Dieter Schott: Europäische Urbanisierung (1000-2000). Eine umwelthistorische Einführung, Stuttgart: UTB 2014, 395 S., 25 s/w. Abb., ISBN 978-3-8252-4025-7, EUR 19,99
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20.000 Wasserträger waren zur Mitte des 19. Jahrhunderts beschäftigt, um täglich die Haushalte der Millionenstadt Paris mit mehr oder weniger sauberem Wasser aus der Seine und städtischen Brunnen zu versorgen - wenige tausende Bewohner einmal ausgenommen, die ein Aquädukt versorgte, das Napoleon I. in Auftrag gegeben hatte. Damit war Schluss, als Napoleon III. den Pariser Stadtpräfekten Georges-Eugène Hausmann mit der kompletten Umgestaltung der Stadt beauftragte. Mit der "Hausmannisierung" (1853-1870) entstand die erste moderne Metropole. Es wurden 19.000 Kilometer Röhren und Leitungen für die Trinkwasserversorgung gelegt, die Kanalisierung etabliert, sowie eine überaus großzügige Verkehrswegeplanung mit einheitlicher fünfstöckiger Wohnbebauung und Grünraum kombiniert. Der Zugriff der Stadt auf die Ressourcen des Umlands vergrößerte sich in einem für das 19. Jahrhundert unerhörten Maße. Die Wasserträger wurden freigesetzt und wanderten vermutlich wie der Großteil der Arbeiter in die billigeren Banlieues ab, während sich ihr Berufsstand ins Reich der Metaphern verflüchtigte. Paris verschuldete sich derart, dass Hausmann am Ende zurücktreten musste. Die elf Millionen Besucher aber, die zur Weltausstellung 1867 nach Paris reisten, kehrten mit der Überzeugung in ihre Heimatstädte zurück, eine Weltstadt besucht zu haben.
Es ist eine der großen Stärken von Dieter Schotts Geschichte der "Europäischen Urbanisierung", dass er seine Begeisterung für die gewaltigen technischen und politischen Leistungen, die hinter der funktionsfähigen Infrastruktur einer Großstadt stehen, nicht verhehlt. So nimmt er die Leser mit auf die urbanen Baustellen der europäischen Geschichte, ohne zu langweilen oder zu vereinfachen. Zudem benennt er die Organisationsdefizite ebenso wie die sozialen und ökonomischen Kosten von Modernisierung im städtischen Raum. Sein Überblickswerk teilt sich in elf Kapitel, die den Zeitraum von der Wiedererstehung des städtischen Lebens im Hochmittelalter bis zu einem Ausblick auf die Zeit nach 1945 umfassen. Dazwischen setzt Schott Kapitel, die die für bestimmte Epochen charakteristischen Stadttypen rekonstruieren: die mittelalterliche Stadt als Markt in einem agrarisch geprägten Umfeld, ihre Versorgungswege und -kreise (nach Thünen), den organisatorischen Wandel und die Krisenanfälligkeit des mittelalterlichen Systems, die sich spätestens im 14. Jahrhundert zeigte (Kap. 4, 5); dann die Handelsstädte des Alten Reichs, am wichtigsten Augsburg, und die Umschlagplätze des neuen Welthandels wie Antwerpen und Amsterdam - gateway cities, wie zuvor schon Venedig. Die historischen Analysen einzelner Beispielstädte machen die Darstellung anschaulich und geben dem Autor Raum für die nötige Tiefenschärfe, um auch komplexere stadtplanerische und infrastrukturelle Probleme zu erläutern, etwa die Auswirkungen der Hygienebewegung im Cholera geplagten Hamburg zur Mitte des 19. Jahrhunderts oder das explosive Wachstum von Industriestädten wie Manchester, das namensgebend für eine besonders ungezügelte Ausprägung des Kapitalismus wurde und Zeitgenossen als "shock city" galt.
