Rezension über:

Jürgen Martschukat / Olaf Stieglitz (Hgg.): race & sex: Eine Geschichte der Neuzeit. 49 Schlüsseltexte aus vier Jahrhunderten neu gelesen, Berlin: Neofelis Verlag 2016, 421 S., 3 Farb-, 1 s/w-Abb., ISBN 978-3-95808-034-8, EUR 28,00
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Rezension von:
Rebecca Brückmann
Universität zu Köln
Redaktionelle Betreuung:
Empfohlene Zitierweise:
Rebecca Brückmann: Rezension von: Jürgen Martschukat / Olaf Stieglitz (Hgg.): race & sex: Eine Geschichte der Neuzeit. 49 Schlüsseltexte aus vier Jahrhunderten neu gelesen, Berlin: Neofelis Verlag 2016, in: sehepunkte 16 (2016), Nr. 10 [15.10.2016], URL: https://www.sehepunkte.de
/2016/10/29026.html


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Jürgen Martschukat / Olaf Stieglitz (Hgg.): race & sex: Eine Geschichte der Neuzeit

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Grenzziehungen, Grenzgebiete und Grenzüberschreitungen sind die zentralen Themen dieses Sammelbandes, der selbst Grenzen verwischt. race & sex ist eine und doch keine (gewohnte) Festschrift für Prof. Emeritus Norbert Finzsch; es handelt sich um ein Reflektionsmoment durch und für sein Werk. Der Band ist interdisziplinär und vereint historische Quellenanalyse, kultur- und literaturwissenschaftliche close readings sowie Theorie-Reflektionen und bindet persönliche Anekdoten ein. Gemein ist allen Beiträgen, dass sie der Frage nachgehen, wie "Grenzen und Ordnungen [...] territorialer, politischer, wissenschaftlicher, sozialer, körperlicher oder identitärer Art" (13) in neuzeitlichen westlichen Gesellschaften konstituiert und verteidigt, aber auch in Frage gestellt und überschritten werden. Als westlich definiert der Band kein klar umrissenes Territorium, sondern die "historisch spezifische Konfiguration, die sich seit dem 16. Jahrhundert entfaltet und dabei für sich und gegenüber anderen den Anspruch formuliert hat, Modell und Maßstab für 'den Rest' zu sein" (14). Olaf Stieglitz' und Jürgen Martschukats pointierte Einleitung schafft es, einen vereinenden und zugleich differenzierten Bogen zwischen den einzelnen Essays des Bands zu schlagen.

In 49 Beiträgen, die jeweils zwischen 7 und 9 Seiten lang sind, untersuchen die Autorinnen und Autoren die Historizität von Dominanz- und Herrschaftsverhältnissen in Bezug auf race, Geschlecht, Sexualität, Körperlichkeit und Nation/Region - ein "vielschichtiges Dispositiv [...], das unsere Gegenwart informiert und strukturiert, heute aber doch ein anderes ist als vor 20, 50, 100 oder 400 Jahren" (18). Ein Motiv des Bandes ist die Analyse des Willens nach Vereinheitlichung und Hierarchisierung sowie des Widerstandes und der Subversion. Die Autorinnen und Autoren unterziehen "Schlüsseltexte" einer Re-Lektüre im Hinblick auf deren Ausdruck und Einfluss auf die benannten Faktoren. Der geographische Schwerpunkt liegt auf den USA; weitere Beiträge behandeln Australien, Deutschland, Kanada, die Karibik und Südamerika. Das zeitliche Spektrum reicht von der Kolonialzeit des siebzehnten Jahrhunderts bis zur Zeitgeschichte. Das zwanzigste Jahrhundert steht mit 31 der 49 Beiträge im Fokus. Die Essays sind nach der Entstehungszeit der neu gelesenen Texte geordnet, vom neuesten (Kay Schaffer zum australischen "Bringing Them Home"-Bericht des Jahres 1997) zum ältesten (Hermann Wellenreuther zu John Smiths "Generall Historie of Virginia" aus dem Jahr 1624).

race & sex greift Forschungsdebatten in der Kulturgeschichte und Aktivismustrends gleichermaßen auf: Die Beiträge behandeln Fragen von Identitätsgeschichte und -politik, Geschlechtergeschichte und Queer Theory, Grenzregimen, Widerständigkeit und physischer und sozialer Mobilität. Die Subjekte der Betrachtungen sind divers und umfassen unter anderem indigene Bevölkerungen, Black Americans, Asian Americans, Mexikanerinnen und Mexikaner, sowie Jüdinnen und Juden. Fragen von Sexualität, Geschlechteridentität und -rollen sowie Heteronormativität sind von zentraler Bedeutung. Den Autorinnen und Autoren eines Sammelbands mit 49 Beiträgen kann man in einer Rezension eigentlich nur Unrecht tun - aus den zahlreichen Essays greife ich im Folgenden vier heraus, die ich exemplarisch für Theoriebeiträge sowie für die behandelten Epochen vorstelle.

