Christian Berger: Wiederholung und Experiment bei Edgar Degas, Berlin: Dietrich Reimer Verlag 2014, 215 S., 19 Farb.-, 80 s/w-Abb., ISBN 978-3-496-01498-0, EUR 39,00
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Wie lässt sich das Œuvre eines Malers deuten, der immer wieder Frauen zwar aus unterschiedlichen Perspektiven, aber bei gleichen Verrichtungen - dem Tanz und der Toilette - in Szene gesetzt hat? Lässt sich die Wiederholung als eine künstlerische Strategie verstehen, die den Blick für das schärft, was zwischen den seriellen Einzelbildern liegt: eine unsichtbare Ebene der Metareflexion?
Diesen Fragen widmet sich Christian Berger in seiner 2014 erschienenen Monografie "Wiederholung und Experiment bei Edgar Degas", die aus seiner im Jahr zuvor an der Freien Universität in Berlin eingereichten Dissertation erwachsen ist. Deutlich zu spüren ist der produktive Einfluss der Emmy-Noether-Nachwuchsgruppe "Form und Emotion. Affektive Strukturen in der französischen Kunst des 19. Jahrhunderts und ihre soziale Geltung", geleitet von Kerstin Thomas an der Universität Mainz, an der der Autor als Mitarbeiter von Prof. Dr. Gregor Wedekind einige Zeit tätig war. [1] Die Auseinandersetzung mit der materiellen Beschaffenheit von Degas' Kunst dient Berger jedoch nicht dazu, einen Beitrag zur Emotionsforschung zu leisten. Stattdessen widmet er sich - anknüpfend an Werner Hofmanns Betitelung von Degas als "großem Experimentator" [2] - der technischen Praxis des Künstlers. Hofmann bezeichnet nicht nur die Arbeitsweise Degas', sondern auch dessen Sehen und Denken als experimentell. Hieran anknüpfend geht es Berger nicht um die Verortung des Künstlers zwischen Selbstgenügsamkeit und modernem Leben [3], oder - wie in aktuellen Ausstellungen diskutiert [4] - um die Vorwärts- und Rückwärtsgewandtheit des Künstlers in Rahmen einer als problematisch empfundenen Zugehörigkeit zum Impressionismus. Stattdessen widmet sich Berger der als singulär bezeichneten künstlerischen Praxis Degas', die in ihrer werkimmanenten und medienübergreifenden Dimension berücksichtigt wird.
Zu Beginn der chronologisch sortierten Ausführungen präzisiert Berger den von Degas auch selbst verwandten Begriff des Experiments im Rekurs auf die empirische Forschung des 17. Jahrhunderts. Dabei verweist Berger auf einen "Kult des Gelehrten" (13), der - durch die Erhebung der Naturwissenschaften zu einer Art Ersatzreligion - zunehmend von Malern in Anspruch genommen wurde. Degas' künstlerische Praxis und insbesondere das wiederholte Abarbeiten des Künstlers an gleichen Sujets wird von Berger als Suche nach einer erkenntnistheoretischen Qualität von Malerei gewertet, die dem paradoxen Ideal eines fertigen Versuchs folge. Nicht das endgültige Kunstwerk, sondern seine differenzielle inner- wie auch außerbildliche Wiederholung, wechselnde Präsentationsformen und die laborähnlichen Zustände im Atelier des Künstlers dienen nach Berger - der sich hier auf die Philosophie (u.a. Étienne Souriau, Gilles Deleuze und Giorgio Agamben) beruft - der Eröffnung von selbstreflexiven Möglichkeitsräumen (16).
Den Einstieg von Bergers Argumentation bildet Degas' Faszination für den Tanz, den der Künstler in Bildpaaren festgehalten hat (17). Um die Wiederholung als grundlegendes Schaffensprinzip von Degas zu verdeutlichen, unternimmt Berger im Rekurs auf die Sprachwissenschaften eine Differenzierung der Begriffe Variation und Variante (31). Während die Variante die Haltung einer Figur beschreibt, die in wiederholter Form das Ausloten ihres Bewegungspotenzials zeigt, folgen thematisch aufeinander bezogene Werkgruppen dem Prinzip der Variation. Diese definiert Berger im Rückgriff auf N. Goodman als Exemplifikation eines Themas, wie es häufiger in der Musik auftrete. Schlüsselbegriffe wie Tilgung, Ergänzung, Deformation und Neuordnung lassen sich nach Berger bildintern wie auch bildübergreifend anbringen und bezeugen, dass die im Moment der Wiederholung aufschimmernde Spannung zwischen Differenz und Deckung die Essenz von Degas' Gemälden und seine künstlerische Methode ausmacht. Der Begriff der Deckungsgleichheit lässt sich im Sinne Bergers doppeldeutig anbringen, bezeichnet er doch einen motivischen Gleichklang und eine materielle Überlagerung. So berücksichtigt Berger die zeichnerische und malerische Qualität von Degas' Bildern als Ausweis eines Originalitätsanspruches des Künstlers und dessen Selbstinszenierung als Choreograf, der Figuren rhythmisch auf einer Bildoberfläche verteilt (44). An dieser Stelle lässt sich eine Anknüpfung an die theaterwissenschaftlichen Forschungsbeiträge von Gabriele Brandstetter bemerken [5], die sich in ihrer Forschung zu Henri Matisse mit dem Vergleich zwischen Maler und Choreograf befasst hat.
