Rezension über:

Stefan Luft: Die Flüchtlingskrise. Ursachen, Konflikte, Folgen (= C.H. Beck Wissen; 2857), München: C.H.Beck 2016, 128 S., ISBN 978-3-406-69072-3, EUR 8,95
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Lorenz Neuberger
Universität Konstanz
Redaktionelle Betreuung:
Agnes Bresselau von Bressensdorf im Auftrag der Redaktion der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte
Empfohlene Zitierweise:
Lorenz Neuberger: Rezension von: Stefan Luft: Die Flüchtlingskrise. Ursachen, Konflikte, Folgen, München: C.H.Beck 2016, in: sehepunkte 16 (2016), Nr. 6 [15.06.2016], URL: https://www.sehepunkte.de
/2016/06/28583.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Stefan Luft: Die Flüchtlingskrise

Textgröße: A A A

In seinem aktuellen Werk "Die Flüchtlingskrise - Ursachen, Konflikte, Folgen" fasst der Migrations- und Integrationsforscher Stefan Luft relevante Entwicklungen im Bereich der Asylmigration zusammen. Sein einleitender Überblick über dieses globale Phänomen beinhaltet fundierte Informationen sowohl zu den wichtigsten Fluchtursachen und -routen als auch zu den Hauptherkunfts- und Zielstaaten (8-44). Im zweiten Kapitel lenkt der Autor seinen Fokus auf die europäische Asyl- und Migrationspolitik. Hierbei arbeitet er die vielfältigen Maßnahmen zur "Sicherung" der EU-Außengrenzen heraus und beschreibt die Bemühungen europäischer Entscheidungsträger, Migrant/-innen möglichst bereits in "Pufferzonen" außerhalb der eigenen Grenzen aufzuhalten (45-68). Das Asyl-Zuständigkeitssystem "Dublin" der EU bewertet er als gescheitert und unzulänglich für die Erreichung einer fairen Aufteilung von Schutzverantwortung (69-83). Anschließend widmet Stefan Luft dem Thema der "Steuerbarkeit von Zuwanderung und Asylmigration" ein kurzes Kapitel (84-105). Besonderes Augenmerk legt er darin auf die Dauer von Asylverfahren sowie auf Defizite im Vollzug aufenthaltsbeendender Maßnahmen. Das vorletzte Kapitel bietet eine Diskussion relevanter integrationspolitischer Herausforderungen (105-116), bevor der Beitrag mit einer Zusammenfassung der Vorschläge Lufts zur Behebung mancher der herausgearbeiteten Missstände schließt (117-122).

In handlichem Format bietet der Politikwissenschaftler mit diesem Buch einen wertvollen Überblick über den rasant anwachsenden Forschungsstand zu einem brisanten Thema. Dabei geht er sowohl auf ausgewählte Detailfragen als auch auf relevante systemische Zusammenhänge ein. Trotz der unvermeidbaren Vagheit vereinzelter vorsichtig geäußerter Zukunftsprognosen gelingt es ihm, die wichtigsten Entwicklungen des beginnenden 21. Jahrhunderts deutlich und kompetent abzubilden. Hervorzuheben ist besonders die konzise Art, mit welcher der Autor auf die verschiedenen Verfehlungen aufmerksam macht, die regelmäßig zu menschenunwürdigen Zuständen für Schutzsuchende beitragen. Unter anderem vermerkt er, dass die "Warnsignale für Flüchtlingsbewegungen [...] häufig ignoriert" (20) würden und dass eine Willkommenskultur "eher die Ausnahme" (ibidem) darstelle. In diesem Zusammenhang gelingt es Stefan Luft, die maßgebliche Rolle von Informationsdefiziten für viele involvierte Personenkreise klar herauszuarbeiten. Beispielsweise verdeutlicht er sachgemäß die Heterogenität innerhalb der "Schleuserindustrie" (40), welche in vielen Kontexten vereinfachend als "bekämpfbarer" Feind dargestellt wird. [1] Mit vergleichbarer analytischer Schärfe benennt der Autor die Einbindung von Regierungen mit fragwürdigen Menschenrechtsbilanzen als greifbare Manifestation des Spannungsverhältnisses zwischen "hohen eigenen normativen Ansprüchen und der migrationspolitischen Wirklichkeit" (47). Ähnlich wie bei seiner Einschätzung des nicht zufriedenstellenden Status quo des "gemeinsamen europäischen Asylsystems" besticht der Politologe hierbei besonders durch seine fundierte Kenntnis vielschichtiger politischer und humanitärer Dilemmata.

