Thomas Maisel / Meta Niederkorn-Bruck / Christian Gastgeber u.a. (Hgg.): Artes - Artisten - Wissenschaft. Die Universität Wien in Spätmittelalter und Humanismus (= Singularia Vindobonensia; Bd. 4), Wien: Praesens 2015, 430 S., zahlr. Abb., ISBN 978-3-7069-0834-4, EUR 47,60
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Die in den letzten Jahrzehnten in Arbeiten über die Gründungsepochen der Universitäten im deutschen Sprachgebiet des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit sehr produktive Forschung [1] hat sich gegenwärtig den Anfängen der Universität Wien zugewandt, die in diesem Jahr das 650. Jubiläum feiert. Mit 1365 als Gründungsjahr zählt Wien zu den bei weitem ältesten Universitäten im mitteleuropäischen Raum, älter sind nur Prag (1348) und Krakau (1364); Heidelberg (1386) und Köln (1388) sind bereits nach dem Prager und Wiener Vorbild strukturiert, [2] während sich Wien im wesentlichen, d. h. für die Artes und die Theologie, an der Pariser Universität orientiert, die auf den Beginn des 13. Jahrhunderts datiert (die päpstliche Lizenz für die Sorbonne, das theologische Kolleg, ist von 1268). Der vorliegende Band steht in einer Reihe mit anderen Wiener Sammelbänden, die meist auf Tagungen der letzten Jahre zurückgehen. [3] Seine Beiträge beschäftigen sich jedoch ausschließlich mit den Fächern der Artes liberales, die später Artistenfakultät genannt wurden, [4] mit einer spezifisch 'propädeutischen' Position im Vorfeld der drei 'höheren' Fakultäten Theologie, Medizin und Jurisprudenz, die aber, was die Immatrikulations- und Studienfrequenzen und den kulturellen Wert der Disziplinen angeht, von zentraler Bedeutung waren.
Die Einleitung des Mitherausgebers Thomas Maisel liefert die Rahmendaten der Chronologie und der verschiedenen Ausbaustufen der Universität Wien. Danach folgte der Alma Mater Rudolphina, der mäßig erfolgreichen Stiftung des Habsburgerherzogs Rudolf IV. nach dessen frühem Tod eine zweite Gründung durch den Bruder Albrecht III., dessen Reform von 1384 besonders durch die Errichtung des Herzogskollegs der Artistenfakultät und zugleich dem Institutionenbündel, als das man sich die damalige Universität vorstellen muss, ein neues Fundament legte. Um 1500 ist dem das berühmte Collegium poetarum et mathematicorum gefolgt, das von Kaiser Maximilian I. gestiftet und von Konrad Celtis als Inhaber der Poetik-Lektur geleitet wurde. Wie die Bursen sind diese collegia als Stiftungen zentrale Einrichtungen der alteuropäischen Universität, die in deren komplizierter Struktur oft in einem labilen Verhältnis zumal zur Theologischen Fakultät standen.
"Aspekte der Gelehrtenkultur im Collegium ducale um 1400" behandelt W. E. Wagner in einem eigenen Beitrag, und weitere Abhandlungen in diesem höchst informativen Band unterrichten über eine Fülle der Aspekte dieser Struktur und des Verhaltens darin, des Lehrens und Lernens der angehenden wie der arrivierten Gelehrten. M. Kintzinger handelt von der "akademischen Streitkultur" (über Disputation und Duell), U. Denk vom Umgang mit den keineswegs ausgeschlossenen armen Studenten ("Studienkosten und paupertas") und S. Zapke von Prozessionen und Aufführungen als Ereignissen der "Inszenierung der Universität im öffentlichen Raum". Die Mehrzahl der Autoren untersucht einzelne Disziplinen (Medizin und Alchemie, Jura u. a.). E. Klecker erinnert an die Blüte des Wiener Humanismus anhand der Antrittsrede eines Magisters Adrian Wolfhard aus Siebenbürgen (Druck Wien 1512), die sie mit der berühmten Ingolstädter Panegyris des Celtis (1492) und anderen humanistischen Programmreden vergleicht.
