Susanne Greiter: Flucht und Vertreibung im Familiengedächtnis. Geschichte und Narrativ (= Geschichtswissenschaften; Bd. 29), München: Utz Verlag 2014, VIII + 426 S., ISBN 978-3-8316-4292-2, EUR 42,00
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
In den letzten Jahren hat sich die deutsche Forschung zunehmend kritisch mit der Tradierung von Erinnerung an die Zwangsmigration deutscher Minderheiten aus Ost(mittel)europa auseinandergesetzt.[1] Der Fokus lag vor allem auf nationalen Erinnerungskulturen, medialen Repräsentationen der Zwangsmigrationen sowie gruppenspezifischen Vergangenheitsnarrationen in der Bundesrepublik Deutschland nach 1989. Forschungen zu autobiografischen Deutungen und intergenerationeller Tradierung von "Flucht und Vertreibung" standen bis dato noch aus. Susanne Greiter hat sich dieses Desiderats angenommen. Sie fragt in ihrer 2012 an der Ludwig-Maximilians-Universität München verteidigten Dissertation nach binnenfamilialer Tradierung von Flucht- und Vertreibungserfahrungen in narrativen Interviews mit "Flüchtlingen und Vertriebenen" beziehungsweise deren Nachkommen. Die Verfasserin hat mit dieser Arbeit erste Schritte unternommen, einer Forderung Constantin Goschlers nach einer historischen Betrachtungsweise nachzukommen, die "einerseits der Unhintergehbarkeit individueller Leidenserfahrungen Rechnung trägt und andererseits auf die Verschiedenheit der historischen Kontexte, in denen solches Leid zugefügt worden ist, angemessen Bezug zu nehmen versteht".[2]
Insgesamt ist das Buch in zehn Kapitel gegliedert, wovon das letzte biografische Angaben zu den Interviewten beinhaltet. Das Fehlen einer konventionellen Einleitung erschwert den Lesenden zunächst die Annäherung an den Forschungsstand, Thema und Aufbau der Arbeit. Stattdessen findet man zu Beginn eine Abhandlung über den Umgang mit "false memories" (5) bei der Interpretation lebensgeschichtlicher Interviews. Kapitel II und III widmen sich anschließend zentralen Konzepten und methodischen Zugriffen der Arbeit. Greiter kontaktierte ihre Interviewpartner nicht nur über ein (in Oral-History-Projekten oft übliches) "Schneeballsystem", sondern auch anhand von Veranstaltungen und einem Zeitungsaufruf. Dieser Zuschnitt auf Vergangenheitsnarrationen, die (zum Teil) jenseits kanonisierter Erinnerungen der Vertriebenenorganisationen stattfinden, ist das große Verdienst dieser Arbeit. Insgesamt wurden 39 Personen aus 18 Familien interviewt, deren (wirklich einziges?) gemeinsames Merkmal der Wohnort Ingolstadt ist. Detailreich schildert die Verfasserin die Suche nach geeigneten Interviewpartnern und die daraus resultierende Samplebildung - ein Aspekt, der in vielen Oral-History-Arbeiten leider oft zu kurz kommt. Die transparente Darstellung und Reflexion dieses Prozesses ist Greiter gelungen.
