Vanessa Hirsch: Malerei und Installation bei Robert Irwin. Vom Bild-Raum zum Raum-Bild (= humboldt-schriften zur kunst- und bildgeschichte; Bd. V), Berlin: Gebr. Mann Verlag 2008, 400 S., ISBN 978-3-7861-2547-1, EUR 49,00
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Was seit der Jahrtausendwende als spatial turn bezeichnet wird, thematisiert nicht zuletzt eine allumfassende Raumwende in den verschiedensten Disziplinen, sondern auch ein grundlegend neues Verständnis von Raum, welches es Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen der unterschiedlichsten Fächer erlaubt, miteinander zu kommunizieren und Anschlussfähigkeiten an die eigenen Forschungen herzustellen. [1]
So setzt sich Vanessa Hirsch in ihrer im Juli 2004 bei der Philosophischen Fakultät III der Humboldt-Universität zu Berlin angenommen Dissertationsschrift in umfassender "wissenschaftlicher" (15) und raumanalytischer Weise mit dem 1928 geborenen amerikanischen Kunstinstallateur und Ausnahmekünstler Robert Irwin aus Kalifornien auseinander.
Die Arbeit gliedert sich in sieben größere Argumentationsschritte. Die ersten beiden Kapitel befassen sich mit einleitenden Gedanken und der Vorstellung des theoretisch-methodischen Settings, während im zweiten Kapitel in ausführlicher Weise auf die Begrifflichkeiten und Unterschiede zwischen dem "Bild-Raum" und dem "Raum-Bild" eingegangen wird. Angelehnt an Robert Irwins verschiedene Schaffensphasen folgt Hirsch in chronologischer Reihenfolge in einem vierten größeren Argumentationsschritt dem, was sie "Zwischen-Räume" (140ff.) nennt. Dieses behandelt die Zeit, in der Irwin dem "Art and Technology-Programm" (298) folgte, in der er sich zunehmend den "Auswirkungen von Wahrnehmungsstrukturen auf kollektive Bewusstseinsformen und seine eigene künstlerische Praxis als deren Gegenmodell" (158) widmete und somit naturwissenschaftlichen und später philosophischen Grundlagen der Wahrnehmung folgte. [2] Im fünften Kapitel, welches gleichzeitig einen Großteil der Studie darstellt, widmet sich die Autorin den "Raum-Bilder[n]". Die Unterteilung dieses Kapitels folgt klassifizierenden Kategorien, wie zum Beispiel "Licht als Form" (188) oder "Wand als Bild" (221) oder der Verwendung bestimmter Materialien wie Gaze (211, 247ff.). Im vorletzten Argumentationsschritt widmet sich Vanessa Hirsch den "polyfokale[n] Raum-Bilder[n]". Dieses beinhaltet die Schaffensphase, bei dem Irwin sein Konzept der "Transformation von Realraum zu einem fluchtenden, dreidimensionalen Bildraum" (353) weiterentwickelte. Abschließend fasst die Autorin ihre Ergebnisse in dem Kapitel "Bild, Raum und Wahrnehmung" (362ff.) zusammen.
Eine der zentralen Thesen von Hirsch lautet, dass Irwin "anstelle von Kunstobjekten [...] seinen Betrachtern Stimulationsübungen für die Sinne darbieten [wolle] und sie auf die Bedeutung ihrer Apperzeptionsmechanismen verweisen" (10) [sollten]. Irwins Gesamtwerk präsentiere sich insgesamt als "Prozeß einer fortschreitenden Reduktion", so Hirsch (11). Den verschiedenen Raumtypen sei hierbei ein jeweils "spezifisches Verständnis von Zeitlichkeit zugeordnet." (11) Allgemein erweise sich das mit einem hohem Komplexitätsgrad behaftete Gesamtwerk für Hirsch sowohl in der "Dokumentation" als auch in "wissenschaftliche[r] Bearbeitung [...] bis dato noch als lückenhaft" (14) - eine sicherlich berechtigte Legitimation für eine weitere größere Forschung.
Hirsch folgt einer spezifischen Fragestellung, dass einerseits die "Analyse des malerischen Werkes" (15) ins Zentrum ihrer Monografie stellt und andererseits die Frage aufwirft, "inwiefern hieraus Konsequenzen für das installative Œuvre des Künstlers abzuleiten" (15) seien. Dabei bedient sich Hirsch eines wiederkehrenden methodischen Vorgehens, welches zunächst die Einordnung der jeweiligen Werke in die zeitgenössische Kunstentwicklung vornimmt und diese darüber hinaus mit diachronen Fragestellungen verbindet.
Hirsch legt den Schwerpunkt ihrer Argumentation auf die Analyse der Werke Irwins, indem sie auf "formale[n] Kriterien zum Zwecke einer Untersuchung der gestalterischen Vorgehensweise des Künstlers, die sich unter anderem in klar abgrenzbaren Werkgruppen niederschlägt" eingeht (16). Als Quellen dienen Hirsch neben den Werken Planzeichnungen des Künstlers, sowie Korrespondenzen (16). Hierbei hat sich für die Autorin "als grundlegend für die Analyse von Irwins Œuvre der sechziger und siebziger Jahre [...] die Relation zwischen Zwei- und Dreidimensionalität [erwiesen], sein im Spannungsfeld zwischen Bild und Skulptur situiertes spezifisches Raumverständnis." (16) Die Autorin geht somit Irwins Spuren von der Ausweitung des Bildraumes vom Realraum als Äquivalent des Bildraumes nach. Besonders mit den zahlreich abgedruckten Abbildungen und Farbtafeln wird deutlich, wie umfangreich Irwins Gesamtwerk ist.
