Bryan Deschamp (ed.): Iohannes Soreth. Expositio paraenetica in Regulam Carmelitarum (= Corpus Christianorum. Continuatio Mediaevalis; 259), Turnhout: Brepols 2016, CX + 228 S., ISBN 978-2-503-54765-7, EUR 195,00
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Es hat einige Jahrzehnte gedauert, bis aus einer an der Katholischen Universität Löwen verteidigten Dissertation eine Edition im Rahmen des Corpus Christianorum werden konnte. Der unter dem Namen Expositio paraenetica bekannte, um 1455 verfasste Regelkommentar des Johannes Soreth, von 1451 bis 1471 Generalprior der Karmeliter, war sicherlich kein Bestseller des Mittelalters. Die Karmeliter gehörten im späten Mittelalter noch immer zu den "kleinen" Bettelorden - und obwohl einige Ordensvertreter Ende des 14. und zu Beginn des 15. Jahrhunderts als Beichtväter der französischen und englischen Könige wirkten, war dem Orden insgesamt kein großer Einfluss auf die Geschicke der Christenheit beschieden. Dies spiegelt sich auch in der handschriftlichen Überlieferung des Regelkommentars wider: der Großteil der zehn Handschriften, von deren Existenz wir wissen, ist einem klar umgrenzten geographischen Raum zuzuordnen: dem im heutigen Belgien gelegenen Mechelen.
Der ursprüngliche "Regeltext", der den am Berg Karmel siedelnden Brüdern von Albert, dem Patriarchen von Jerusalem, zwischen 1206 und 1214 übergeben worden war, war kurz (er umfasst lediglich 1140 Worte) und präsentierte sich weniger als Regel, denn als formula vitae, mit starkem Bußcharakter. Es handelte sich also zunächst nicht um eine kanonische Regel - diesen Status erhielt der Text erst 1247, als er leicht modifiziert von Innocenz IV. bestätigt wurde. Diese Bestätigung erfolgte zu einem Zeitpunkt, als die Karmeliter bereits vor der muslimischen Expansion kapituliert hatten und nach Europa ausgewichen waren.
Das Original des Regeltextes, noch 1477 im Karmeliterkloster in Mechelen nachweisbar, ist verloren. In zwei Abschriften von Soreths Expositio, beide im letzten Viertel des 15. Jahrhunderts entstanden, ist er jedoch mit überliefert worden (B - Bruxelles, Bibliothèque Royale, ms. 2387-94; M - München, Bayerische Staatsbibliothek, codex latinus monacensis (clm) 471). An Editionen dieser überschaubaren Quelle besteht kein Mangel. [1]
In seiner Einführung geht der Herausgeber zunächst knapp auf die Geschichte von Orden und Regel ein (xiii-xxviii). Es folgen Angaben zu Leben und Werk Soreths (xxxv-lxxi).
Soreth, geboren im normannischen Caen 1394, ist nur einer von vielen Kommentatoren der Karmeliterregel. [2] Aufgrund seines akademischen Werdegangs, der ihn ab 1438 in das Amt eines magister regens an der Pariser Universität führte, war er aber besser als andere für ein solches Unternehmen gerüstet. Auf dem Generalkapitel in Avignon wählte man ihn, unum valenciorem sacerdotem Ecclesiae Dei, 1451 zum Generalprior des Ordens. [3] Soreth verwendete bis zu seinem Tod 1471 den Großteil seiner Energie darauf, effektive Reformen innerhalb des Ordens durchzusetzen. Teil dieses Reformstrebens waren zwei Regelkommentare, von denen lediglich einer die Zeitläufte überdauert hat. Daneben sind Bibelkommentare und einige französische Predigten überliefert. Der Titel des Kommentars - Expositio paraenetica - ist nicht original, sondern geht auf den Herausgeber der ersten, 1625 in Paris erschienenen Druckausgabe, Leo a S. Ioanne, zurück, der seiner Edition eine aus dem Karmeliterkloster zu Gent stammende, heute verlorene Handschrift zugrunde legte. Wie üblich, finden sich in Soreth Kommentar Zitate von Autoritäten in großer Zahl, der Editor spricht gar von einem "giant pastiche of quotes of classical spiritual authors" (xxxix). An der Spitze steht Bernhard von Clairvaux, auf den allein 190 Zitate zurückgehen. Die profunde Kenntnis bernhardinischer Quellen ist freilich nur eine scheinbare: wie auch im Falle anderer Autoren nutzt Soreth Kompilationen und Florilegia und bringt es in der Aneinanderreihung der Zitate zu einiger Meisterschaft: seine connexio auctoritatum erscheint elegant und in sich stimmig. Inhaltlich ist die Bedeutung, die er Basilius von Cäsarea für die Frühgeschichte des Ordens zubilligt, bemerkenswert - doch auch hier greift Soreth auf die Auszüge basilianischer Schriften zurück, wie sie im Speculum historiale des Vinzenz von Beauvais überliefert sind.
