zuweilen denunzierende Verhalten der Werkmeister untereinander.
Jens Rüffer