Franziska Kuschel: Schwarzhörer, Schwarzseher und heimliche Leser. Die DDR und die Westmedien (= Medien und Gesellschaftswandel im 20. Jahrhundert; Bd. 6), Göttingen: Wallstein 2016, 329 S., 12 s/w-Abb., ISBN 978-3-8353-1789-5, EUR 34,90
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"Westmedien" - das waren im DDR-Sprachgebrauch bundesrepublikanische Medienerzeugnisse wie Radio- und Fernsehsendungen, Tagespresse, Illustrierte oder andere gedruckte Publikationen. Der Begriff konnte aber ebenso Filme aus Hollywood oder US-amerikanische und britische Rockmusik umfassen, zumal wenn diese über westdeutsche Rundfunksender ausgestrahlt wurde. Franziska Kuschel hat in ihrer Dissertation erstmals umfassend die vielfältigen Arten untersucht, wie DDR-Bürger solche Westmedien konsumierten und mit westdeutschen Medienmachern interagierten. Sie erforschte zugleich, wie die DDR-Staats- und Parteiführung sich dazu verhielt und die eigenen Bürger so systematisch zu "Schwarzhörern, Schwarzsehern und heimlichen Lesern" machte.
Vom "Krieg um die Köpfe" über den "Kampf gegen 'geistige Grenzgänger'" bis zu "Resignation und Kapitulation" lasse sich die Haltung des SED-Politbüros zum Westmedienkonsum der DDR-Bürger beschreiben, schildert die Verfasserin pointiert und gliedert den empirischen Part ihrer Arbeit in diese drei Hauptkapitel. Dem Hauptteil stellt sie neben der Einleitung drei knappe "Vorgeschichten" voran, vom Beginn des "Jahrhunderts der Massenmedien" (Axel Schildt) in der Kaiserzeit bis zur Medienlenkung im Nationalsozialismus. So konzis diese Skizzen auch verfasst und so relevant sie für eine tiefgehende Kontextualisierung des Medienverständnisses in der DDR fraglos sind, so sehr vermisst man im weiteren Verlauf der Studie sinnige Verknüpfungen zu diesen Vorgeschichten. Nur an wenigen Stellen greift die Autorin argumentativ darauf zurück, so dass man sich fragt, wie notwendig dieser etwas anorganische Exkurs wirklich ist.
Kuschel nimmt beides in den Blick, "die Perspektive der Rezipienten und die Auseinandersetzung des ostdeutschen Staates mit den westlichen Medien und ihren Nutzern" (23). Es geht ihr darum zu zeigen, "mit welchen Strategien einerseits der Staat den Medienkonsum zu kontrollieren, zu verhindern oder zumindest einzudämmen versuchte, und andererseits, mit welchen Strategien die Mediennutzer dem staatlichen Druck begegneten und versuchten, ihre Interessen durchzusetzen" (10). So will die Autorin herausfinden, welche Auswirkungen der Weg in eine Mediengesellschaft für die sozialen Beziehungen im diktatorischen Staat DDR hatte und letztlich auch, ob westliche Medien "zur Erosion der DDR-Herrschaft" (12) beitrugen. Dieses anspruchsvolle Vorhaben hat Franziska Kuschel souverän eingelöst und so einen sehr beachtlichen Beitrag für die Medien- und Zeitgeschichtsforschung geliefert.
Das Buch schließt eine veritable Forschungslücke. Angesichts der guten Materiallage zu den Beziehungen der beiden deutschen Staaten und ebenso zur Mediengeschichte nach 1945 sollte man nicht glauben, welche Lücken das Wissen über eine deutsch-deutsche Mediengesellschaft noch immer aufweist. Es fehlte bislang der medienübergreifende Blick in einer Longue durée. Angesichts der vielfach auf Zeitzeugenaussagen basierenden Studien ist eine aktengestützte ereignishistorische Erweiterung des Forschungsstands von größter Bedeutung. An genau diesen Leerstellen setzt Franziska Kuschel an und genau deshalb wird ihr Buch ein Grundlagenwerk der historischen Medienforschung über das geteilte Deutschland werden.
Die Bedeutung der Studie ergibt sich auch und gerade durch ihre konzeptionelle Anlage. Die Autorin hat es sich nicht leicht gemacht, sie hat sich gerade nicht auf lediglich ein Medium und ein Zeitfenster konzentriert, sondern wagt sehr erfolgreich den großen Wurf. Für den Zeitraum der gesamten DDR bespricht sie das vielfältige und im ständigen Wandel begriffene Medienensemble von Kino, Radio und Fernsehen bis hin zur ganzen Bandbreite gedruckter Medienerzeugnisse. Das gelingt ihr, indem ihre empirischen Kapitel einerseits sauber gegliedert sind und sich der Reihe nach den einzelnen Medienbereichen widmen, diese aber andererseits alle konsequent auf die jeweils wechselseitigen Kommunikationsräume ausgerichtet sind. Damit erfüllt Franziska Kuschel ihr Forschungsziel mit Bravour; in einer solchen Dichte und differenzierten Kommentierung sind archivalische Quellen zur Mediennutzung in der DDR aktuell nirgends sonst zu studieren. Durch das Aufzeigen der "wechselseitigen Abhängigkeiten" (23) von Mediennutzern und Medienlenkern in der DDR erhält die Studie ihren ganz besonderen Reiz und trägt auch zur historischen Medienwirkungsforschung substantiell bei. Kuschel weist das "demokratische Potential der Massenmedien" (308) und ihre "emanzipatorischen Wirkungen" (307) nach, die die Öffnung der DDR entscheidend mit herbeiführten.