Dabei gelingt Hirsch stets die Einordnung in den Forschungskontext, denn die Autorin sieht die Einordnung des Gesamtwerkes von Irwin immer in Bezug auf seinen kunstgeschichtlichen Zusammenhang, welcher bisher als nur durch "ungenaue Erklärungen" (13) definiert wurde. Problematisch scheint ihr hierbei die genaue Einordnung von Irwins fortschreitender Reduktion der künstlerischen Mittel in Richtung Rauminstallationen mit bestimmten Lichtwirkungen in die "Environmental Art", die "Konzeptkunst" und in die "light and space art". Hierbei stand bisher, so Hirsch, die Erfahrungsdimension im Fokus der Forschungen.
Das "wachsende Bedürfnis nach Selbsterfahrung und der Auslotung des eigenen Sinnesapparates" spielte für Irwin, so Hirsch, stets eine wichtige Rolle (149). Erfahrungsräume sollten so die Besucher und Besucherinnen besonders wahrnehmungspsychologisch ansprechen. [3] Diese körperliche Erfahrung ging so weit, dass sogar Schwindelgefühle ausgelöst werden konnten oder durch schalldichte Isolierung sich die Menschen ganz auf ihre eigenen Körper konzentrieren sollten. Irwins Teilnahme an der Konferenz über Bewohnbarkeit im Jahr 1970 in Venice und einer daraus resultierenden Kooperation mit James Turrell und Edward Wortz stellten, so Hirsch, eine besondere Episode dar, denn hier widmete sich Irwin "erstmals der Gestaltung von Räumen" nach den frühen Dot Paintings und Discs (152). Zentrales Ergebnis, so die Autorin, sei hier das Verschwimmen der Grenzen "zwischen Naturwissenschaftler und Künstler" (153). Dieses resultiere aus dem Austausch mit Wortz und der "Fachterminologie der Wahrnehmungspsychologie" (153), mit welcher sich Irwin zunehmend vertraut machte.
Zentral sei dann, dass Irwin primär auf die atmosphärische Wirkung des Raumes setzte und "nicht allein auf das Objekt, sondern auf die Gesamtheit des Raumes", so Hirsch (156). Der künstlerische Akt sei nun nicht mehr "über die Verfertigung eines Kunstgegenstandes, sondern als eine befragende, untersuchende Haltung, welche der intellektuellen und praktischen Annäherung an eigene Wahrnehmungsmechanismen dienen sollte" (157), zu verstehen. Eine Konsequenz daraus war, dass dieses zu einer ausgeprägten Mobilität des Künstlers und zu "ständigen Ortswechseln" (158) führte, so Hirsch.
Hirsch kann herausarbeiten, dass Irwin die "empirisch mit den Sinnen wahrgenommene Welt per se zum Bild erklärt, sofern sie nur konzentriert genug wahrgenommen wird" (166). Dieses spiegele sich besonders darin wider, dass Irwin die Aufgabe von Kunst "nicht im Verfertigen von Objekten" sah, "sondern in der Beschäftigung mit Bewußtseinszuständen und der menschlichen Wahrnehmung (170). Neu sei für Irwin damit, dass Kunst als "Werkzeug sozialer Veränderung" (187) anzusehen sei, so Hirsch. Die Aufgabe des Künstlers sei daher die "Befragung perzeptueller Mechanismen", um zu einer "Neudefinition von Kunst zu gelangen (187).
Vanessa Hirsch schafft mit ihrer Monografie eine sehr gelungene Neuinterpretation des umfassenden und schwierig zu durchdringenden Werkes des "Erfahrungsgestalter[s]" und Künstlers "on demand" Robert Irwin (162). Ihr gelingt es in besonders prägnanter Weise das komplexe Gesamtwerk jenes vielschichtigen Künstlers in einer konsequent systematischen Lesart zu präsentieren. Der Spagat zwischen der Analyse der Werke eines jeweiligen Schaffenszeitraumes in Verbindung mit der Einordnung in den zeitgenössischen Kunstdiskurs und der aktuellen Forschungsliteratur gelingt der Autorin in besonderer Weise, sodass auch einem mit Irwins Werk nicht so vertrauten Leser oder Leserin stets sein Werk, die Analyse und damit verbundene Interpretation nachvollziehbar vor Augen geführt wird. Wer sich zudem für Raum als analytische Kategorie interessiert, kann bei Vanessa Hirsch besonders über die Ebene der Wahrnehmung von Bild und Raum viel erfahren.
Anmerkungen:
[1] Vgl. Doris Bachmann-Medick: Cultural turns. New orientations in the study of culture, Boston 2016, 211ff.
[2] Vgl. Maurice Merleau-Ponty: Phénoménologie de la perception, Paris 1945.
[3] Vgl. Bruce E. Goldstein: Sensation and Perception, Belmont 72007.
Julian Aulke