Im Folgenden verweist Berger auf zeitgenössische Versuche der Fixierung von Bewegung im Medium der Fotografie (Étienne-Jules Marey / Eadweard Muybridge) (47), und im übergeordneten Rahmen auf die Nähe von repetitiven Bildformeln zum Ornament, das als Aufhebung von Individualität zugunsten eines überfiguralen Arrangements gedeutet wird. Hier vermisst der interessierte Leser eine tiefergehende historische Diskursivierung (43).
Im zweiten Kapitel widmet sich Berger auf der Grundlage des Experimentbegriffs bei Louis Pasteur und Claude Bernard Degas' Ausstellungspraxis, wodurch die These der Wiederholung als künstlerische Strategie eine profunde Erweiterung erfährt (81). Neben historisch-biografischen Informationen, wie Degas' Präferenz für weiße Rahmen oder seinem Bemühen um einen privaten Interieur-Charakter des Ausstellungsortes, zeigt Berger ein spezielles Interesse an der Hängungspraxis des Künstlers (93). Diese ist für ihn unmittelbar verbunden mit technischen Neuerungen im Zeitalter der Industrialisierung, die Eingang in das Ausstellungskonzept des Künstlers fanden. Etwas unvermittelt erscheint die Klassifizierung Degas' als Alchemist, die Berger an den Experimenten des Künstlers mit der chemischen Zusammensetzung von Farben festmacht, und die auch schon in der Forschung Hofmanns in Bezug auf Degas' drucktechnische Verfahren auftaucht (97). Sie dient Berger als Aufhänger für einen detaillierten Einblick in Degas' Arbeitsweise, die sich durch die Verwendung unterschiedlicher Befeuchtungstechniken / Fixiermittel, Bildformate sowie dem Interesse an grafischen Techniken auszeichnete (112).
Insgesamt lässt sich Bergers Monografie zum experimentellen Charakter von Degas' Arbeitsprozessen und Werken als ein innovativer Beitrag im Feld der Materialästhetik, Wissenstheorie, Rezeptionsgeschichte und Bildtheorie bezeichnen. Dem Autor gelingt es in jedem Kapitel, den Blick des Betrachters von dem motivischen Befund der Bildwerke auf ihren Entstehungskontext zu lenken, wobei ihre Oberflächenbeschaffenheit zumeist den Ausgangspunkt der Argumentation bildet. Sowohl für den Fachmann wie auch den Laien bietet das Buch einen faszinierenden Einblick in Degas' facettenreiche künstlerische Praxis sowie seine Kontextualisierung im Impressionismus.
Anmerkungen:
[1] http://form-und-emotion.de/ (aufgerufen am 26.06.2016).
[2] Werner Hofmann: Degas und sein Jahrhundert, München 2007.
[3] Rezension von Christian Berger, in: sehepunkte (8), 2008, Nr. 5, http://www.sehepunkte.de/2008/05/13758.html (aufgerufen am 26.06.2016).
[4] Alexander Eiling: Klassik und Experiment im Werk von Edgar Degas, in: Degas. Klassik und Experiment, hg. von dems., Staatliche Kunsthalle Karlsruhe, 11.08.2014-01.02.2015, München 2014, 16-29; Svenja Mordhorst: Das Wahre im Künstlichen. Edgar Degas. Die Orchestermusiker, in: Monet. Die Geburt des Impressionismus, hg. von Felix Krämer, Städel Museum Frankfurt, 11.03.-21.06.2015, München / London / New York 2015, 169-182.
[5] Gabriele Brandstetter: SchnittFiguren. Intersektionen von Bild und Tanz, in: Figur und Figuration. Studien zu Wahrnehmung und Wissen, hg. von Gottfried Boehm, München 2007, 13-32.
Anne Hemkendreis