Soreth verfasst seinen Kommentar zur Hochzeit einer Bewegung, die als devotio moderna in die (Geistes-)Geschichte eingegangen ist (Thoma von Kempen, der Verfasser der "Nachfolge Christi" stirbt im gleichen Jahr wie Soreth) und zeigt sich erstaunlich unbeeindruckt von deren zentralen Themen wie z.B. der Verehrung der Eucharistie. Soreth ist allein auf den Regeltext und dessen Auslegung fixiert und widersteht ganz offensichtlich der Versuchung, seinen Text für die Diskussion zeitgenössischer theologischer Diskussionspunkte oder gar Gravamina zu missbrauchen.
Grundlage der vorliegenden Edition ist die Brüsseler Handschrift B. Sie weist keine hochdifferenzierte Unterteilung des Textes auf, sondern präsentiert ihn durchlaufend ohne Divisionen und Rubriken. B ist sicherlich keine Abschrift der Münchner Handschrift M, denn weswegen hätte ein Schreiber sinnvolle Gliederungselemente und die Nachweise der Quellen, die sich in M finden, nicht übernehmen sollen? Auch ein Blick auf die variae lectiones (lviii-lx) bestätigt diesen Befund. In Fällen, in denen sich die Lesarten in B und M widersprechen, jedoch beide möglich sind, wurden die Druckausgaben von 1625 (Paris) und 1680 (Antwerpen) herangezogen. Während erstere auf einer Genter Handschrift beruhte, versuchte man in letzterer, den Text der Edition von 1625 anhand einer heute verlorenen Handschrift aus Brügge zu kollationieren. Das Ergebnis einer komplexen und scharfsinnig geführten Variantenanalyse ist der Nachweis, dass B wohl als Abschrift des verlorenen Sorethschen Originals gelten und deshalb als Grundlage für vorlegende Edition herangezogen werden muss.
Ein Problem bleibt: wenn der Schreiber von B Fehler in einen Text hineinschmuggelt, der sich als großes Amalgam von Quellenzitaten präsentiert, die von Soreth nicht immer wortwörtlich übernommen wurden, wie "verbessert" man dann den Text? Korrigiert man überhaupt - was sich angesichts der Tatsache, dass viele der von Soreth verwendeten Texte noch nicht in kritischer Edition vorliegen, eigentlich von selbst verbietet? Die Entscheidung des Editors wird damit nachvollziehbar: "We were reluctant to correct the Brussels manuscript". (lxix) Dies gilt auch für die orthographische Gestalt des Textes, die derjenigen der Brüsseler Handschrift folgt. Orthographische Varianten im Text selbst werden lediglich im Falle von Eigennamen eigens im Variantenapparat verzeichnet.
Nach einer Bibliographie (lxxiii-xc), Appendix I (xci-xcvi; mit dem Abdruck der formula vitae und des von Innocenz IV. 1247 mittels der Bulle Quae honorem Conditoris approbierten Regeltextes) und Appendix II (xcvii-cx; in ihm wird das in der Handschrift M und den beiden Druckausgaben von 1625 und 1680 zugrunde gelegte Gliederungsschema präsentiert), folgt die Edition des Regelkommentars (1-191). Indices der Bibelstellen und verwendeten Quellen beschließen den Band.
