Rezension über:

Andreas Bürgi: Eine touristische Bilderfabrik. Kommerz, Vergnügen und Belehrung am Luzerner Löwenplatz, 1850-1914, Zürich: Chronos Verlag 2016, 211 S., ISBN 978-3-0340-1296-6, EUR 43,00
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Rezension von:
Sina Fabian
Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Nils Freytag
Empfohlene Zitierweise:
Sina Fabian: Rezension von: Andreas Bürgi: Eine touristische Bilderfabrik. Kommerz, Vergnügen und Belehrung am Luzerner Löwenplatz, 1850-1914, Zürich: Chronos Verlag 2016, in: sehepunkte 17 (2017), Nr. 3 [15.03.2017], URL: https://www.sehepunkte.de
/2017/03/28470.html


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Andreas Bürgi: Eine touristische Bilderfabrik

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Das Motto "La Suisse n'existe pas" zierte den offiziellen Pavillon der Schweiz auf der Weltausstellung 1992 in Barcelona. Der Literaturhistoriker Andreas Bürgi zeigt in seiner Studie, dass dieser Slogan einhundert Jahre vorher genauso passend gewesen wäre. Bürgi widmet sich in seiner Studie einer frühen "Tourismusmeile" in Luzern während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Den Ausgangspunkt und in der Folge zentraler Anziehungspunkt des touristischen Ballungszentrums bildete das 1821 eingeweihte Löwendenkmal. Es ist den Opfern der Schweizergarde gewidmet, die 1792 während des Tuileriensturms in den Wirren der Französischen Revolution umkamen, als sie den verlassenen Palast des französischen Königs verteidigten. Ob und in welcher Form den Mitgliedern der Garde gedacht werden sollte, war in der Schweiz höchst umstritten. Schließlich setzten sich jedoch die konservativ-aristokratischen Kreise durch, und der bekannte dänische Bildhauer Bertel Thorvaldsen konnte für das Projekt gewonnen werden. Er schuf einen in Fels gehauenen sterbenden Löwen. Dieser befand sich anfänglich außerhalb der Stadt, isoliert in einem Park. Doch da sich das Denkmal schnell zu einem Publikumsmagneten entwickelte, entstanden rundherum eine touristische Infrastruktur und weitere Anziehungspunkte für Besucher.

Bürgi schildert im ersten Teil seiner Studie den Ausbau dieses sumpfigen Umlandes zu einem Tourismuszentrum. Als zentrale weitere Unterhaltungsmöglichkeiten kamen im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts ein Diorama hinzu, das die Aussicht von der Rigi - dem berühmten Bergmassiv am Vierwaldstättersee - zeigte, ein Gletschergarten und ein Museum mit ausgestopften Alpentieren.

Bürgi zeigt, wie findige Unternehmer und Unternehmerinnen gemeinsam mit der Stadtverwaltung die touristische Kommerzialisierung Luzerns vorantrieben. Die Stadt etwa genehmigte beziehungsweise trieb teilweise den Bau der Vergnügungsstätten voran und sorgte für die infrastrukturelle Anbindung durch Wasser, Gas und Beleuchtung. Die Besucherzahlen stiegen bis kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs beständig an. 1910 zählte die Stadt fast 200.000 Übernachtungsgäste. Die Zahl der Besucher wird jedoch weitaus höher gelegen haben. Denn viele besuchten Luzern lediglich im Rahmen eines Tagesausflugs.

Im zweiten Teil seiner Studie widmet sich Bürgi den Faktoren, die den Erfolg der touristischen Attraktionen begünstigten. Als zentral schätzt er die Bildfabrikationen ein, die konsequent das touristische Image der Schweiz, das durch Selbst- und Fremdwahrnehmungen geprägt war, bedienten. Bürgi vertritt die These, dass die touristische Schweiz bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein industriell gefertigtes Massenkonsumgut gewesen sei. Dies kam besonders in den touristischen Attraktionen rund um das Löwendenkmal zum Ausdruck. Hier konnten Besucher innerhalb eines Tages die touristischen Highlights der Schweiz erleben. Statt selbst auf den Berg zu steigen und den Sonnenaufgang zu bewundern, konnten sie sich dieses Schauspiel im Diorama anschauen. Der Gletschergarten, in dem Relikte aus der Eiszeit freigelegt worden waren, bediente ebenfalls das Bild der Schweiz als alpines, naturverbundenes Land.

Bürgi weist darauf hin, dass die Attraktionen stets den Spagat zwischen Unterhaltung und Belehrung schaffen mussten. Im Alpentiermuseum etwa sollten die Besucher zwar durch die lebensechten Tiere unterhalten werden, sie sollten gleichzeitig jedoch auch etwas über die Schweizerische Fauna lernen. Das Löwendenkmal passte ebenfalls in die Schweizerische Selbst- und Fremdwahrnehmung, indem es Tugenden wie Verlässlichkeit und Tapferkeit zeigte. Ein weiteres Element, das ebenfalls auf der Tourismusmeile vertreten war, war die Darstellung der Schweiz als humanitäre, friedfertige Nation. Dies wurde etwa in dem Internationalen Kriegs- und Friedensmuseum gewürdigt. Doch zeigte sich, dass es das Unterhaltungs- und Eskapismusbedürfnis der Besucher zu wenig ansprach, um erfolgreich zu sein. Die Darstellung von Kriegssituationen passte nicht in das auf Harmonie ausgelegte Konzept der Tourismusmeile.

Bürgi weist zu Recht auf die klischeehaften Präsentationen der Schweiz hin, die frei von jeglichen Konflikten zu sein schien und sich durch eine beeindruckende alpine Landschaft und gleichzeitig durch höchstes technisches Know-how auszeichnete. Es ist in der Tat bemerkenswert, wie früh und wie weitreichend sich eine touristifizierte Vorstellung von der Schweiz etablierte, bei der noch dazu Selbst- und Fremdbilder in hohem Maße kongruent waren. Während Bürgi überzeugend die Produzenten der "Bilderfabrik" untersucht, erfahren die Lesenden so gut wie nichts über die Konsumenten der Bilder. Es wäre interessant und die Thesen stützend gewesen, wenn der Autor Wahrnehmungen und Eindrücke der Besucher ebenfalls, zumindest punktuell, in den Blick genommen hätte. Denn nur so lässt sich die Wirkung der "Bilderfabrik" untersuchen. Nahmen die Besucher das ihnen Dargebotene passiv und ohne zu hinterfragen auf? Durchschauten sie nicht vielleicht die Inszenierung und spielten das Spiel mit? Diese und andere Fragen bleiben leider in der Studie unbeantwortet. An einigen Stellen hätte sich die Rezensentin zudem eine umfassendere Einordnung in den tourismushistorischen Kontext gewünscht. Nichtsdestotrotz zeigt Bürgi anschaulich an einem Mikrokosmus die Kommerzialisierung der touristischen Schweiz, die sich bereits im 19. Jahrhundert voll ausbildete und in weiten Teilen bis heute besteht.

Sina Fabian