Eva Reinkowski-Häfner: Die Entdeckung der Temperamalerei im 19. Jahrhundert. Erforschung, Anwendung und Weiterentwicklung einer historischen Maltechnik (= Schriften des Instituts für Archäologie, Denkmalkunde und Kunstgeschichte; Bd. 2), Petersberg: Michael Imhof Verlag 2014, 388 S., 180 Farb-, 25 s/w-Abb., ISBN 978-3-7319-0079-5, EUR 69,00
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Warum war gerade die Temperamalerei für viele Künstler des 19. Jahrhunderts von so großer Bedeutung und warum interessierten sie sich für die Forschungsergebnisse der Kunstgeschichte, der Restaurierung und der Naturwissenschaft?
Diesen Fragen geht Eva Reinkowski-Häfner vor allem im zweiten Teil ihrer umfangreichen Arbeit nach, die 2014 im Michael Imhof Verlag in einer sehr schön gestalteten und gut bebilderten Ausgabe erschienen ist. Die Publikation geht auf eine 2013 am Institut für Archäologie, Denkmalkunde und Kunstgeschichte der Universität Bamberg vorgelegte Dissertation zurück. Der produktive Austausch mit dem DFG-Forschungsprojekt "Von Böcklin bis Kandinsky - maltechnische und analytische Forschungen zu komplexen Bindemittelmischungen in der Münchner Temperamalerei um 1900" des Doerner-Instituts von 2009 bis 2012 ist ersichtlich.
Die Voraussetzungen, die zu einer Renaissance der Tempera in der Malpraxis des 19. Jahrhunderts führten, stellt die Autorin, die am Institut für Kunsttechnologie und Konservierung des Germanischen Nationalmuseums Nürnberg zur Restauratorin ausgebildet wurde, zunächst im ersten Teil anhand der Entstehung der Maltechnikforschung dar.
Im einführenden Kapitel gelingt Reinkowski-Häfner ein guter Überblick über die historische Entwicklung des Temperabegriffs und sie zitiert verschiedene Temperarezepturen aus Quellenschriften bis 1800, die sie auch in einem Anhang, neben selbst durchgeführten Farbaufstrichen zur Überprüfung der Anwendbarkeit der Rezepturen, anfügt. Die Farbrezepturen, die auch das 19. und frühe 20. Jahrhundert berücksichtigen, sowie ein Glossar, sind sowohl für Restauratoren und Künstler als auch für Kunsthistoriker sehr aufschlussreich.
Die Autorin weist in diesem Zusammenhang auf die Problematik der Definition von Tempera hin. Wurde in den maltechnischen Quellenschriften, etwa eines Theophilus Presbyter oder Cennino Cennini, der Begriff noch im Sinne von Bindemittel allgemein benutzt, bezeichneten spätere Schriften diesen meist als wässrig vermalbares Bindemittel. Ab dem 16. Jahrhundert wurde, wie bereits bei Cennini, vor allem ein Gegensatz von Öl- und Temperamalerei deutlich (13). Im 19. Jahrhundert, so argumentiert Reinkowski-Häfner, stand schließlich nicht mehr die Vermalbarkeit mit Wasser im Vordergrund, sondern die Verwendung eines "Mitteldings" zwischen Öl- und Wasserfarbenmalerei, die schließlich als Tempera bezeichnet wurde (17).
Aufbauend auf früheren Arbeiten [1] und einer langjährigen Restaurierungspraxis entwickelt die Autorin eine erweiterte Temperadefinition, die im Rekurs auf Charles Lock Eastlake [2] die historische Entwicklung berücksichtigt, daneben aber auch die Charakteristika der Oberflächenerscheinung und die malerische Intention (18).
Die bis heute noch immer übliche Definition von Tempera als Emulsion im deutschen Sprachraum, die im internationalen Vergleich eine Art Sonderweg darstellt (15), wurzelt, so Reinkowski-Häfner, in der Diskussion um die mittelalterliche Temperamalerei im 19. Jahrhundert. Die beginnende wissenschaftliche Maltechnikforschung durch Kunsthistoriker, Restauratoren und Naturwissenschaftler war geprägt von Missverständnissen und Fehlinterpretationen auch wenn Kunsthistoriker wie etwa Gustav Friedrich Waagen oder der Maler und Restaurator Jakob Schlesinger eine bis heute beispielhafte Forschungsarbeit geleistet haben (67).
Sich der Detailliertheit ihrer komplexen Forschungsarbeit wohl bewusst, versucht die Autorin durch zahlreiche Wiederholungen, aber auch nicht konsequent durchgeführte Zusammenfassungen, den Text einprägsamer zu gestalten. Jedoch entstehen dadurch viele repetitive Textteile, die den Lesefluss stören.
