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Klaartje de Zwarte-Walvisch: Mein geheimes Tagebuch. März-Juli 1943. Aus dem Niederländischen von Simone Schroth, München: C.H.Beck 2016, 202 S., 6 s/w-Abb., ISBN 978-3-406-68830-0, EUR 17,95
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Rezension von:
Christina Morina
Duitsland Instituut Amsterdam
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Christina Morina: Rezension von: Klaartje de Zwarte-Walvisch: Mein geheimes Tagebuch. März-Juli 1943. Aus dem Niederländischen von Simone Schroth, München: C.H.Beck 2016, in: sehepunkte 16 (2016), Nr. 11 [15.11.2016], URL: https://www.sehepunkte.de
/2016/11/28998.html


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Klaartje de Zwarte-Walvisch: Mein geheimes Tagebuch

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Das 2009 in den Niederlanden veröffentlichte Tagebuch der Amsterdamer Näherin Klaartje de Zwarte-Walvisch ist ein seltenes Zeugnis des Lebens- und Lageralltags niederländischer Juden während der deutschen Besatzungszeit. Die nun in vorzüglicher Übersetzung von Simone Schroth vorliegenden nur etwas mehr als drei Monate umfassenden Aufzeichnungen zwischen Ende März 1943 und Anfang Juli 1943 enthalten dichte Schilderungen der Judenverfolgung in den Niederlanden aus den Augen einer 32-jährigen Arbeiterin. Klaartje wurde im März 1943 gemeinsam mit ihrem Mann Joseph, einem Lagerarbeiter, aus ihrer Amsterdamer Wohnung geholt, zunächst im Stadttheater Hollandsche Schouwburg mit tausenden anderen Juden festgehalten und zwölf Tage später in das "Auffanglager" Vught im Süden des Landes verbracht, das sich entgegen aller Hoffnung, dem Abtransport nach "Polen" entkommen zu können, bald auch als "Durchgangslager" entpuppte. Von dort aus gingen regelmäßig Transporte nach Westerbork südlich von Groningen, dem Lager, von dem aus die Deutschen über 100.000 niederländische Juden in die Vernichtungslager im Generalgouvernement transportierten, um sie dort zu vergasen.

Klaartje de Zwarte-Walvisch war Zeugin dieser Verhaftungs- und Transportwellen und schildert in ihrem Tagebuch nicht nur ihre eigene körperliche und seelische Verfassung, sondern auch die Erlebnisse und Leidensgeschichten ihrer Mitgefangenen - darunter viele Freunde, Bekannte und Kollegen, die sie aus Amsterdamer Zeiten kannte. Sie beschreibt detailliert die Umstände des größten Kindertransports in der Geschichte der niederländischen Judenverfolgung, mit dem am 6. und 7. Juni 1943 mindestens 1.269 Kinder ohne ihre dort zwangsweise zurückbleibenden Eltern aus Vught via Westerbork nach Sobibor gebracht wurden, als das "Schlimmste von allem bisher Geschehenen [...]. Wir waren vor Kummer kopflos." (111f.) Am 1. Juli 1943 wurde sie selbst - ohne ihren Mann - auf diesen Weg gezwungen und zwei Wochen später ebenfalls in Sobibor getötet.

Dieses Tagebuch reiht sich ein in eine immer noch überschaubare, aber in den letzten Jahren anwachsende Zahl von publizierten Tagebüchern von Opfern der Judenverfolgung. Zum Lager Vught etwa, das in Klaartjes Aufzeichnungen am ausführlichsten beschrieben wird, gibt es bis heute nur ein weiteres, vergleichbar ausführliches Tagebuch sowie einige wenige unveröffentlichte Egodokumente. [1] Über die Zustände in der Stadsschouwburg gab es bisher noch kein so detailliertes Zeitzeugnis.

