Martin Kintzinger / Frank Rexroth / Jörg Rogge (Hgg.): Gewalt und Widerstand in der politischen Kultur des späten Mittelalters (= Vorträge und Forschungen; Bd. LXXX), Ostfildern: Thorbecke 2015, 372 S., ISBN 978-3-7995-6880-7, EUR 56,00
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Der nunmehr 80. Tagungsband der Konstanzer Arbeitskreistagungen auf der Reichenau hat sich ein Thema gewählt, das seit rund zwei Jahrzehnten die Mediävistik fachübergreifend umtreibt: Gewalt. Beschränkt wird dieses Großthema in dreierlei Hinsicht: Einmal - der Sache nach: natürlich - disziplinär, denn der Konstanzer Arbeitskreis ist traditionell ein geschichtswissenschaftlicher. Zweitens chronologisch: der Fokus liegt ausdrücklich auf dem Spätmittelalter, wobei kurze Schlenker bis in das 11. Jahrhundert immer wieder unternommen werden. Drittens konzeptionell: in den Beiträgen "dominiert ein relativ enger Gewaltbegriff, der vor allem auf körperlich-physische Gewalt abzielt" (13), wie Mitherausgeber Jörg Rogge zu Recht in der Einleitung feststellt, und es soll vor allem um dessen Rolle in der politischen Kultur des Mittelalters gehen. Das ist eine spannende Frage. Inwieweit freilich der konzeptionelle Ausschluss struktureller Gewalt in dieser Hinsicht tragen kann, wenn zugleich in einer ganzen Reihe von Beiträgen die stetige und ostentative Zurschaustellung von Gewalt als Mittel der "potestas" betont wird, darüber könnte man diskutieren. Vielleicht wird man letztlich zu dem Schluss kommen müssen, dass die Unterscheidung an sich für das Mittelalter keine sehr tragfähige - oder jedenfalls gewinnbringende - ist.
Die versammelten zwölf Einzelbeiträge, die von einer Einleitung der Herausgeber und einem zusammenfassenden Kommentar von Hermann Kamp gerahmt werden, lassen sich kaum eindeutig in solche unterscheiden, die die politische Theorie und solche, die politische Praxen in den Mittelpunkt rücken. Denn wo über politische Praxis gesprochen wird, darf die politische Theorie natürlich nicht fehlen. Das ist erfrischend anders als in manch einer früheren Publikation zum Thema und zeigt, dass es den Beiträgerinnen und Beiträgern ernst um das "Neue" an der "Neuen Politikgeschichte" ist.
Eine Fallstudie aus seinem ausgewiesenen Spezialgebiet, der Gewalt gegenüber Juden auf der Iberischen Halbinsel, steuert David Nirenberg dem Band bei: Er zeigt, wie der Stadtrat von Valencia die eigenmächtige Gewaltausübung gegenüber den dort ansässigen Juden im Jahre 1391 - einem der größten Pogrome in der Geschichte des Mittelalters - gegenüber dem König als deren Schutzherrn rechtfertigte. Die Gewalt gegenüber den Juden gerät in dieser Interpretation zu einer mittelbaren und sehr bewussten Gewalt gegenüber der Souveränität des Herrschers.
Uwe Tresp untersucht die Androhung und Anwendung von Gewalt im Rahmen der im Vergleich zu den deutschen verfahrensmäßig relativ unregulierten böhmischen Königswahlen des 14. und 15. Jahrhunderts. Dabei geht es ihm nicht nur darum, wie solche Praktiken die eigentliche Wahl beeinflussten, sondern vor allem auch um deren Auswirkungen auf die Herrschaft des daraufhin Inthronisierten.
Einen auf den ersten Blick außergewöhnlichen, auf den zweiten aber doch sehr regelmäßigen Fall, die Gewalt nämlich gegenüber herrschaftlichen Ausrufern, untersucht Nicolas Offenstadt. Er kann überzeugend zeigen, dass viele Ausrufungen nicht so sehr der Dispersion von Informationen galten - die waren mitunter schneller als ihre Ausrufer -, sondern selbst einen symbolischen Herrschaftsakt darstellten, dem man sich durch Gewaltausübung auch entsprechend symbolisch entgegenstellen konnte.
Ausgehend von dem berühmten Diktum des Jean Juvenal des Ursins, es sei eine "maniere en Angelterre, quilz ne tiennent comte de changier leur roy quant bon leur semble", unternimmt Mitherausgeber Jörg Rogge eine systematische Erfassung von Gewaltakten gegen englische und schottische Könige. Ein besonderes Verdienst seiner Untersuchungen ist es, die zentrale Rolle der Berater sowohl in den Klagen als auch in der konkreten Gewaltausübung herausgearbeitet zu haben. Hier zeigen sich Parallelen zur politischen Theorie insbesondere der Fürstenspiegel.