Schott trifft hinsichtlich seiner Untersuchungsansätze eine strenge Auswahl. Er orientiert sich an der sozial-ökologischen Schule der Umweltgeschichte, die auf den Umsatz von Energie und Material, auf die Kolonisierung der umgebenden Landschaft durch die Stadt als gebauter Entität ("Umwelt der Stadt"), den ökologischen Fußabdruck urbaner Lebensweisen und auf den Netzwerkcharakter (insbesondere die Energie-, Ab-/Wasser-, und Verkehrsnetze) innerhalb von Städten ein besonderes Augenmerk richtet. Dieser klare, modellbasierte Ansatz hat einmal den Vorteil, dass er eine klare Typisierung (in Bezug auf unterschiedliche Organisationsweisen des sozialökologischen Metabolismus, des Ausgreifens ins Umland und der städtischen Infrastruktur) ermöglicht. Zum zweiten eignet er sich hervorragend zur Arbeit in interdisziplinären Zusammenhängen. Schotts Buch ist dementsprechend auch für technik- und sozialwissenschaftliche Crossover-Studienrichtungen wie Städtebau oder Landschaftsplanung geeignet, die der Autor mit dem Verweis auf die langfristige Pfadabhängigkeit aktueller Probleme anspricht. Das heißt nicht, dass Schott für Historiker/innen und solche auf dem Weg dorthin nichts Neues und Attraktives böte. Die langen Linien in Kombination mit stadtgeschichtlichen Beispielen, die soziale Kontextualisierung städtebaulicher Maßnahmen lesen sich sehr anschaulich und facettenreich.
Zugleich vermisst man kulturgeschichtliche Aspekte, z.B. historisch-lebensweltliche und alltagsgeschichtliche Perspektiven von der Mehrheit der Stadtbewohner; ebenso die Frage nach der Stadt als Entstehungsort des Wissens von der Natur und des bürgerlichen wie proletarischen Selbstverständnisses (in Verbindung mit Körper, Freizeit, Erholung, Romantisierung nicht-städtischer Umwelten bzw. technologischer Utopien) oder nach zentralen Prozessen wie Migration. Auch dies hätte seinen Raum unter dem Titel einer "umwelthistorischen Einführung" finden können. Vermissen wird man auch die süd- und die ost(mittel)europäische Stadt (mit der Ausnahme Wiens und Berlins), zum Beispiel das moderne Rom, aber auch Breslau, Moskau oder Sarajevo. Auch dies ist wohl eine Folge des normalisierenden modernisierungstheoretischen Ansatzes. Denn vor diesem Hintergrund erscheinen diese Städte als rückständig, nur nachholend modernisiert und womöglich zu heterogen, um als typisch zu gelten. Überraschend ist schließlich, dass Schott der Zeitgeschichte lediglich einen kurzen Ausblick von 15 Seiten widmet. Dies mag der eher versteckt präsentierten These geschuldet sein, dass die Pfade der modernen infrastrukturell vernetzten Stadt vor allem zwischen 1850 und 1900 grundgelegt wurden.
Dennoch, es liegt eine hervorragende Überblicksdarstellung vor, die durch eine gut begründete Methodenwahl in der Lage ist, das komplexe Thema klar und doch differenziert zu vermitteln. Dem Anspruch der Studienlektüre, den die UTB Reihe stellt, wird der Band hervorragend gerecht und dies nicht nur für geschichtswissenschaftliche Studiengänge, sondern auch für Querschnittsfächer mit technischen und ingenieurswissenschaftlichen Anteilen. In wohltuender Weise setzt Schott auf die Überzeugungskraft des ausführlich gegliederten aber geschlossenen Textes, der nur gelegentlich durch Schaubilder und Abbildungen durchbrochen wird. Erschlossen wird das Buch durch Sach-, Orts- und Personenregister und ein Gesamtliteraturverzeichnis.
Richard Hölzl