Rezension über:

Ulrike Brandt: Kommentar zu Epiktets Encheiridion, Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2015, 411 S., ISBN 978-3-8253-6477-9, EUR 98,00
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Rezension von:
Jula Wildberger
The American University of Paris
Redaktionelle Betreuung:
Matthias Haake
Empfohlene Zitierweise:
Jula Wildberger: Rezension von: Ulrike Brandt: Kommentar zu Epiktets Encheiridion, Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2015, in: sehepunkte 16 (2016), Nr. 6 [15.06.2016], URL: https://www.sehepunkte.de
/2016/06/27763.html


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Ulrike Brandt: Kommentar zu Epiktets Encheiridion

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Mit diesem Kommentar legt Ulrike Brandt ihre Dissertation in Klassischer Philologie vor, die von Kurt Sier, einem ausgewiesenen Platon-Kenner, betreut wurde. Da es sich um eine Dissertation in Gräzistik handelt, werden Lemmata, wörtliche Zitate und Termini auf Griechisch gegeben, was die Lesbarkeit für Nicht-Gräzisten erheblich einschränkt. Auch wenn Brandt ihr Verständnis des Textes nicht durch eine eigene deutsche Übersetzung zum Ausdruck bringt, kann man es doch im Großen und Ganzen aus ihren erläuternden Paraphrasen erschließen, in denen griechische Termini dann auch sorgfältig konsistent mit jeweils demselben deutschen Ausdruck wiedergegeben sind.

Auf etwas mehr als 250 Seiten wird der Text Satz für Satz vollständig und ausführlich kommentiert. Neben Paraphrasen macht Brandt gelegentlich Beobachtungen zum Stil, diskutiert Textvarianten, vermerkt Parallelen im Werk 'Epiktets' [1], besonders im Encheiridion selbst, und erläutert den philosophischen Hintergrund sowohl auf der Ebene einzelner Termini als auch was die Einordnung der betreffenden Passage in den engeren und weiteren philosophiehistorischen Kontext sowie speziell Epiktets eigene Theorie und paränetische Praxis betrifft. Der Rest des Buches besteht aus einer knappen, aber informativen Einleitung zu eher philologischen Fragen sowie Registern, die es erlauben, die über den Kommentar verteilte Diskussion einzelner Themen zu verfolgen, und das Fehlen einer zusammenfassenden Darstellung philosophischer Inhalte bis zu einem gewissen Grad wettmachen.

Spezifisch für Brandts Lesart ist ihr Fokus auf die pragmatische Funktion des Werks als Trainingsanleitung für, wie sie argumentiert, bereits fortgeschrittene Studenten stoischer Philosophie (30f.). Es spricht nicht ein Lehrer zum Schüler, sondern der Trainierende zu sich selbst. Wie dies mit welchen Techniken geschieht, wird im Kommentar ausführlich aufgezeigt. Brandt betrachtet das Encheiridion nicht als eine kondensierte Blütenlese der ebenfalls teilweise erhaltenen längeren Diatriben, sondern als ein inhaltlich wie auch funktional unabhängiges Werk.

Eigene Wege geht Brandt auch bei der Einordnung Epiktets in den stoischen Diskurs. Sie ist nicht die einzige, die in ihm einen Neuerer sieht, doch weicht er nach ihrer Interpretation besonders stark von den für andere Stoiker bezeugten Ansichten ab. Hierfür zwei Beispiele: In ihren inhaltlichen Kommentaren greift Brandt immer wieder die Dihärese vom Anfang des Enchiridion auf in Dinge, die "in die eigene Macht gegeben sind" (ep' hēmin), und solche, die es nicht sind. Das ist gewiss sinnvoll. Fraglich ist jedoch, ob man mit Brandt so weit gehen sollte, diese Einteilung mit den weder wirklich guten noch wirklich schlechten, sogenannten unerheblichen Dingen (adiaphora) in Deckung zu bringen (47) und weiterhin adiaphora als die alleinigen Gegenstände dessen anzusehen, was zukommend oder kathēkon ist (197-9). Selbst wenn sich dies für Epiktet überzeugend nachweisen ließe, wäre es doch notwendig, den Leser darauf hinzuweisen, dass Epiktet damit in einem krassen Widerspruch zu dem stünde, was uns für die Alte Stoa bezeugt ist. Danach ist die Zustimmung (sunkatathesis) - also die Entscheidung, eine Vorstellung (phantasia) als wahr zu akzeptieren, und etwas, das Epiktet unserem Machtbereich zuweist - ein adiaphoron. Jeder Handlungsimpuls (hormē) und somit alles Handeln ist auf ein kathēkon gerichtet, und kathēkonta betreffen dieselben Gegenstände wie die nur von Weisen vollbrachten katorthōmata, die man als recht getane kathēkonta definieren könnte. [2]

