Markus Schiegg: Frühmittelalterliche Glossen. Ein Beitrag zur Funktionalität und Kontextualität mittelalterlicher Schriftlichkeit, Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2015, X + 381 S., ISBN 978-3-8253-6382-6, EUR 68,00
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Die marginalia, das heißt jede Art von Vermerk, der am Rand oder zwischen den Zeilen eines gegebenen Primärtextes hinzugefügt wurde, ziehen das Interesse der historischen und philologischen Forschung seit ca. 20 Jahren vermehrt an. Neben Editionen von verschiedenen Glossenkorpora werden auch Studien über Inhalte, Ziele, Kontexte und Rezipienten des Glossierens immer häufiger veröffentlicht. Im Zentrum der Erörterungen steht nicht der Primärtext an sich, sondern die Marginaleinträge, die bezeugen, wie er rezipiert, interpretiert und weitervermittelt wurde. Markus Schieggs Werk "Frühmittelalterliche Glossen", das im Jahr 2013 als Dissertation an der Ludwig-Maximilians-Universität München angenommen wurde, bietet nun ein allumfassendes und überschaubares Instrumentarium, um Handschrifteneinträge jeglicher Art mit Bezug auf den Kontext ihrer Entstehung zu analysieren.
Fragestellungen, Inhalte und Struktur des Buches werden im ersten Kapitel (1-10) präsentiert. Besondere Aufmerksamkeit wird hier den begrifflichen und terminologischen Unstimmigkeiten gewidmet, die in der internationalen Glossenforschung zirkulieren. Aufbauend auf Gernot Wielands Definition von Glosse als "anything on a page which is not text proper, but which is intended to comment on the text", betrachtet Schiegg als Objekt seiner Untersuchung jede Art von Einträgen, die in einer Handschrift vorkommen mögen, seien es Interpretationen des Primärtextes, seien es Hinweise auf die Situation der Entstehung, auf die Anfertigung oder auf die Rezeption der Handschrift selbst. Dabei setzt Schiegg dem zu behandelnden Eintrag keine Grenzen, weder bezüglich des Umfangs, noch des verwendeten Schreibmittels (Feder oder Griffel), weder hinsichtlich der Sprache (Latein oder Volkssprache), noch des Zeichensystems ("Normal-" oder Geheimschrift). Längere Marginaleinträge werden "Scholie", kürzere "Glosse" genannt. Schieggs Untersuchung ist auf das volkssprachige Glossieren im östlichen Frankenreich vom 7. Jahrhundert bis ins Hochmittelalter fokussiert (Kap. 2, 11-46). Der Autor positioniert sich kritisch zu den immer wieder auftauchenden Vorstellungen einer teleologischen Entwicklung der Volksprache, bei welcher die frühmittelalterlichen Glossen, linguistisch betrachtet, einen Wegbereiter zur späteren volkssprachigen Literatur bilden würden. Zu begrüßen seien zu Recht jene Behandlungen des Glossenmaterials, die nicht nur einem rein lexikographischen Interesse entsprechen, sondern auch den Kontext der Entstehung und die Rezeption der Glossen miteinbeziehen. Ausgehend von der zentralen, bislang von der Forschung eher vernachlässigten Frage, ob und inwiefern Glossen als Text betrachtet werden können, übernimmt Schiegg im dritten Kapitel (47-68) eine pragmatische Definition von Text als "sprachliche Handlung mit einer kommunikativer Funktion" (47). Folglich seien Glossen eine multifunktionale Textsorte, die "in unterschiedlichen kommunikativen Situationen erscheinen konnte" (61). Schiegg schlägt schließlich ein funktional-pragmatisches Modell vor, bei welchem Formen, Funktionen und Kontexte des Glossierens in ihrer Relevanz differenziert und erfasst werden können.
