Valentine Toutain-Quittelier / Chris Rauseo: Watteau au confluent des arts. Esthétiques de la grâce (= Collection Art et Société), Rennes: Presses Universitaires de Rennes 2014, 399 S., ISBN 978-2-7535-3363-9, EUR 24,00
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"A rose is a rose is a rose" lautet das berühmte Zitat von Gertrude Stein. Es ist vergleichbar mit: "la grâce de Watteau est la grâce" (267). Steins Vers ist Ausdruck des Universalienproblems, insofern der Begriff "Rose" exemplarisch auf ihre Existenz verweist und sich vom Nominalismus absetzt, der schon im Mittelalter die ontologische Dimension von Universalien verneint und diese als verstandesmäßige Begriffe auffasst. Durch das Ausschlussprinzip erklärt auch das Zitat der Brüder Goncourt die Anmut Watteaus, das heißt diejenige seiner Sujets. Was tautologisch klingt, bezeichnet faktisch ein Kernproblem, das für die Grazie spezifisch sein soll: Es gibt keine Grazie, außer derjenigen, die Jean-Antoine Watteau in seinen Bildern zur Darstellung bringt. Nichts ist graziler als seine Ästhetik, so die Goncourts. Watteaus Malerei bringt ganz poietisch die Grazie zum Ausdruck, die es sonst nicht gäbe. Auch wenn dies überspitzt formuliert ist, selbst für die Goncourts, so bringt es doch den spezifischen Zusammenhang zwischen der Watteauschen Ästhetik und der Grazie auf den Punkt: sie bedingen einander. Die Unbegreiflichkeit anmutiger Ästhetik findet im Werk des Rokoko-Malers ihren eigentlichen Ausdruck.
Die Tagungsakten widmen sich - analytisch und weniger systematisch - der Ästhetik der Grazie, die als Eigenheit von Watteaus Kunst begriffen wird und in ihrer gestalterischen Dimension am prägnantesten im Beitrag von Christophe Henry zum Ausdruck kommt (32ff.). Der Band umfasst 25 Aufsätze und beruht auf einer 2010 in Valenciennes organisierten Veranstaltung. [1]
Die Wiedergabe des französischen Untertitels als 'Ästhetiken der Grazie' bildet nur einen Teil des Konzepts ab. Denn Grazie (griech. charis, lat. gratia, ital. grazia, frz. grâce, engl. grace) lässt sich ins Französische, Italienische oder Englische übertragen. Im Französischen ist der Begriff jedoch durch eine doppelte Semantik belegt, die der deutsche nicht aufweist: Er steht für die göttliche Gnade. Die Herausgeber haben Sorge getragen, dass sowohl aus komparatistischer, literarhistorischer Sicht die theologische Bedeutung der grâce bedacht als auch kunsthistorisch die Ästhetik der Grazie und ihre Wechselwirkung erörtert wird.
Der Publikation gelingt in dreifacher Hinsicht Neues: 1. Eine Untersuchung der Thematik der grâce mit Blick auf die durch Watteau maßgeblich geprägte Ästhetikgeschichte des 18. Jahrhunderts, indem die Begriffe, wie etwa charis, je ne sais quoi, sprezzatura (Castiglione), despejo (Gracián) und délicatesse (Bouhours), in ihrer Verwobenheit mit seiner Ästhetik diskutiert werden; 2. Eine interdisziplinäre Erörterung der Vielfalt des Watteauschen Œuvres vor dem Hintergrund des Grazie-Konzepts. Erstmals werden seit den großen Ausstellungen von 1984 und 2003 [2] wieder umfangreiche Werkinterpretationen vorgelegt; 3. Eine Reflexion der Verbindung zwischen theologischer und ästhetischer Dimension der grâce und ihrer Rezeptionsgeschichte in verschiedenen Künsten (Literatur, Theater, Musik, Tanz, Malerei, Grafik).