Trotz dieser und weiterer positiv herauszustellender Punkte gilt es jedoch auch, die Defizite dieses Werkes aufzuzeigen - beginnend mit dem Titel: Zwar wird das Schlagwort "Flüchtlingskrise" bereits zu Beginn des ersten Kapitels etwas entkräftet und vor allem mit der Beobachtung krisenhafter Elemente auf mehreren Ebenen der Verwaltung und Politik begründet. Auch weist der Autor darauf hin, dass "zuallererst die Krise der Flüchtlinge selbst in den Blick genommen werden" (9-10) müsse. Nichtsdestotrotz riskiert er mit dieser Betitelung die Wiederholung eines riskanten Sprachgebrauchs, welcher nur allzu oft einer neutralen und deeskalierenden medialen Berichterstattung im Wege steht. [2] Schließlich merkt der Autor selbst an, dass die Krisenterminologie "auch als politischer Kampfbegriff verwendet werden [könne], der Handlungsdruck erzeugen und die Durchsetzung politischer Ziele erleichtern soll[e]" (8). Von einem umsichtigen Experten könnte folglich erhofft werden, sich der Risiken dieser Wortwahl nicht lediglich bewusst zu sein, sondern konsequenterweise auch davon abzusehen, diesen - wenn auch zweifelsohne öffentlichkeitswirksamen - Buchtitel zu wählen. Ähnlich fragwürdig erscheint die einzelne Anführung der Herkunftsländer Syrien, Afghanistan, Irak (26-33) und Ukraine (36) im Gegensatz zur gesammelten Erwähnung mehrerer Staaten Afrikas (33-35) und des Westbalkans (36). Verbesserungspotential besteht darüber hinaus auch bezüglich der pauschalisierenden, doch unbegründet belassenen These, dass bei Muslimen generell eine besondere "Gefahr" der Bildung von "Parallelgesellschaften" bestehe (107-110). [3] Hierbei bleibt ferner auch unerklärt, parallel zu welcher Gesellschaft sich solche bilden würden. [4]

Diese und ähnliche Probleme der eingeschränkten Verallgemeinerbarkeit dezidierter Aussagen lassen sich möglicherweise vor allem auf das begrenzte Format dieses Einstiegswerkes zurückführen. So erhalten Leser/-innen durch die "europäische Brille" des Autors primär Einblicke in die spezifischen Situationen Deutschlands und der EU, während sich eine Einordnung des Phänomens der Fluchtmigration in den globalen Kontext größtenteils auf das einleitende Kapitel beschränkt. [5] Zuletzt stellt sich die in diesem Forschungsfeld oft kontrovers diskutierte Frage nach der Steuerbarkeit von Migrationsströmen. [6] Zwar widmet Stefan Luft dieser Frage einerseits ein ganzes Kapitel (84-105), in dem er sogenannten "Pull-Faktoren" beträchtlichen Einfluss beimisst, stellt dann aber andererseits fest, dass (Ketten-)Wanderungen "dynamische, sich selbst verstärkende Prozesse [seien], die sich durch die Zielstaaten nur in geringem Maße steuern lassen" (111). Es kann daher von einer Überschätzung der Rolle sogenannter "Pull-Faktoren" in diesem Werk ausgegangen werden.

Mit Ausnahme dieses geringen Verbesserungspotentials gelingt es dem Autor, die komplexen Zusammenhänge eines äußerst relevanten Themas leicht verständlich darzustellen und mit seinem Buch auch für Laien zugänglich zu machen. Somit leistet Stefan Luft einen wichtigen Beitrag zu einer differenzierten Auseinandersetzung mit einer der dringendsten Herausforderungen des 21. Jahrhunderts, welche nur allzu oft emotional und trotz mangelnder Kenntnis der grundlegenden Fakten diskutiert wird.


Anmerkungen:

[1] Vgl. beispielsweise den Artikel der deutschen Bundesregierung, "Schlepper wirksam bekämpfen", online abrufbar unter https://www.bundesregierung.de/Content/DE/Artikel/2016/02/2016-02-11-nato-verteidigungsminister.html.

[2] Für eine Begründung dieser Argumentation siehe Paola Pace / Kristi Severance: Migration terminology matters, in: Forced Migration Review 51 (2016), online abrufbar unter http://www.fmreview.org/destination-europe/pace-severance.html

[3] Die wahrgenommene "islamische Bedrohung" wird unter anderem diskutiert von Anthony M. Messina: 'Securitizing' immigration in Europe: sending them the same (old) message, getting the same (old) reply?, in: Handbook on Migration and Social Policy, hg. von Gary P. Freeman / Nikola Mirilovic, Gheltenham / Northampton 2016, 239-264, hier 253 sowie von Hans K. Rasmussen: No Entry: Immigration Policy in Europe, Kopenhagen 1997, 112.

[4] Siehe Johann Bader: Flüchtlinge - zwischen Willkommenskultur und Abschreckungspolitik, in: Neue Richtervereinigung: Flüchtlinge, Terror und Menschenrechte, 4-10, hier 10, online abrufbar unter https://www.neuerichter.de/fileadmin/user_upload/NRV-BaWue_2016-web.pdf.

[5] Siehe beispielsweise Eiko R. Thielemann: Does Policy Matter? On Governments' Attempts to Control Unwanted Migration (= IIIS Discussion Paper No. 9), 2003, online abrufbar unter https://www.tcd.ie/iiis/documents/discussion/pdfs/iiisdp09.pdf

[6] Mathias Czaika / Hein De Haas: The effectiveness of immigration policies, in: Population and Development Review 39(3) (2005), 487-508 sowie Stephen Castles: The factors that make and unmake migration policies , International migration review 38(3) (2004), 852-884.

Lorenz Neuberger