Axel Fleisch / Rhiannon Stephens (eds.): Doing Conceptual History in Africa (= Making Sense of History - Studies in Historical Cultures), New York / Oxford: Berghahn Books 2016, XI + 243 S., ISBN 978-1-78533-163-3, USD 120,00
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Doing Conceptual History in Africa ist ein äußerst innovativer Band, dessen Beiträge sich mit Afrika südlich der Sahara befassen. Er nimmt theoretische und methodische Ansätze aus der Sprachwissenschaft für die Begriffsgeschichte ernst. Die auf sprachwissenschaftliche Aspekte fokussierende Einleitung stellt drei wichtige Punkte für eine Begriffsgeschichte in Afrika heraus: 1. Sprachenvielfalt und Oralität der Quellen erzeugen ein vielstimmiges Archiv, dessen Bearbeitung methodischer Vielfalt bedarf. 2. Die Übersetzbarkeit von Begriffen ist in synchroner und diachroner Perspektive begrenzt. 3. Die Vermittlung von Ideen erfolgt oftmals nicht in der Muttersprache. Gegenüber der sprachwissenschaftlichen Zuspitzung der Einleitung fächern die Beiträge des Bandes ein breiteres Spektrum zwischen Linguistik und Hermeneutik auf. Sie behandeln auf hohem Niveau in neun Kapiteln Vorstellungen und Begrifflichkeiten von Armut, Reichtum, Arbeit, Land, Ehe, Beschneidung, dem Gesellschaftskonzept Ujamaa und Dekolonisation. Mit Ausnahme von Pierre-Philippe Fraitures Beitrag zum Konzept der Dekolonisation bei Valentin-Yves Mudimbe, Achille Mbembe und Patrick Nganang werden die Begriffsgeschichten anhand konkreter empirischer Fallstudien entwickelt.
Rhiannon Stephens demonstriert, wie trotz Abwesenheit schriftlicher Quellen konzeptionelle Kontinuitäten und Veränderungen analysiert werden können. Hierbei bedient sie sich in überzeugender Weise der methodischen Ansätze der historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft und der kognitiven Linguistik. Ihr Beitrag behandelt das Zwillingskonzept Reichtum / Armut in einem ugandischen Migrationskorridor mit großer sprachlicher Vielfalt. Neben den wichtigen Ergebnissen des Beitrags wäre ein Hinweis auf die Existenz oder die Abwesenheit von Kontaktphänomenen zwischen den ostnilotischen Sprachen und den Bantusprachen der Großen Seen bei der Konzeptbildung interessant gewesen.
Mit der Annahme von flexiblen, offenen Begriffen wirkt Marné Pienaar aus linguistischer Perspektive innovativ in die Diskussion um konzeptionelle Kontinuität und Veränderung hinein. Statt für das Konzept Ehe im Afrikaans einen kontinuitätsstiftenden Bedeutungskern und eine sozialhistorisch konstruierte Bedeutung anzunehmen, versteht sie die verschiedenen Wörter zur Bezeichnung von Ehe als Zugangspunkte zu enzyklopädischem, dynamischem Wissen mit netzartiger Struktur.
Die Historikerin Anne Kelk Mager und der Linguist Axel Fleisch zeigen in komplementären Beiträgen zum Begriff der Arbeit in den Nguni-Sprachen bzw. in der nord-östlichen Kap-Region eine gelungene Zusammenarbeit ihrer Disziplinen. In diesem Zusammenhang ist auch Pieter Boele van Hensenbroeks Kapitel zur Konzeptualisierung von Land und Nation hervorzuheben. Er kontrastiert seine inhaltsanalytischen Aussagen auf der Grundlage von Pamphleten und kolonialen Archivquellen mit einer quantitativen Datenerhebung zur Verwendung konzeptueller Termini in der zeitgenössischen Presse. Zudem ist sein Beitrag ein hervorragendes Beispiel für die Vermittlung von Konzepten in einer anderen als der Muttersprache - in diesem Fall Englisch. In diesem Zusammenhang führen die Herausgeber in der Einleitung auch Ujamaa als weiteres Beispiel an. Das so bezeichnete Gesellschaftskonzept ist untrennbar mit dem ehemaligen tansanischen Staatpräsidenten Julius K. Nyerere verbunden. Die Vermittlung erfolgte in der überregionalen Verkehrssprache Kiswahili. Nyereres Muttersprache war jedoch Ekizanaki. Dass Julius Nyerere seine Reden nicht nur nicht in Ekizanaki hielt, sondern dass er sie mehrheitlich in Englisch formulierte und dann ins Kiswahili übersetzen ließ, war den Autoren offenbar nicht bekannt. Reden und Ansprachen eröffnen zudem Möglichkeiten, prosodische und visuelle Effekte in eine über den Text hinausgehende Begriffsgeschichte einzubeziehen. Die Berücksichtigung diesbezüglicher rezenter Entwicklungen des Faches, wie beispielsweise Margrit Pernaus und Imke Rajamanis Arbeit zum indischen Film, hätte den gelungenen Forschungsansatz darüber hinaus bereichert. [1]