Transkulturelle Perspektiven machen die Beiträge von Stefan Leder und Jenny Rahel Oesterle auf. Ersterem geht es um die Frage nach dem Spannungsverhältnis von Gewalt und Ordnung im Islam, mithin also den Legitimationsstrategien von Gewalt im politischen Kontext. Er kommt zu dem Schluss, dass der zunehmenden Monopolisierung von Gewalt auf Seiten des Herrschers die wenig regulierte (und regulierbare) Gewaltausübung im Kontext von Ehr- und Rachekonflikten entgegenlief - und zeigt damit überzeugende Parallelen zum christlich geprägten Mittelalter auf. Oesterle dagegen entwickelt in differenzierter Analyse die Position unterschiedlicher islamischer Rechtsschulen zur Frage, ob man einen untauglichen oder ungerechten Herrscher bekämpfen dürfe. Der im Untertitel angekündigte Vergleich mit christlichen Positionen fällt dagegen geradezu appendixartig aus, weist aber eine ganze Reihe spannender Frage aus, die zukünftiger Diskussion bedürften.
Mit dem tyrannischen Herrscher - diesmal allerdings im christlichen Kontext - befassen sich auch die Beiträge von Jean-Marie Moeglin und Karl Ubl. Während der Erstgenannte chronologisch breit und vergleichend über die Figur des "rex crudelis" in Frankreich, England und dem Reich handelt, fokussiert Letzterer mit seiner Studie über den Tyrannendiskurs im Zeitalter Philipps des Schönen stärker auf einen Einzelfall. Sein spannender Befund: Herrscherkritik konnte durchaus nicht nur subversiv, sondern in der richtigen Konstellation sogar im Gegenteil als "indirekte Strategie der Machtstabilisierung" (215) wirken.
Mit unmittelbarer, tödlicher Gewalt gegenüber dem Herrscher setzen sich Andreas Bihrer und Franck Collard auseinander; Ersterer am Beispiel König Albrechts I. und der Verarbeitung seiner Ermordung in der Chronistik, Letzterer anhand der im späteren Mittelalter merklich zunehmenden Giftmordanschläge gegenüber Herrschern vor allem im frankoburgundischen Raum. So überzeugend seine Einordnung in den Kontext des "crimen laesae maiestatis" ist, so sehr vermisst man Näheres zu den regelmäßig parallel (diskursiv und/oder juridisch) verhandelten Zaubereivorwürfen, die nur beiläufig erwähnt werden (326).
Etwas aus dem Rahmen der anderen Beiträge fallen schließlich die Studie von William Caferro, dem es um die Übernahme (bestenfalls mittelbar gewaltsamer) militärischer Ehrrituale in italienischen Stadtbevölkerungen geht, und der sehr lesenswerte Aufsatz von Torsten Hiltmann, der gerade nicht die physisch-körperliche "violentia", sondern die "potestas" des Königs, näherhin des Amtskönigtums im spätmittelalterlichen Frankreich untersucht. Die Praxis insbesondere in randständigen Milieus, wie unter Spielleuten oder Prostituierten, Könige zu erwählen, ist lange als bloß satirisch, mitunter tendenziell subversiv gesehen worden. Hiltmann zeigt dagegen überzeugend, dass im Gegenteil solche Amtstitel geradezu Ausdruck königlichen Zentralismus' in Frankreich gewesen sind. Das ist ausgesprochen anregend - passt aber eigentlich thematisch nicht mehr sehr gut zu den anderen, blutrünstigeren Beiträgen des Bandes. Man kann natürlich auch sagen: diese beiden Beiträge ergänzen den Band um eine neue Dimension.
Zwischen der Reichenauer Tagung von 2009 und dem Erscheinen des Bandes sind sechs Jahre vergangen. In der noch immer boomenden mediävistischen Gewaltforschung ist das keine kleine Zeitspanne. Umso positiver fallen die - gleichwie seltenen - Literaturnachträge auf. Der Band ist in vielerlei Hinsicht anregend. Nicht so sehr in konzeptioneller Hinsicht, sondern - noch immer: viel wichtiger - auf der Ebene der Phänomenologie. Denn vor der Modellbildung muss, das zeigt der Band nur zu eindrücklich, noch viel Aufarbeitung geschehen. Sonst sitzen wir allzu rasch einer verkürzten Alterität zwischen Vormoderne und Moderne auf, die letztlich weder Neues erklärt noch alte Meistererzählungen irritiert, sondern nur vieles korsettiert. Hierzu leistet der vorliegende Band wichtige Aufbauarbeit.
Hiram Kümper