Der aufwendig illustrierte Band beginnt mit einem Vorwort Alain Mérots, der die Semantik der Grazie offenlegt. [3] Ohne teleologisch zu argumentieren, gelingt eine prägnante Darlegung der Relevanz der Grazie, die eine Entwicklung der Idee vom Körperlichen zum Moralischen (8) und von der göttlichen Gnade zum Menschen nachzeichnet. Mérot spannt den Bogen von der griechisch-platonischen Figur der Charis zur christlichen Nächstenliebe ("charité chrétienne"). Er zeigt, dass sich die Grazie nur an ihren Effekten, nicht substantiell erkennen lässt. Deshalb steht sie als Oberbegriff für die das 18. Jahrhundert dominierenden Phänomene des Übergangs, des Flüchtigen, Indefiniten. Die Grazie ist das, was dem Menschen durch höherstehende Mächte gegeben wird. Zur Paradoxie der Grazie gehört, dass sie nicht nur die Gabe voraussetzt, sondern auch das Begehren begründet. Sie erscheint deshalb kategorisch dem Erhabenen verwandt, wie in der Einleitung und den Beiträgen von Baldine Saint Girons und Sébastien Galland ausgeführt wird. Das Konzept der Grazie verbleibt rätselhaft, mystisch, geheimnisvoll.
Die Publikation ist in vier Abschnitte unterteilt. Der erste umreißt die Semantiken der grâce, der zweite widmet sich den "Figures et fortunes de la grâce", der dritte integriert die Linie und die Bewegung als Technik und Darstellungssujet, die am anmutigen Ausdruck teilhaben. Der vierte Abschnitt analysiert exemplarisch die "Métamorphoses du mouvement". Damit sind grazile Bewegungen gemeint. Der Band orientiert sich an den Schaffensphasen Watteaus und bietet Einblicke in sein Formenrepertoire und Haltungsstudien. Nicht zuletzt wird die für die Kunsttheorie der Zeit wichtige Frage nach Farbe und Farbauftrag ("coloris", "touche") in Zusammenhang mit der grâce gebracht.
Programmatisch beginnt der Beitrag von Katalin Bartha-Kovács mit Farbe und Farbauftrag und bemüht auch das bereits zitierte Wort der Goncourts. Außer dem Unsagbarkeitstopos wird eine Ästhetik der Überraschung ausgewiesen, die Bartha-Kovács in Bezug auf Roger de Piles herausarbeitet. Es folgt eine Darstellung der Ästhetik der Régence von Henry, die aber die neuere Watteau-Forschung nur am Rande berücksichtigt. Die Studie Christian Michels wird benannt, in ihrer Substanz jedoch nicht integriert. Dies ist nicht einfach eine Lücke in den Forschungsquellen. Vielmehr ist die Watteau-Forschung auf Michels kategorische Einsichten angewiesen, denn seine Arbeit hat zeigen können, dass Watteau - entgegen der stereotypen Zuweisung als 'peintre de la fête galante' - 1717 als Historienmaler in die Akademie aufgenommen wurde. [4] Im Forschungsbezug ist der Band heterogen, was sich besonders an der (mangelnden) Kenntnisnahme von Michels Arbeit ablesen lässt.
Es ist das Verdienst der Beiträge von Toutain-Quittelier und Saint Girons auf diese ethische Dimension einzugehen. Letztere hebt den Stellenwert der Historienmalerei für die Deutung des Gemäldes Pèlerinage à l'île de Cythère (Louvre, 1717) hervor, das, so Michel, nach der sogenannten Berliner Version entstand - eine revolutionäre These, die im Band leider nicht weiter diskutiert wird. Für Saint Girons bietet gerade Watteaus Status als Historienmaler die Möglichkeit, ein eigenes Konzept der grâce zu entwickeln, das weniger an Schönheit als an Hässlichkeit gebunden ist, was sie anhand einiger Verweise auf Montesquieu ausführt.