Die Relevanz dieser Quellengattung nimmt generell stetig zu, da die Zeitzeugen aussterben und wir nach dem Verstummen ihrer lebendigen Stimmen zur Rekonstruktion und Analyse ihrer Erfahrungen auf Egodokumente wie Briefe und Tagebücher angewiesen sind. Aber jenseits des einzigartigen historiografischen Wertes von Tagebüchern für die Erforschung der Lebenswege und Erfahrungswelten der Opfer, hat diese Quellengattung gerade in den Niederlanden in jüngster Zeit in dem Maße an Bedeutung gewonnen, in dem sie nun auch als Quellen für das Denken und Verhalten ihrer nichtjüdischen Mitbürger - der sognannten omstander oder Zuschauer - herangezogen werden. [2]

Man kann diesem Tagebuch derartig multiperspektivische Forschungsfragen nur wünschen. Zuallererst geben Klaartjes Aufzeichnungen einen reichhaltigen Eindruck ihrer eigenen subjektiven Erfahrung des zwar erwarteten, aber dennoch abrupten Übergangs von der "Normalität" in den "Wahnsinn" des Alltags im Konzentrationslager. Der Schock, die Ohnmacht, Trauer, Wut und Verzweiflung, die sie immer wieder notiert, stehen dem Versuch gegenüber, sich selbst und der Nachwelt nicht nur die wirkliche "Wirklichkeit" ihrer Erlebnisse bewusst zu machen, sich über die menschliche Fähigkeit zur "Gewöhnung" an die grausamsten Umstände Rechenschaft abzulegen, sondern gleichzeitig den Blick für das außerordentlich Monströse dieser neuen "Normalität" zu bewahren (29, 34ff., 91ff., 100, 111, 116). Dies gelang ihr im Lagerleben oft mit kleinen, heimlichen Spöttereien über die Schikanen der "ordinären", "barbarischen", ständig brüllenden "Sadisten" und "Tiere", die sie bewachten, und im Tagebuch findet sie für viele ihrer Beobachtungen sarkastische Töne. So verhöhnt sie wiederholt die Gewalt gerade gegen Frauen und Kinder als "große Heldentaten" - "wirklich ganz und gar edelgermanisch" (69ff.) - und spottet, offenbar glaubten die Deutschen, dass sie mit ihren "schwachsinnigen" Appellen den Krieg gewinnen würden (97).

Ihre Darstellungsweise, die Leon de Winter in seinem für die deutsche Ausgabe verfassten Nachwort etwas hilflos und zudem unzutreffend als "kühl" und "distanziert" beschreibt (184), ist außerordentlich empathisch. Klaartjes Tagebuch erzählt die Erfahrungsgeschichte einer ganzen Gesellschaft. Sie beschreibt viele Einzelschicksale von Müttern und Vätern, elternlosen Kleinkindern, verblutenden Freundinnen, verwirrten Alten, gedemütigten, sprachlosen Intellektuellen und Leuten, die früher eine "wichtige Position" hatten, und fragt sich jedes Mal, wie wohl der oder die Einzelne diese "Tage des Elends" empfand und durchlebte. Dafür schrieb sie Briefe von Mitgefangenen ab, notierte Witze und Gedichte, um zu illustrieren, dass "für jeden [...] das Leid gleich schlimm" war (112). Fast geht unter, dass sie selbst an einer unheilbaren Speiseröhrenerkrankung litt, die ihr das Schlucken phasenweise unmöglich machte; eher beiläufig notiert sie bei ihrer Ankunft in Westerbork, dass sie deswegen vier Tage nichts gegessen und getrunken hatte (164).

Nicht zuletzt sind die von Hilflosigkeit, Klaartjes kulturellem Horizont und Naturliebe gezeichneten Metaphern in ihrer schlichten Unmittelbarkeit eindrücklich. So fasste sie etwa die hohe Kindersterblichkeit im Lager mit dem Satz zusammen: "Babys schmolzen weg wie Schnee." (48) Und immer wieder sah sie aus der Vogelperspektive auf das kollektive Schicksal der Juden, notierte inmitten des verzweifelten Gewühls zwischen Kofferbergen kurz vor einem Abtransport den Trost, den sie im Anblick der untergehenden Sonne suchte: "Aber alles geht einmal zu Ende, also auch dieser Abend der Qual. [...] Wie ein Feuerball sprühte [die Sonne] und schickte ihre Strahlen durch die Bäume über das Judentum." (86)

Über das Panorama an Einzelerfahrungen hinaus, enthält das Tagebuch zudem zahlreiche Innenansichten der Inszenierungen des Grauens, mit denen deutsche und niederländische Aufseher den Lageralltag zugleich zu strukturieren und die Gefangenen zu terrorisieren suchten. Auch die "Zuschauer" im angrenzenden Dorfes Vught, die jüngst in einer umstrittenen, publizierten Masterarbeit als prinzipiell Mitschuldige porträtiert wurden [3], oder entlang des Transports nach Westerbork beobachtet sie dabei, wie diese die Gefangenen beobachten (85, 158), und sie beschreibt einige wenige Solidaritätsbekundungen von einheimischen Amtsträgern, etwa des Polizisten, der ihr am Bahnhof Vught vergeblich bei der Flucht in letzter Minute zu helfen suchte (159f.).