Im vierten Kapitel beginnt der analytische Teil der Arbeit, in welchem vier Leitmotive in den lebensgeschichtlichen Narrationen der Erlebnisgeneration identifiziert werden: Krieg als Abenteuer (Heldengeschichten), Flucht als Reisegeschichte, Helfer- und Rettungsgeschichten sowie Grenzgänge und Grenzverschiebungen. Das fünfte Kapitel widmet sich der innerfamilialen Tradierung. Die zweite, in den 1960ern und 1970ern geborene Generation nehme zwar eine diskursive, hinsichtlich ihrer Deutung zum Teil stark unterschiedliche Neuverortung der Erzählungen ihrer Eltern vor. Diese "neue[n] Präferenzen in der Erinnerung an die Vergangenheit und der Ausbruch aus dem Familiengedächtnis" (239) würden allerdings nicht unbedingt einen Bruch mit familialen Loyalitätsbindungen nach sich ziehen. Kapitel VI fragt nach der Verortung der "anderen Opfer" (69) in den Erzählungen, wobei Greiter vor allem das Reden und Schweigen über Juden thematisiert. Sie konstatiert ein "Paradigma der Abgrenzung" (276), das zwischen den Generationen überliefert und in Erzählungen tauglich gemacht worden sei. Im darauffolgenden Kapitel identifiziert die Verfasserin mehrere "Paradigmen", welche die Lebensgeschichten der Interviewten hinsichtlich ihrer Migrations- und Integrationserfahrung prägen: 1. das Paradigma der Distinktion, 2. die Konstruktion einer "Erzählheimat" (313), 3. die Konstruktion der Familiengeschichte als Kontinuitäten betonende Migrationsgeschichte und 4. das Lebendig-Bleiben von Migration und Integration in der Lebensgeschichte, indem diese Erfahrungen mit neuen Inhalten gefüllt werden.
Greiters abschließende Bemerkung, dass im Sinne des "qualitativen Paradigmas", dem ihre Arbeit folge, "keine verallgemeinerbaren Schlussfolgerungen noch das Fazit einer großen These" (357) zulässig seien, verwundert aufmerksam Lesende zunächst. Denn auf den vorangegangenen 350 Seiten werden ja sehr wohl Grundmuster binnenfamilialer Tradierung präsentiert. Einem besser fundierten und auch differenzierteren Erkenntnisgewinn wäre es jedoch mit Einschränkung dienlich gewesen, wenn den (sehr unterschiedlichen!) Herkunftsregionen und Migrationskontexten der einzelnen Interviewten der Erlebnisgeneration bei der Interpretation, aber auch bei der Darstellung der Ergebnisse mehr Beachtung geschenkt worden wäre. Mitunter wäre Greiter dann auch dem geäußerten Bedürfnis, auf "verallgemeinerbare Schlussfolgerungen" zu stoßen, besser nachgekommen.
In stilistischer Hinsicht ist unbedingt noch hinzuzufügen, dass beim Lesen der Eindruck entstand, dass die Arbeit von einem (nochmaligen?) profunden Lektorat stark profitiert hätte. Auch eine konventionelle Einleitung wäre letztendlich für die anfängliche Orientierung beim Lesen doch wünschenswert gewesen. Abgesehen davon liefert Greiter aber wesentliche erste Erkenntnisse über binnenfamiliale Tradierung der Erfahrung der Zwangsmigration und leistet damit einen wichtigen Beitrag zur Erforschung gegenwärtiger deutscher Erinnerungsgeschichte.
Anmerkungen:
[1] Siehe u.a. Jutta Faehndrich: Eine endliche Geschichte. Die Heimatbücher der deutschen Vertriebenen, Köln u.a. 2011; Elisabeth Fendl (Hg.): Zur Ästhetik des Verlusts. Bilder von Heimat, Flucht und Vertreibung, Münster u.a. 2010; Anna Jakubowska: Der Bund der Vertriebenen in der Bundesrepublik Deutschland und Polen. 1957-2004. Selbst- und Fremddarstellung eines Vertriebenenverbandes, Marburg 2012; Christian Lotz: Die Deutung des Verlusts. Erinnerungspolitische Kontroversen im geteilten Deutschland um Flucht, Vertreibung und die Ostgebiete (1948-1972), Köln 2007; Maren Röger: Flucht, Vertreibung und Umsiedlung. Mediale Erinnerungen und Debatten in Deutschland und Polen seit 1989, Marburg 2011; Stephan Scholz: "Ein neuer Blick auf das Drama im Osten?" Fotografien in der medialen Erinnerung an Flucht und Vertreibung, in: Zeithistorische Forschungen 11 (2014), 1, 120-133.
[2] Constantin Goschler: "Versöhnung" und "Viktimisierung". Die Vertriebenen und der deutsche Opferdiskurs, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 53 (2005), 873-885, hier 884.
Melanie Dejnega