André Blanc, Kenner des Theaters der Aufklärungszeit, verweist in einem komparatistischen Beitrag auf Stücke von Dancourt und erkennt das Bacchantische in der Ästhetik der Zeit. Demgegenüber betont die Literaturwissenschaftlerin Aurélia Gaillard die Verbindung von Grazie und Je ne sais quoi, die sie anhand der Figura serpentinata zur Kenntnis gibt. Eine Erörterung der Theatersujets von Watteau ist nicht möglich, ohne auch die Verbindung zum Werk von Marivaux herzustellen, die der komparatistische Beitrag Jean-Christophe Abramovicis leistet. Ihm folgt die Darstellung von Françoise Joulie, die sich mit der grâce im Werk André Chastels beschäftigt und dessen Vergleich von Boucher mit Watteau thematisiert. Hier zeigt sich die grâce als eine Verbindung von Körper und Geist (194).
Die Palette der verschiedenen Disziplinen zeigt im gesamten Band eine Konzentration auf die Kunsttheorie, der Goncourts wie von Roger de Piles, und bezieht Texte - etwa Marivaux' und Montesquieus - mit ein. Eine Analyse der Formen und Figuren der Grazie im Werk Watteaus selbst wird dabei eher vorausgesetzt als analytisch entwickelt - etwa zu den Deux cousines. Eine bemerkenswerte Ausnahme werkbezogener Interpretation stellt die kulturhistorisch vergleichende Reflexion von Hubert Hazebroucq dar, der sich dem raren Thema der Choreographie widmet und nach der grazilen Haltung der Figuren Watteaus fragt, indem er an Arbeiten Sarah R. Cohens anschließt. [5] Wie er verdeutlichen kann, ist die Annahme, Watteau zeige einen Menuet-Tanz, schon insofern nicht zu belegen, als bildende Kunst und Musik mit verschiedenen Kategorien operieren, die nicht übersetzbar sind. So unterscheiden sich Menuet, Sarabande, Gigue oder Gavotte nicht in Schrittfolgen, sondern im Tempo (298). Hazebroucqs Beitrag gewinnt an historischer Plastizität, indem er die zeitgenössische Typologie der Tänze als Grundlage für verschiedene Werke ausweist. So lässt sich der Indifférent (Louvre) als Theatertänzer deuten, der einen danse noble (haute) zeigt. Dass der Beitrag zum Schluss auf die Topoi der Forschung rekurriert - Watteau als Darsteller von Theaterszenen und 'fêtes galantes' (309) -, lässt den Ertrag hinter die geschürten Erwartungen zurückfallen. Der Bezug auf die 'Tanz-Titel' der Gemälde, die nicht gesichert sind, ist hier als Argument wenig belastbar.
Der Band hat ein Terrain erschlossen, zu dem seit Raymond Bayers Grundlagenstudie Esthétique de la grâce (1933) nur kleinere Arbeiten erschienen sind. Er eröffnet ein Forschungsfeld, das für die Frühe Neuzeit insofern symptomatisch ist, als dort jene rhetorischen Grundlagen im epistemologischen Sinn von Belang sind, die auch die Grazie kennzeichnen: der Zusammenhang von Ethik und Ästhetik, den die Aufsätze unterschiedlich akzentuieren.
Anmerkungen:
[1] S.a. den Vorgängerband in der Reihe: Carine Barbafieri / Chris Rauseo (éds.): Watteau au confluent des arts, Rennes 2009.
[2] Margarte Morgan Grasselli / Pierre Rosenberg (éds.): Antoine Watteau, Washington 1984; Watteau et la fête galante, Valenciennes 2003.
[3] S.a. Mérots Darlegungen zur Frage der Grazie in Bezug auf Poussin: Des grâces visibles aux grâces secrètes, in: Poussin et Dieu, éd. p. Nicolas Milovanovic / Mickaël Szanto, Paris 2015, 76-83.
[4] Christophe Michel: Le 'célèbre Watteau', Genf 2008.
[5] Sarah R. Cohen: Art, dance, and the body in French Culture of the Ancien Régime, Cambridge 2000.
Kirsten Dickhaut