Zudem zeugen diese Aufzeichnungen nicht zuletzt von einer bemerkenswerten individuellen wie kollektiven Resilienz. Klaartje, die nicht religiös gewesen zu sein scheint, sondern in der Natur großen Trost fand, beschreibt die unzähligen Versuche, Juden zu demütigen als oft verfehlt und begründet dies mit der Lebenskraft der Gemeinschaft. Zu ihren häufigsten Vokabeln zählen "tapfer", "Haltung", "Ehre" und "Stolz", und ihre jüdische Identität durchzieht ihre Schilderungen auf unvermittelte Weise. So beschreibt sie die Rückkehr der Frauen ins Lager nach einer sinnlosen Steinschlepperei vor den Augen ihrer zum Musizieren gezwungenen Ehemänner als triumphalen "Einzug der jüdischen Frauen" oder hält mit Genugtuung fest, dass sie einer "zähen Rasse" voller Humor und "Vitalität" angehöre, die nicht unterzukriegen sei und eines Tages "Rache" üben werde (73, 102, 129, 133ff.).

Mit diesem Tagebuch liegt der Holocaustforschung ein Dokument zur Rekonstruktion der Opfererfahrung aus einer eher seltenen Perspektive vor. Zudem bietet es Einblicke in die gesellschaftlichen und kulturellen Kontexte, in denen die staatlich implementierte und auf vielen Akteursebenen assistierte Verfolgung und Ermordung einer ganzen Bevölkerungsgruppe möglich war. Die aus Verkaufsgründen nachvollziehbare, aber völlig überzogene Verbindung dieses Tagebuchs mit dem von Anne Frank wird diesem Dokument nicht gerecht. Wenn ein solcher Vergleich überhaupt vorzunehmen wäre, dann sollte dafür eher auf das Tagebuch der etwa gleichaltrigen Etty Hillesum verwiesen werden, das ebenfalls auf Deutsch vorliegt. [4] Dabei wirft gerade der Verweis auf Klaartjes Herkunft, ihre vermeintlich "geringe Bildung" (184) und soziale Stellung als Arbeiterin einige interessante Fragen auf, denn ganz wider Erwarten hat sie einen außerordentlich eloquenten, realistischen und zugleich reflektierten Text hinterlassen, von dem sie so sehr hoffte, dass er ihrem Mann und der Nachwelt irgendwann zugänglich sein würde. Mit der Veröffentlichung und damit auch Verfügbarmachung dieser Aufzeichnungen für die Forschung hat sich diese Hoffnung nun erfüllt.


Anmerkungen:

[1] Vgl. David Koker: Dagboek geschreven in Vught, Amsterdam 1993; sowie beispielsweise das unveröffentlichte Notizbuch der Lehrerin Anna Groen (Juni-September 1944) im Archiv der Gedenkstätte Nationaal Monument Kamp Vught.

[2] Verwiesen sei vor allem auf die Kontroverse um das Buch von Bart van der Boom: We weten niets van hun lot. Gewone Nederlanders en de Holocaust, Amsterdam 2012; zur Debatte vgl. Christina Morina: Schwierige Zeugnisse: Tagebuchforschung und Holocaust-Geschichtsschreibung am Beispiel der Niederlanden, in: "...Zeugnis ablegen bis zum letzten". Tagebücher und persönliche Zeugnisse aus der Zeit des Nationalsozialismus und des Holocaust, hgg. von Sybille Steinbacher / Frank Bajohr, Göttingen 2015, 122-141.

[3] Boyd van Dijk: Leven naast het kamp: Kamp Vught en de Vughtenaren, 1942-1944, Houten 2013.

[4] Jan Geurt Gaarlandt (ed.): Het verstoorde leven: Dagboek van Etty Hillesum 1941-1943, De Haan 1981. Auf Deutsch erschienen als: Das denkende Herz. Die Tagebücher von Etty Hillesum 1941-1943, Reinbek bei Hamburg 1988.

Christina Morina