Der Band nähert sich einigen Theorien, die für die Geschichte von Marginalisierungen von zentraler Bedeutung sind, darunter Stuart Halls Identitätskonzeption (Vera Nünning / Ansgar Nünning), Eve Kosofsky Sedgwicks Epistemology of the Closet (Christiane König), Edward Saids Orientalism (Olaf Stieglitz) und Michel Foucaults Der Wille zur Macht (Jürgen Martschukat). Eine Theorietradition, die alle Beiträge des Bandes berührt, ist Kimberlé Crenshaws Ansatz der Intersektionalität; Nina Mackert untersucht Crenshaws Aufsatz "Mapping the Margins" aus dem Jahr 1991. [1] Mackerts prägnanter Essay zeigt, dass Intersektionalität sich nicht in der "bloßen Addition von Kategorien" (51) erschöpft, sondern ein Konzept für ein dynamisches Verständnis von Unterdrückungsmechanismen ist, das "das Augenmerk [...] auf die Prozesse" richtet, die "Kategorien hervorbringen und wichtig werden lassen" (54). Zugleich erinnert sie an die Bewegungsgeschichte der Intersektionalitätstheorie. Der Essay fungiert zugleich als Auffrischung für eigentlich Intersektionalitätserprobte sowie als komprimierte Einführung für Studierende.

Beiträge zu "Schlüsseltexten" des zwanzigsten Jahrhunderts sind in der Mehrzahl in race & sex und thematisieren unter anderem den völkischen Antisemitismus des Stürmer (Inge Marszolek), das 1967 mit Loving v. Virgina vom Supreme Court verworfene Verbot der Heirat unterschiedlich rassifzierter Menschen in 24 US-Bundesstaaten (Anke Ortlepp) und die Geschichtsschreibung zu/von Métis in Kanada (Ursula Lehmkuhl). Barbara Lüthi greift in ihrem Essay zu Gloria Anzaldùas 1987 erschienenem Borderlands/La Frontera: The New Mestiza die Frage nach US-mexikanischen Grenzziehungen, Grenzüberschreitungen, und (Angst vor) "Hybridisierung" auf. Donald Trumps Plan einer durchgängigen Grenzmauer ist nur ein Beispiel für die Aktualität von Lüthis Betrachtung, die die Netzwerke und Mobilität innerhalb der borderlands auf den Punkt bringt und die Wüste des Grenzgebiets als "Schwelle der Transzendenz" (84) begreift, indem sie die Geschichte der Immigration, Grenzregimen, Rassismus und Ausbeutung verknüpft.

Schlüsseltexte des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts umfassen unter anderem Immanuel Kants Schriften des Jahres 1784 (Karin Hostettler), den Chinese Exclusion Act des Jahres 1882 (Björn A. Schmidt) und Ida B. Wells' Southern Horrors von 1892 (Susan Strasser). Frank Kelleters Essay zu James F. Coopers The Last of the Mohicans (1826) beschreibt ausdrucksstark die Darstellung von Siedlungskolonialismus, "amerikanische[n] Selbstbeschreibungen" (343) und Männlichkeitsvorstellungen. Sebastian Jobs' Quellenanalyse des 1712 in South Carolina verabschiedeten Act for the Better Ordering of Negroes and Slaves wirft einen differenzierten Blick auf die Vermengung von wirtschaftlichen und rassistischen Motivationen, den Willen zur eindeutigen Grenzziehungen zwischen "schwarz" und "weiß", Bestrafungssystemen und dem Missbrauch von Körpern der Sklavinnen und Sklaven als "individuelle[m] Erziehungsort und soziale[m] Wissensspeicher zugleich" (385).

Die Stärke von race & sex liegt in der Vielfältigkeit der Betrachtungen, die es mehrheitlich schaffen, trotz der Kürze der Essays die Schlüsseltexte nuanciert zu analysieren und ein breites Spektrum historiographischer, kulturwissenschaftlicher und politischer Debatten aufzugreifen. Manche Essays fungieren dagegen als thematischer Überblick und stellen die eigentlich angedachte (Neu-)Interpretation eines Texts hintenan. Aufgrund der Thematik und Quellenauswahl von race & sex und aufgrund der Tatsache, dass sich sowohl die Einleitung des Bandes als auch mehrere Autorinnen und Autoren sich der Problematik von "Sprecherpositionen" in Diskursen und damit einhergehenden Machtverhältnissen bewusst sind, hätte der Band davon profitiert, einen Schritt weiter zu gehen und (weitere) Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler of color und/oder Aktivistinnen und Aktivisten der behandelten Felder einzubinden. race & sex ist nichtsdestotrotz ein spannender, differenzierter und zugleich prägnanter Blick auf Geschichte und Geschichtsschreibung von Macht, Herrschaft und marginalisierten Identitäten. Die Re-Lektüren des Bandes zeigen nicht nur die Produktivität interdisziplinärer Annäherungen an einen zentralen Themenkomplex der Moderne, sondern sind auch wichtige Denkanstöße für künftige Analysen.


Anmerkung:

[1] Kimberlé Crenshaw: Mapping the Margins: Intersectionality, Identity Politics, and Violence against Women of Color, in: Stanford Law Review 43 (1991), 1241-1299. Vgl. Intersectionality: Theorizing Power, Empowering Theory, Signs 38 (2013).

Rebecca Brückmann