Wie andere Interpreten meint Brandt, dass bei Epiktet orexis (und das negative Gegenstück ekklisis), anders als in der orthodoxen Stoa, keine Spezies der hormē, des Handlungsimpulses sei. Ungewöhnlich ist aber ihre Annahme, dass orexis nicht etwa eine andere, speziell auf etwas Gutes ausgerichtete Form von Impuls ist, dass man also entweder eine orexis oder nur eine hormē hat; vielmehr meint sie, dass orexis der hormē als Bestimmung des "Handlungsmotivs" (91) vorausgehe (49f.). Da nun aber Epiktet im Enchiridion empfiehlt, zunächst gar keine orexis zuzulassen, fragt man sich dann, wie es überhaupt zu irgendeinem Impuls und somit einer Aktivität kommen kann. Eine Lösung Brandts besteht darin, implizit eine Erlaubnis oder gar ein Gebot der orexis anzunehmen, wenn Epiktet generische Ausdrücke für ein Wollen oder Erstreben gebraucht, z.B. schon in Ench. 1.4 (wo vermutlich eine Spezies der hormē, nämlich der starke Lernwille epibolē gemeint ist). Eine weitere Folge von Brandts Verständnis dieser Termini besteht darin, dass die Rolle von orexis und ekklisis im Rahmen der Affektentstehung unklar bleibt (unzureichend etwa 63-65) und damit der Grund, weswegen Epiktet orexis und ekklisis auf das in unserer Macht Stehende beschränken will: Frustration von orexis und ekklisis ist die Ursache negativer Affekte; was aber noch nicht konkretes Handeln oder wenigstens ein Handlungsimpuls ist, sondern nur eine Wertsetzung, kann nicht frustriert werden.

Im Hinblick auf solche doch etwas unorthodoxen Lesarten ist die Form des Kommentars nicht immer ideal. Sie verleitet zum apodiktischen Erklären unter Hinweis auf die eine oder andere Belegstelle. Es fehlt das sorgfältige, einzelne Punkte nacheinander aufbauende Argument. Schwierig ist auch die Balance, wenn man wie Brandt alle Nutzer des Kommentars zufrieden stellen will. Informationen sind für den Laien oft schon zu speziell, für den Experten teils trivial, teils nicht genau genug.

Die Bibliographie ist umfangreich, jedoch relativ eng auf Epiktet konzentriert. Der monumentale, zugegebenermaßen schwer benutzbare, aber doch sehr gehaltvolle Kommentar von Lothar Willms zu Diatribe 4.1 [3] wird zwar erwähnt, aber nicht erkennbar bei der Kommentierung herangezogen, obwohl diese Diatribe sowohl zum Begriff der Freiheit als auch für Epiktets Handlungsbegriff wichtig ist. Gar nicht berücksichtigt sind die wichtigen Monographien von Thomas Bénatouïl zu den kaiserzeitlichen Stoikern und zum Konzept des Gebrauchens in der antiken Philosophie einschließlich der Stoiker. Im Hinblick auf den thematischen Schwerpunkt der "charakterlichen, seelischen Übung" (27) wäre auch eine Auseinandersetzung mit Angelo Giavattos Arbeit zur Selbstparänese bei Marcus Aurelius interessant gewesen.

Nichtsdestotrotz enthält Brandts Kommentar viele interessante Beobachtungen und hilfreiche Anmerkungen, besonders was die Funktion des Encheiridions als Trainingshandbuch betrifft. Ihre Arbeit ist eine wichtige Ergänzung zu dem noch immer viel zu dünnen Portfolio von Epiktet-Kommentaren und schon von daher eine beachtliche Leistung. Allerdings werden über Epikur und den Stoizismus bereits gut informierte Leser mehr von einer Lektüre profitieren als jemand, dem das stoische Lehrgebäude noch ganz unvertraut ist.


Anmerkungen:

[1] Den Umstand, dass beide Werke nicht von Epiktet selbst, sondern von seinem Schüler Arrian verfasst wurden, hält Brandt für nicht interpretationsrelevant. In Epiktet sieht sie den "geistigen Urheber" und Arrian sei jedenfalls ein Philosoph aus Epiktets Schule, weswegen sie die vereinfachte Autorenbezeichnung 'Epiktet' wählt (14f.).

[2] Siehe z. B. Stobaios: Anthologion 2,7,7b (p. 81 Wachsmuth) und 2,7,9 (p. 86 Wachsmuth); Cicero: De finibus 3,59.

[3] Lothar Willms: Epiktets Diatribe "Über die Freiheit" (4.1), 2 Bde., Heidelberg 2012.

[4] Les stoïciens III: Musonius - Epictète - Marc Aurèle, Paris 2009; Faire usage: la pratique du stoïcisme, Paris 2006.

[5] Angelo Giavatto: Interlocutore di se stesso: La dialettica di Marco Aurelio, Hildesheim u.a. 2008.

Jula Wildberger