Bo Stråths Beitrag zum schwer fassbaren Gesellschaftskonzept Ujamaa, das oftmals mit afrikanischem Sozialismus gleichgesetzt wurde, zeigt Grenzen und Möglichkeiten einer Begriffsgeschichte anhand von übersetzten Quellen, der afrikawissenschaftlichen Sekundärliteratur und der Fokussierung auf die Person Julius K. Nyereres auf. Die Diskussion seines Beinamens mwalimu (Lehrer) hätte einen Verweis auf die Titulierung anderer einflussreicher Vorbilder, hier vor allem Mao Zedong, erwarten lassen. Überhaupt wird dem Einfluss des Maoismus auf das Konzept Ujamaa keine Bedeutung beigemessen und bleibt auf Nyereres Auseinandersetzung mit dem Marxismus-Leninismus beschränkt. Das verwundert umso mehr, da gerade für Tansania erste Forschungsergebnisse zum Maoismus in Afrika vorliegen. [2] Von der Berücksichtigung dieser Arbeiten hätten auch die Ausführungen zu kujitegemea (Eigenständigkeit, Autarkie), zu Ujamaa Vijijini (Ujamaa auf dem Land), zur Ein-Parteien-Demokratie und zu den internationalen Rahmenbedingungen profitiert. Die Rolle Tansanias als Mitglied der nichtpaktgebundenen Staaten bleibt ebenso unberücksichtigt wie der Einfluss von Süd-Süd-Beziehungen auf die untersuchten politischen Konzepte. Weiterhin verengt Bo Stråth seine Ausführungen zu kujitegemea zu stark auf die ökonomische Seite des Begriffes. Hier wäre die Beachtung von Nyereres Elimu ya Kujitegemea (Bildung zur Selbständigkeit, erschienen 1967) wünschenswert gewesen. [3] In dieser Schrift wird erstmals systematisch besprochen, welche Art von Bildung und Bildungsvermittlung die Generation hervorbringen kann, die Ujamaa als gesellschaftliches Projekt umsetzt. Der letzte Abschnitt des Kapitels, der sich mit den Enttäuschungen über das "Scheitern" des Projektes und dem Nachdenken afrikanischer Philosophen über Ujamaa befasst, hätte die Chance eröffnet, wichtige philosophische Gedanken tansanischer Autoren einzubeziehen, wie der Literaturwissenschaftler Lutz Diegner in der Swahili Romanliteratur aufgezeigt hat. [4] Weiterhin bleibt die gesamte soziolinguistische und diskursanalytische Literatur zu Ujamaa und Kujitegemea unberücksichtigt, die seit den 1980er-Jahren einen großen Bestand an swahilisprachigen Quellen zum Thema aufgearbeitet hat. Mit dieser etwas ausführlicheren Besprechung von Bo Stråths Buchkapitel möchte die Rezensentin beispielhaft auf das vielfältige, noch nicht ausgeschöpfte Potential einer vertieften Zusammenarbeit von Sprach-, Geschichts- und Literaturwissenschaft für eine interdisziplinäre Global Conceptual History hinweisen.
Doing Conceptional History in Africa demonstriert in einer beeindruckenden Bandbreite und Sorgfalt die Möglichkeiten, die eine ernsthafte Beteiligung der Sprachwissenschaft an begriffsgeschichtlichen Projekten eröffnet. Den dezidiert linguistischen Beiträgen gelingt es, den oftmals schwer zugänglichen Fachjargon für eine Leserschaft ohne entsprechende Vorbildung zugänglich zu machen. Die anspruchsvolle Einleitung und die hervorragend ausgewählten Beiträge setzen für die afrikabezogene Begriffsgeschichte einen neuen Standard.
Anmerkungen:
[1] Margrit Pernau / Imke Rajamani: Emotional Translations: Conceptual History Beyond Language, in: History and Theory 55 (2016), 46-65.
[2] Priya Lal: Maoism in Tanzania: Material Connections and Shared Imaginaries, in: Mao's Little Red Book: A Global History, hg. v. Alexander Cook, New York 2014, 96-116.
[3] Julius K. Nyerere: Elimu ya Kujitegemea, Dar es Salaam 1967.
[4] Lutz Diegner: Bwanamvinyo, Protean Nyerere, and the Battleground of Ideas. The Contribution of Swahili Novels to East African Intellectual History, in: African Thoughts on Colonial and Neo-Colonial Worlds. Facets of an Intellectual History of Africa, hg. v. Arno Sonderegger, Berlin 2015, 103-122.
Katrin Bromber