Die darauffolgenden drei Kapitel sind den einzelnen analytischen Dimensionen, das heißt den formalen Eigenschaften (Kotextualität - Kap. 4, 69-86), den Inhalten und der Funktion (Paratextualität - Kap. 5, 87-124) sowie dem Entstehungs- und Rezeptionskontext (Kontextualität - Kap. 6, 125-208) der Glossen gewidmet, wobei Schiegg dazu ermutigt, "zwischen der intendierten und der tatsächlich rezipierten Funktion einer Glossierung" (66) zu unterscheiden. Besonders wertvoll ist im 6. Kapitel die ausführliche Diskussion über die in der Glossenforschung gewöhnliche, starre Unterscheidung zwischen classbook und library book bezüglich der Kontexte bzw. der Ziele des Glossierens. Schiegg distanziert sich von der Meinung, nach der Glossen nur innerhalb eines schulischen Rahmens entstehen können und analysiert vier weitere Situationen der interpretierenden Tätigkeit, nämlich die Bibliothek, das private Studium, verschiedene Vortragssituationen und das Skriptorium. In diesem letzten Kontext entstanden zum Beispiel Federproben und Kolophone, deren Eigenschaften Schiegg sorgfältig und auf Grund sowohl jüngerer Literatur als auch eigener Forschungen zu beschreiben weiß. Im 7. Kapitel (209-320) wird schließlich der ausformulierte analytische Apparat angewendet, um die Handschrift Archiv des Bistums Augsburg, Hs. 6, nun Augsburger Diözesanmuseum DMA 1002, auszuwerten. Schieggs Erörterungen betreffen nur den älteren Teil der Handschrift, ein Evangeliar mit Glossen, das nach Bernhard Bischoff in Süddeutschland, vielleicht in Würzburg, in der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts produziert wurde. Die Handschrift wurde in ihrem Layout geplant, um Glossen sowohl an den Rändern, die teilweise zu diesem Zweck liniiert wurden, als auch zwischen den Evangelienzeilen eintragen zu können. Die Einträge wurden in lateinischer Sprache und im Althochdeutschen geschrieben, meistens in "normaler" Schrift, aber auch in bfk-Geheimschrift (32 Glossen) und in Neumengeheimschrift (10 Glossen). Die Edition der 10 Neumenglossen, 8 auf Althochdeutsch, 2 auf Latein hier in Erstedition, wird durch eine exzellente Einleitung über diese äußerst selten überlieferte Geheimschrift begleitet. Dabei betont Schiegg das "besondere Interesse für ungewöhnliche Schriftsysteme" (227), das süddeutsche Skriptorien charakterisierte. Darauf folgend wird die Glossierung der Handschrift nach den eingangs erläuterten Dimensionen der Kotextualität, Paratextualität und Kontextualität analysiert, wobei die lateinischen Einträge leider nur stichprobenweise behandelt werden. Von besonderer Bedeutung ist die Frage nach dem Zweck, für den die Neumengeheimschrift in den Glossen Anwendung fand. Der Glossator habe zur Geheimschrift zurückgegriffen, um spezifische Glossen von den umstehenden optisch abzugrenzen, sei es auf Grund ihres Inhaltes (im Fall von Erläuterungen nach dem literarischen Sinn statt dem allegorischen) oder ihrer Funktion (Interpretament statt Korrektur des Primärtextes). Was die paratextuelle Analyse anbelangt, schenkt Schiegg den Verweiszeichen besondere Aufmerksamkeit. Er geht davon aus, dass diese nicht "spontane Erfindungen" (290) des Glossators seien, sondern dass sie aus einem für moderne Forschung schwer rekonstruierbaren Repertoire an Sonderzeichen stammen. Im Rahmen der kontextuellen Erörterung kann Schiegg nur limitierte und meistens auf älterer Forschung basierende Informationen über die exegetischen Quellen der lateinischen Scholien anbieten, welche allerdings die weitgrößte Zahl der Interpretamenta bilden und daher die funktionale Beschreibung der Handschrift hätten mehr prägen sollen. In Hinsicht der Gebrauchskontexte schreibt Schiegg dem Augsburgischen Kodex eine schon bei der Planung abgezielte Polifunktionalität zu, die von einer liturgischen Anwendung bis zur Privatlektüre oder dem Einsatz in der Bibliothek als Wissensspeicher reichte. Ein letztes, die erlangten Ergebnisse zusammenfassendes Kapitel (321-332), Verzeichnisse (335-338), eine Bibliographie (338-374) und Register (375-381) runden das Buch ab.
In dieser äußerst präzisen Arbeit sind wenige Ungenauigkeiten zu vermerken. Tippfehler bei lateinischen Wörtern kommen manchmal vor, so zum Beispiel acra statt arca (157), scottici statt scottice (161, Fn. 102) amarius statt armarius (171), teren wahrscheinlich statt terere (216); die Bezeichnung von "tis" bei "quadringentis ... vicibus" (298) ist als Flexionsendung des Ablativs statt des Genitivs zu deuten. Bei der Wendung "telos graece latine vectigal", die Schiegg als "metasprachliche Kommentare" (257) bezeichnet, braucht man nicht unbedingt an einen Beitrag des Glossators zu denken, der "graece" und "latine" bewusst zur Differenzierung der Sprachen hinzufügte. Wahrscheinlich wurde der Eintrag in seiner Gänze aus einem bilingualen Glossar wörtlich übernommen. Bei dem Satz "Hieronymus stützt sich in einigen Fällen allerdings auf Isidors Etymologiae (277f.) wurden die Zeitverhältnisse zwischen den zwei Kirchenvätern, die im ausgehenden 4. bzw. im 7. Jahrhundert lebten, verkehrt.
Insgesamt bietet das Buch einen umfangreichen Überblick und eine durchdachte Systematisierung der von der Glossenforschung bislang erzielten Ergebnisse. Das hierin vorgeschlagene Modell zur kritischen Erfassung jeglichen Typs von Eintragungen ist solide aufgebaut und überzeugend. Die dem Modell entsprechende Analyse der Einträge in der Augsburgischen Handschrift wird hoffentlich als Paradebeispiel für künftige Studien dieser Art dienen. Schieggs "Frühmittelalterliche Glossen" ist eine empfehlenswerte, gleichwohl nicht immer einfache, Lektüre nicht nur für Germanisten, sondern auch für jeden, der sich mit (frühmittelalterlicher) Kulturgeschichte beschäftigt.
Cinzia Grifoni