Zeitweise entsteht auch der Eindruck, dass Reinkowski-Häfner fast zu vieles zu leisten versucht. Beispielsweise, wenn sie summarisch auf die Erkenntnisse der Farbenlehre Goethes, Runges oder Chevreuls verweist. Hier und an manch anderer Stelle vermisst der interessierte Leser eine eingehendere Auseinandersetzung und zugleich einen stringenteren roten Faden, der durch die informativen Kapitel ohne allzu viele Redundanzen führt.
Im zweiten Teil behandelt die Autorin die Auswirkungen der Maltechnikforschung auf die Malpraxis des 19. Jahrhunderts. Beginnend mit der Tempera in der restauratorischen Retusche untersucht sie anschließend die Temperamalerei innerhalb der Wand- und Staffeleimalerei und konstatiert, dass "die Wertschätzung für die Wand- und Freskomalerei im 19. Jahrhundert so groß war, dass sie auch die Entwicklung der modernen Staffeleimalerei beeinflusste" (80). Hier sind vor allem die Nazarener zu nennen, die von großer Bedeutung für die Entwicklung der Malpraxis im 19. Jahrhundert waren und deren Einfluss nicht nur nach England, sondern auch in die nordeuropäischen Länder reichte (83). Eine zentrale Rolle für eine umfassende Temperarenaissance in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts nimmt, neben Malern wie Franz von Lenbach, Hans von Marées und Hans Thoma, schließlich Arnold Böcklin ein, den Wassily Kandinsky etwas später als maltechnisches Vorbild bezeichnet. [3]
Insgesamt, dies geht aus dieser Arbeit besonders hervor, war die Temperamalerei nicht nur geeignet für das Nachahmen altmeisterlicher Techniken, sondern zugleich auch für die Aufhellung der Palette im Pleinair und die Entwicklung einer ausdrucksstarken, farbkräftigen Malerei. Neben Künstlern des Expressionismus bis hin zur Neuen Sachlichkeit, sind hier vor allem Wassily Kandinsky und weitere russische Künstler um Marianne von Werefkin als Initiatoren für maltechnische Experimente zu nennen. Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist, dass Marianne von Werefkin nicht nur historische Farbrezepturen studierte und eigens für Alexej von Jawlensky ein Labor in dessen Atelier einrichten ließ, in dem auch befreundete Künstler experimentierten, sondern in ihrer Malerei ab 1907 selbst fast ausschließlich Temperafarben verwendete. [4]
Die Künstler erkannten die diversen Möglichkeiten einer selbst oder industriell hergestellten Tempera, die von einer dünn lasierenden bis pastosen Farbstruktur, einer plakativen Leuchtkraft bis hin zu den matten Farbaufträgen der abstrakten Malerei des 20. Jahrhunderts reichen (211).
Reinkowski-Häfner gelingt es, in einem weit gespannten Bogen alle wichtigen Aspekte der historischen Entwicklung der Temperamalerei im 19. Jahrhundert anhand der Maltechnik und der Malpraxis darzustellen und in einen interdisziplinären und zugleich internationalen Kontext zu betten, auch wenn der Fokus in erster Linie auf die Münchner Temperamalerei gerichtet ist. Die Interdependenzen zwischen einer historischen Maltechnik, der Materialität der Kunstwerke, der Künstlerintention sowie der Malerei des 19. Jahrhunderts und der beginnenden Moderne werden somit mehr als deutlich. [5]
Anmerkungen:
[1] Eva Reinkowski-Häfner: Tempera. Zur Geschichte eines maltechnischen Begriffs, in: Zeitschrift für Kunsttechnologie und Konservierung 8 (1994), Nr. 2, 297-317.
[2] Charles Lock Eastlake: Materials for a history of oil painting, London 1847.
[3] Wibke Neugebauer: Von Böcklin bis Kandinsky: Kunsttechnologische Forschungen zur Temperamalerei in München zwischen 1850 und 1914, Berlin 2016.
[4] Vgl. Marianne Werefkin. Vom Blauen Reiter zum Großen Bären. Ausst.-Kat. Städtische Galerie Bietigheim-Bissingen 12.04.-06.07.2014 / Museen Böttcherstraße, Paula Modersohn-Becker Museum, Bremen 20.07.-06.10.2014.
[5] Vgl. hierzu "Interdependenzen IV. Unzeitgemäße Techniken? Zur Wiederaufnahme und Fortsetzung künstlerischer Verfahren", Tagung 11.-13.06.2015, Institut für Kunstwissenschaft und Historische Urbanistik, TU Berlin.
Nicole Pogantke