Einige besonders bemerkenswerte Einzelbefunde der Studie seien noch herausgegriffen. Ein grundlegendes Legitimationsproblem der SED-Medienpolitik stellte das fehlende Verbot von Westmedien dar. Anders als die direkte Kontaktaufnahme mit westdeutschen Journalisten war das bloße Sehen, Hören und Lesen von Westmedien in der DDR offiziell nicht untersagt. Trotzdem suchte die Staatssicherheit dies zu unterbinden und zu sanktionieren. Wegen der fehlenden Gesetzesgrundlage, strapazierten Richter oftmals andere Artikel und Paragrafen über "staatsgefährdende" Propaganda und Hetze, so z.B. den Art. 6 der Verfassung oder die §19 StEG und § 106 StGB. Es gab durchaus strenge Verurteilungen von DDR-Bürgern für einen aus SED-Sicht "gefährlichen" oder "falschen" Medienkonsum. Aber insgesamt bewegten sich die Aushandlungsprozesse in rechtlichen Grauzonen. Eher versuchte die DDR-Regierung "erzieherisch" vorzugehen, indem sie Westmedien diffamierte und die Bürger von der sachlichen und moralischen "Richtigkeit" der eigenen Medienangebote überzeugte. Brutale flächendeckende Eingriffe wie die "Aktion Ochsenkopf" 1961, bei der Vertreter der FDJ im Bezirk Leipzig Fernsehantennen demontierten und umbauten, um den Empfang westlicher Programme zu sabotieren, waren laut Kuschel eher die Ausnahme.
Die Autorin differenziert treffsicher die einzelnen Medien im zeitgenössischen Ensemble. So unterschied sich die Reichweite westlicher Printerzeugnisse in der DDR sehr deutlich von derjenigen der Rundfunkprogramme. Während die Berliner Mauer die schon 1948 errichtete "Pressemauer" verstärkte und den Bezug von westlichen Zeitungen, Illustrierten oder auch Büchern ab 1961 in der DDR, wenn auch nicht ganz unmöglich machte, so doch erheblich erschwerte, konnte die Abriegelung der Landesgrenzen dem Äther nur wenig anhaben. Westlicher Rundfunk wurde in der DDR trotz Mauer empfangen. Speziell im Bereich des Fernsehens war der Konsum westlicher Angebote auch deshalb so stark ausgeprägt, weil das DDR-Fernsehprogramm gar nicht in allen Landesteilen reibungslos zu sehen war. Viele DDR-Bürger sahen es somit als ihr Recht an, auf westliche Kanäle umzuschalten, denn schließlich hatten sie für das Gerät bezahlt und wollten es bestmöglich nutzen. Außerdem betrachteten sie es als ihre grundsätzliche "persönliche Freiheit", die Medien ihrer Wahl zu nutzen, auch die westlichen (130f). Für sie war dies kein politisches Verhalten. Darauf musste die DDR-Regierung beständig diskursiv reagieren. Was ihren Stand nicht gerade erleichterte, war das offene Geheimnis, dass auch Funktionäre der Massenorganisationen regelmäßig Westmedien konsumierten.
Kuschel liefert eine Fülle weiterer wichtiger Informationen, so zu Fernsehstuben, Fernsehdecodern und Satellitenfernsehen, zu Hörerversammlungen, Störsendern und speziellen, für Westsender unempfänglich gemachten Radiogeräten ("Kolibri"), zu Kinogrenzgängern und westlichen Kinofilmimporten, zu Publikationen im Samisdat und Tamisdat und angeblichen "Schmutz- und Schund"-Heften. Ihre Studie ist von einer beeindruckenden Dichte. Dies ist Freud und Leid zugleich: Leid, weil die Analyse dadurch teils sperrig und eklektisch erscheint. Von Zeit zu Zeit ist es wirklich schwer, der Autorin zu folgen. Allerdings sind sehr gute Zwischenresümees eingebaut, zwei größere und mehrere kleinere. Es überwiegt jedoch die Freude über die herausragende Forschungsleistung, die die Autorin erbracht hat. Dieses Buch war längst überfällig.
Alina Laura Tiews