Eine der Leistungen des Bandes ist die Vorführung der reichen Akten und Archivalien (nicht nur der Matrikel) und der Ziele und Probleme ihrer Edition und Auswertung, dazu zum Beispiel A. Bottanova in einem "Werkstattbericht" über die Wiener Rektoratsakten. Der vielleicht reizvollste Beitrag ist von P. Molino und behandelt die kaiserliche Bibliothek "zwischen Hof und Respublica litteraria (1575-1608)". Vor allem anhand der Tätigkeit und Briefe des Hofbibliothekars Hugo Blotius und durch zahlreiche Vergleiche mit Bibliotheken und Sammlungen in Europa (Bodleiana in Oxford, Vatikan, Wolfenbüttel u. a.) gelingt es der jungen italienischen Historikerin vorzüglich, die Bedeutung der Hofbibliothek paradigmatisch im Kontext der Bibliotheksgeschichte der Frühen Neuzeit lebendig werden zu lassen. Abhandlungen von einer solchen Fülle der Aspekte (und einem so informativen Fußnotenapparat) möchte man über die gelehrte Kultur der Frühen Neuzeit öfter lesen. [5]
Anmerkungen:
[1] Vgl. u. a. Nürnbergs Hochschule in Altdorf, hgg. von H. u. K. Marti, 2014 (vgl. die Rezension des Verfassers in sehepunkte 5/2015); Maximilian Schuh: Aneignungen des Humanismus. Institutionelle und individuelle Praktiken an der Universität Ingolstadt im 15. Jahrhundert, Leiden 2013 (vgl. die Rezension des Verfassers in Scientia Poetica Jg. 19/2015); Die Reformuniversität Helmstedt 1578-1810. Vorträge zur Ausstellung "Das Athen der Welfen", hg. von H. Schmidt-Glintzer, Wiesbaden 2011; Akademie und Universität Altdorf. Studien zur Hochschulgeschichte Nürnbergs, hg. von H. Ch. Brennecke, Köln 2011; Die Universität Königsberg in der Frühen Neuzeit, hgg. von H. Marti / M. Komorowski, Köln 2008; Die Universität Leipzig und ihr gelehrtes Umfeld 1680-1780, hgg. von H. Marti / D. Blaufuß, Basel 2004; Gerhard Schormann: Academia Ernestina. Die schaumburgische Universität zu Rinteln an der Weser (1610/21-1810), Marburg 1982.
[2] Vgl. Frank Rexroth: Deutsche Universitätsstiftungen von Prag bis Köln, Köln 1992 (Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte; 34).
[3] Vgl. Die Universität Wien im Konzert europäischer Bildungszentren, 14.-16. Jahrhundert, hgg. von K. Mühlberger / M. Niederkorn-Bruck, Wien / München 2010; 650 Jahre Universität Wien: 1365-2015. Programmübersicht. Konzeption, Redaktion & Lektorat E. Mattes, Wien 2014; Wien 1365 - eine Universität entsteht [zur Ausstellung März 2015 - Mai 2015 in der Österreichischen Nationalbibliothek], hgg. von H. Rosenberg / F. Dahm / M. V. Schwarz, Wien 2015; Stätten des Wissens: die Universität Wien entlang ihrer Bauten, 1365-2015, hgg. von J. Rüdiger / D. Schweizer, Wien 2015; Reflexive Innensichten aus der Universität: Disziplinengeschichten zwischen Wissenschaft, Gesellschaft und Politik, hgg. von K. Fröschl / G. Müller / Th. Olechowski / B. Schmidt-Lauber, Göttingen 2015.
[4] Für den weiteren Kontext und zum Vergleich: Artisten und Philosophen. Wissenschafts- und Wirkungsgeschichte einer Fakultät vom 13. bis zum 19. Jahrhundert, hg. von R. Ch. Schwinges, Basel 1999, und ders.: Deutsche Universitätsbesucher im 14. und 15. Jahrhundert. Studien zur Sozialgeschichte des Alten Reiches, Stuttgart 1986.
[5] Vgl. Paola Molino: L'Impero di carta. Hugo Blotius Hofbibliothekar nella Vienna di fine Cinquecento. Diss. Firenze, European University Institute, 2011 (Buchpubl. in Vorber.); dies. mit Gábor Almási: Nikodemismus und Konfessionalisierung am Hof Maximilians II. In: Frühneuzeit-Info Wien 22 (2011), 112-128; dies.: Ein Zuhause für die universale Bibliothek. Vom "Museum generis humani Blotianum" zur Gründung der Hofbibliothek in Wien am Ende des 16. Jahrhunderts. In: Biblos 58 (2009), 23-41; dies.: Viaggiatori, eruditi, famuli e cortigiani: il multiforme pubblico della Biblioteca Imperiale di Vienna alla fine del XVI secolo. In: Pubblico e Pubblici di antico regime, hg. von B. Borella, Pisa 2009, 101-125.
Herbert Jaumann