Es mag sein, dass der Rezensent zu pragmatisch denkt, doch hätte er sich als Historiker nicht nur über einen Namensindex, sondern vor allem auch über einen Index rerum notabilium gefreut, der - mit überschaubarem Arbeitsaufwand - ohne Zweifel dazu beigetragen hätte, das Werk zusätzlich zu erschließen. Denn dass es sich bei Soreths Kommentar um einen für die Ordensgeschichte des ausgehenden Mittelalters zentralen Text handelt, dürfte wohl niemand bestreiten. Allerdings werden bei dessen Lektüre wohl all diejenigen enttäuscht werden, die sich unmittelbar Aufschluss über karmelitische Lebenswirklichkeit im ausgehenden 15. Jahrhundert erhoffen. In dieser Beziehung macht es Soreth seinen Lesern nicht einfach. Nehmen wir nur das entsprechende Kapitel zu Reg. 20, wo jeder Karmelit zur Arbeit aufgefordert wird (Faciendum est vobis aliquid operis) (165-173). Liest man es in der Hoffnung, darin Aussagen zum Spektrum derjenigen Arbeiten zu finden, die im 15. Jahrhundert im Orden als angemessen galten, wird man prima vista enttäuscht. Ein Kirchenväterzitat reiht sich an das andere - und dort, wo vor denjenigen gewarnt wird, die sich dafür, "was der Türke oder der König von Portugal tut" (172) interessieren, zeigt ein Blick in den Apparat, dass es sich hier um ein von Soreth selbst nicht nachgewiesenes Zitat des Hervé de Bourg-Dieu (†1150) handelt. Stellt man dieses Zitat allerdings in einen größeren Zusammenhang und verknüpft es mit all den Aussagen, die Soreth gegen Neugier (curiositas) richtet, wird schnell deutlich, dass zumindest ein Betätigungsfeld einer scharfen Aufsicht unterlag: die akademische Arbeit innerhalb der Universitäten und als deren Ausfluss auch die Predigttätigkeit. Kurzum: Der hervorragend edierte, mit drei Apparaten versehene Text, präsentiert sich sprachlich gefällig, ist interpretatorisch aber eine große Herausforderung.
Die jahrzehntelangen Mühen des Editors haben einen würdigen Abschluss gefunden - und Brepols ist einmal mehr dafür zu danken, einen bisher als eher randständig empfundenen Text durch die Aufnahme in die Reihe des Corpus Christianorum geadelt zu haben. Nicht nur Ordenshistoriker werden dies zu schätzen wissen.
Anmerkungen:
[1] Vgl. hier nur Gabriel Wessels: Antiquissima copia Regulae nostrae, in: Analecta Ordinis Carmelitarum 2 (1911-13) 556-562; Paul Chandler, in: The Carmelite Rule (1207-2007).
Proceedings of the Lisieux Conference (4-7 July 2005), hg. v. E. X. Gomes u.a., Rom 2008, appendix I, 625-628.
[2] Vgl. zu einer Auflistung der entsprechenden Kommentare Joachim Smet: A List of Commentaries on the Carmelite Rule, in: The Sword 11 (1947) 297-302; A. Martino: Il commento della regola nel Carmelo antico, in: Ephemerides Carmeliticae 2 (1948) 99-122; M. Caprioli: Commenti alla regola carmelitana, in: Le origini e la regola del Carmelo (Quaderni Carmelitani, 2-3), Verona 1987, 123-143.
[3] So die Aussage des Dominikaners Rolandus Cozic, überliefert von Arnold Bostius in seiner Schrift De viris illustribus, hg. v. C. Jackson-Holzberg, in: Zwei Literaturgeschichten des Karmeliterordens: Untersuchungen und kritische Edition, Erlangen 1981, 163.
Ralf Lützelschwab